5

Als der Braten im Ofen war, hatte Nancy nichts mehr zu tun. Ruhelos wanderte sie im Haus umher, sogar nach oben ging sie, um das Bett zu machen. Ständig jedoch fragte eine winzige innere Stimme, wo Lila sein mochte.

»Woher, zum Teufel, soll ich das wissen?« sagte Nancy.

Sie kam eben aus dem Obergeschoß herunter, wo sie das Schlafzimmer aufgeräumt hatte, als die hartnäckige Stimme sie plötzlich an etwas erinnerte, das Mae Walters am Telefon gesagt hatte. Mae hatte gesagt, sie solle doch Larry fragen, nicht wahr?

»Richtig«, sagte die Stimme. »Das hat sie gesagt.«

»Aber er ist doch nicht zu Hause.«

»Dann beweis mal ein bißchen Initiative. Gestern abend hat er zu dir gesagt, er fahre in sein Büro. Vermutlich ist er noch immer da und nimmt übel.«

»Aber Larry hätte es bestimmt nicht gern, wenn ich mich in seine Eheprobleme einmische.«

»Vielleicht aber freut er sich auch darüber. Wenn Lila ihn verlassen hat, und er noch nichts davon weiß, ist er dir sicher dankbar; wenn du’s ihm berichtest.«

Von der kleinen Stimme endlich überzeugt, beschloß Nancy Larry diesen Dienst zu erweisen. Glücklicherweise stand, da David mit in Jack Richmonds Corvette zum Club gefahren war, der alte Chevvie, das einzige Vehikel der Familie Howell, fahrbereit in der Garage. Zu Nancys unendlicher Erleichterung startete er auf Anhieb. Sie fuhr in die Stadt, höchstens ein paar Minuten Weg.

Larry Connors Büro lag im Erdgeschoß eines kleinen Bürohauses an der Hauptstraße. Da es Sonntag war, fand sie direkt davor einen Parkplatz. Auf dem Milchglasfenster von Larrys Büro stand in dicken Goldbuchstaben sein Name. Die schweren Leinenvorhänge waren zugezogen.

Nancy klopfte dreimal an die Haustür. Die Vorhänge bewegten sich nicht; die Jalousie der Haustür blieb geschlossen. Na ja, was habe ich eigentlich erwartet? dachte Nancy. Doch auf den Verdacht hin, daß Larry den festen Schlaf der zutiefst Verzweifelten schlief, fuhr sie ums Haus herum in die schmale Straße, die hinter dem Büroblock herlief und bog in der Mitte des Blödes auf den kleinen Privatparkplatz ein. Überrascht sah sie Larrys Buick auf seinem Platz stehen.

Sie stieg aus dem Chevvie, überquerte die Straße und klopfte an Larrys Hintertür. Wieder keine Antwort, und als sie die Tür zu öffnen versuchte, fand sie sie verschlossen. Also schlief er doch nicht. Da sein Buick auf dem Parkplatz stand, trieb er sich sicher irgendwo in der Nähe herum, zu deprimiert oder zu dickköpfig, um nach Hause zu gehen.

Und was habe ich hier zu suchen? fragte sich Nancy, Doch irgendwie – warum, konnte sie sich nicht erklären – fühlte sie sich verpflichtet, der Sache weiter nachzugehen.

Ihr erster Gedanke war, daß Larry in der Bar des gegenüberliegenden Hotels hockte, um seinen Kummer hinunterzuspülen, doch dann fiel ihr ein, daß die Bar sonntags geschlossen war. Aber vielleicht versuchte er in der Hotelhalle die Zeit totzuschlagen und las die Sonntagszeitung oder sah sich ein Fernsehprogramm an. Sie beschloß, dort nachzusehen, aber zunächst wollte sie ihr Glück in Applebaums Tabakladen versuchen, einem bevorzugten Treffpunkt aller vorübergehend Heimatloser.

Larry war weder hier noch dort. Nancy fragte sogar den Hotelportier, in dem Gedanken, Larry habe sich vielleicht ein Hotelzimmer genommen, statt im Büro zu übernachten. Ergebnislos.

Nun, ich habe meine Pflicht getan, sagte sich Nancy. Vermutlich hockte er in einer der Bars, die das Ladenschlußgesetz für Sonntage übertraten; in diesem Fall konnte er den Weg nach Hause recht gut allein finden, und sei es auf allen vieren. Sie hatte getan, was sie konnte, und es gab auch Grenzen für nachbarliche Hilfsbereitschaft; die Suche in illegalen Kneipen lag unbestreitbar außerhalb dieser Verpflichtung.

Und so fuhr Nancy heim, brachte den Chevvie wieder in die Garage und schloß die Haustür auf. Als sie nach dem Braten im Backofen sah, fand sie einen Dosenöffner auf dem Tisch neben dem Spülstein und schloß mit haarscharfer Logik, daß David wieder zu Hause sein und sich hier an weiteren kühlen Bieren laben mußte. Dieser Mistkerl! Nancy marschierte mit grimmiger Miene aus der Küchentür in den Garten und – natürlich! – da saß er. Und nicht allein er, sondern auch Jack Richmond; machte der denn niemals Krankenbesuche? Und beide tranken kaltes Bier und hatten ganz offensichtlich im Klub bereits ebenfalls eine größere Anzahl kühler Biere konsumiert. Nancy konnte stets genau sagen, wann David eine größere Anzahl kalter Biere konsumiert hatte, denn dann machte er immer ein höchst schuldbewußtes Gesicht, wenn er sie sah.

»Hallo, ihr beiden«, sagte Nancy ruhig.

Jack Richmond machte Miene, sich zu erheben, wie es einem Gentleman geziemt, doch das Deck schwankte wohl ein bißchen zu sehr; aufstöhnend sank er in seinen Gartenstuhl zurück. Nancy rückte sich demonstrativ einen anderen Stuhl an einen weit von ihrem Mann entfernten Fleck und nahm ebenfalls Platz.

»Möchtest du ein Bier, Liebling?« fragte David. Und da war sie wieder, die schuldbewußte Miene.

»Nein, danke«, lächelte Nancy. »Im Kühlschrank ist noch ein Rest Gin-Tonic. Ich möchte lieber davon etwas.«

»Gestatte, daß ich es dir hole«, sagte Jack galant.

Diesmal meisterte er das Deck, doch nicht ohne Mühe. Als er fort war, saßen die Howells schweigend da. Endlich erschien Dr. Richmond wieder, den Shaker in der einen, ein Glas in der anderen Faust, vorsichtig balancierend, wie auf dem Drahtseil. Vorsichtig schenkte er ein, und vorsichtig reichte er Nancy das Glas.

»Danke, Jack«, murmelte Nancy.

»Gern geschehen«, sagte der Doktor grinsend.

»Warum, zum Teufel«, grollte David plötzlich, »machst du dir am hellichten Tag ganze Shakers voll Gin-Tonic?«

»Weil«, erwiderte Nancy nach einem kräftigen Schluck, »ich nichts zu tun hatte, und niemanden, der mir dabei Gesellschaft leistete. Und Trinken ist das einzige, das man großartig allein tun kann. Ich weiß, mein Schatz, so werden Ehefrauen zu Alkoholikerinnen. Aus Langeweile.«

»Oho!« sagte Dr. Richmond.

»Verdammt!« sagte David Howell.

»Und wie war’s beim Golf?« gurrte Nancy.

»Wunderbar!« sagte ihr Ehemann. »Achtzehn Löcher haben wir gespielt, und ich hab’ zweiundneunzig gemacht.«

»Ist das gut, Liebling?«

»Jedenfalls nicht schlecht für einen Gelegenheitsspieler,« erwiderte er kurz.

»Aber nein, es ist ausgezeichnet«, fiel Jack Richmond ein.

»Es muß doch anstrengend sein, an einem so heißen Tag achtzehn Löcher zu spielen«, sagte Nancy. »Ich nehme an, es ist einfach unerläßlich, hinterher an der Klubbar eine Menge Bier zu trinken, nicht wahr?«

»Das ist überhaupt das Unerläßlichste vom Ganzen«, sagte Jack enthusiastisch. »Ja, manchmal kann man das Golf sogar ganz und gar beiseite lassen.«

»Ich möchte nur wissen«, sagte David, »warum du dir soviel machen mußtest. Wolltest du eine Orgie veranstalten, oder was?«

»Soviel? Wovon?« fragte Nancy unschuldig.

»Das weißt du ganz genau! Gin-Tonic!«

»Ach so! Aber das wird doch nicht schlecht, Liebling. Im Kühlschrank hält sich das prima.«

»In der Flasche noch besser!«

»Aber ich wollte es doch mit Lila trinken.«

»Eine großzügige Geste«, sagte Jack Richmond. »Du könntest Lila keinen größeren Gefallen tun. Lila fliegt auf Gin-Tonic. Das heißt nein, eigentlich fliegt sie auf Gin. Tonic kann wegbleiben.«

»Genau wie mit euch und dem Golf«, sagte Nancy.

»Genau«, bestätigte Jack vergnügt.

»Und warum hast du’s nicht getan?« fragte David.

»Warum habe ich was nicht getan?«

»Es mit Lila getrunken.«

»Sie war nicht zu Hause, darum. Und soweit ich weiß, ist sie auch jetzt noch nicht da. Habt ihr sie nicht gesehen?«

»Nein, Gott sei Dank nicht«, sagte Jack.

»Dabei fällt mir ein«, sagte David, »daß du auch nicht zu Hause warst, als wir kamen. Wo bist du gewesen?«

»Ich bin in die Stadt gefahren, weil ich mit Larry sprechen wollte. Aber ich konnte ihn nicht finden.«

»Ist Larry denn auch weg?« fragte Jack.

»Der hat gestern abend nach der Party schon die Kurve gekratzt.«

»Nein!«

»Doch«, sagte Nancy. »Ich hab’ ihn wegfahren sehen.«

»Er hat sich mal wieder mit Lila verkracht«, sagte David.

»Gut für ihn«, sagte Jack. »Ich kann’s ihm nicht verdenken, daß er abhaut. Ich verdenke es ihm nur, daß er immer wiederkommt. Wenn ich Larry wäre, ich würde endgültig meinen Hut nehmen und gehen.«

»Ihr habt gut reden über Lila«, sagte Nancy steif. »Aber ich bin gar nicht so sicher, daß es allein ihre Schuld ist. Meiner Meinung nach ist in letzter Zeit viel zuviel an ihr herumkritisiert worden.«

Jack trank einen Schluck aus seiner Bierdose, dann schüttelte er sie mit geistesabwesendem Blick. Sorgfältig setzte er sie ins Gras.

»Lila«, sagte er, »ist ein habgieriges, rachsüchtiges, kaltherziges Biest.«

Er sagte das in freundlich-professionellem Ton, wie ein Arzt, der eine unerfreuliche Diagnose stellt. Trotzdem wirkten seine Worte wie ein Schock. Er hatte inzwischen natürlich eine ziemliche Menge Bier getrunken.

»Ich möchte nur wissen«, sagte David zu Nancy, »warum du in die Stadt gefahren bist, um Larry zu suchen.«

»Weil ich fand, daß Larry von Lilas Verschwinden informiert werden müßte.«

»Verdammt noch mal, was ist denn so ungewöhnlich daran, wenn jemand nicht zu Hause ist? Ich kann einfach nicht verstehen, weshalb du dir darüber Gedanken machst. Ist das auch bestimmt der einzige Shaker Gin-Tonic, den du dir gemacht hast?«

»Ich glaube kaum, daß ich immer wieder darauf zurückkommen würde, David, wenn ich mir nicht Gedanken machte wegen der Klimaanlage. Sie war abgestellt und das Haus unerträglich heiß. Dir kommt es vielleicht normal vor, daß man seine Klimaanlage abstellt, wenn man für kurze Zeit das Haus verläßt, mir aber nicht. Ich habe das Gefühl, da stimmt etwas nicht.«

»Die Klimaanlage abgestellt, wie?« meinte Jack weise.

»Oder eine Sicherung durchgebrannt«, sagte David.

»Das glaube ich nicht.«

»Du sagst, Larry ist gestern abend verschwunden?« sagte Jack. »Dann möchte ich wetten, daß Lila gleich danach gegangen ist. Wenn du mich fragst, haben sich beide verdrückt und das beste ist, wir lassen die Finger von der Sache.«

»Richtig«, sagte Jack. »Ganz und gar.«

»Findet ihr das wirklich?« fragte Nancy. »Vielleicht interessiert es euch aber zu hören, daß ich nicht damit einverstanden bin. Ich finde, wir sollten ‘rübergehen und uns mal im Haus umsehen. Und genau das werde ich jetzt tun, ob ihr nun mitkommt oder nicht.«

»Entschuldige bitte, wenn ich das sage«, entgegnete Jade, »aber ich halte es für klüger, wenn wir uns um unsere eigenen Angelegenheiten kümmern.«

»Ich unterstütze den Antrag«, sagte David. »Wie wär’s mit noch ‘nem Bier, Jack?«

»Ich…«, begann Jade.

Nancy sagte: »Ich gehe jetzt ‘rüber. David, kommst du mit oder nicht?« Energisch erhob sie sich und wartete.

David seufzte und stand ebenfalls auf. »Jack, nimm dir noch ein Bier. Wir sind gleich wieder da.«

»Ach, dann komme ich auch mit.« Jack erhob sich seufzend. »Als guter Nachbar sollte ich mich wohl gemeinsam mit euch den Unannehmlichkeiten stellen, die euch erwarten.«

Sie stiegen über die Hecke, und Jack und David folgten Nancy durch die Hintertür des Connorschen Hauses auf einen kleinen Treppenabsatz, von dem aus drei Stufen hinauf zur Küche und sechs Stufen hinunter in den Keller führten. Nancy schlug vor, daß die Männer die Sicherungen im Keller prüfen sollten, und blieb wartend auf dem Treppenabsatz stehen. Als sie zurückkamen, sagte David: »Alles in Ordnung mit den Sicherungen. Die Anlage ist abgeschaltet worden. Lila ist verschwunden, ihr werdet sehen. Kommt, wir machen, daß wir hier ‘rauskommen.«

Nancy sagte: »Ich gehe noch schnell nach oben und sehe in Lilas Zimmer nach, und dann hat sich’s.«

Das tat sie, zögernd gefolgt von David und Jack, doch damit hatte sich’s nicht – ganz und gar nicht. Durch vor Hitze siedende Räume gelangten sie zur Treppe und stiegen hinauf in einen Flur, der ebenfalls kochte, gingen ihn entlang bis zu Lilas Schlafzimmer. Die Tür war geschlossen. Nancy stieß sie auf und sah ihr unheilvolles Gefühl bestätigt.

Lila war in ihrem Zimmer, und sie war tot. Sie lag auf dem Boden neben dem Bett, als sei sie sterbend herunter- oder dagegengefallen. Sie trug ein durchsichtiges, blaßrosa Nachthemd, und aus ihrer Brust ragte der Griff einer Waffe, die nur ein Messer sein konnte, und die offenbar ihr Herz durchbohrt hatte. Rund um den Griff hatte sich auf dem dünnen Stoff des Nachthemdes ein unregelmäßiger, dunkelroter Fleck ausgebreitet, der jetzt steif und trocken aussah.

Nancy hatte ein Gefühl, als habe ihr jemand einen Schlag in den Magen versetzt. Sie stieß einen rauhen, keuchenden Schrei aus, der in einem Wimmern endete, und sank in den Armen ihres Mannes zusammen.

»Mein Gott«, sagte Dr. Jack Richmond heiser, »jetzt hat es Larry also doch getan. Der Arme! Gott weiß, daß Lila ihn dazu getrieben hat.«

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