16

Er drückte auf den Klingelknopf und lauschte auf das harmonische Geläut der Türglocke. Die Sonne knallte vom grellblauen Himmel. Die Glocke verklang, und nach kurzem Warten hob er abermals den Zeigefinger, drückte noch einmal auf den Knopf und wartete wieder, in die grelle Sonne blinzelnd. Vielleicht sollte er es einmal an der Hintertür versuchen.

Doch auch auf sein Klopfen an der Hintertür regte sich nichts.

Sein Blick wanderte nach rechts, über den Connorschen Garten hinweg zum Garten der Howells hinüber. Nancy Howell war sicher zu Hause, und er beschloß, sie noch ein letztes Mal zu stören.

Als Nancy die Tür öffnete, sah er sogleich, daß er unwillkommen war. Er fühlte sich bemitleidenswert und ausgestoßen, doch er machte sich hart. Er war viel zu alt und zu müde, um etwas zu bedauern, das nicht zu ändern war.

»Guten Morgen«, sagte Masters. »Tut mir leid, daß ich Sie wieder einmal stören muß.«

»Na, hoffentlich tut es Ihnen leid«, sagte Nancy. »Und hoffentlich stören Sie mich nie wieder, niemals. Ich habe alles getan, um Ihnen zu helfen, und was habe ich damit erreicht? Kummer und Sorgen habe ich über die Menschen gebracht, die ich schätze und achte.«

»Ich bin derjenige, der den Kummer gebracht hat, Mrs. Howell, nicht Sie. Das gehört leider zu meinem Job.«

»Ein ekelhafter Job, das muß ich schon sagen!«

»Ein ganz ekelhafter Job. Aber jemand muß ihn tun. Neulich abends bei den Richmonds, zum Beispiel. Glauben Sie, mir hätte das Spaß gemacht?«

»Sie waren einfach widerlich brutal, Leutnant Masters!«

»Brutal!« Diese offenbare Ungerechtigkeit erschütterte Masters sichtlich. »Na schön, vielleicht haben Sie recht. Ich kann’s Ihnen nicht übelnehmen, wenn Sie so denken. Aber um es kurz zu machen: Wissen Sie zufällig, wo die Richmonds sind? Es macht niemand auf.«

»Nun, Jade ist Arzt«, sagte Nancy kühl, »und da darf man wohl annehmen, daß er seinen ärztlichen Pflichten nachgeht.«

»Und Mrs. Richmond?«

»Wenn Vera nicht zu Hause ist, weiß ich auch nicht, wo sie ist. Vielleicht in der Stadt oder auf dem Markt.«

»Tja, dann will ich mich mal auf die Suche nach Dr. Richmond machen.«

»Ich wollte, ich könnte Ihnen viel Erfolg wünschen, aber ich tue es nicht.«

»Danke«, sagte Masters bedrückt. »Vielen Dank, daß Sie immerhin so weit gehen.«

Er hatte den Hut in der Hand behalten. Jetzt stülpte er ihn achtlos auf den kahl werdenden Schädel und ging ums Haus herum auf die Straße, und quer über die Straße zu seinem Wagen. Er hörte, wie Nancy wütend die Hintertür zuwarf. Sie hat mich noch nicht mal hereingebeten, dachte er. Er stieg in den Wagen und fuhr in die Stadt.

Dr. Jack Richmonds Praxis lag im neuen Medizinerblock, einem nüchternen, einstöckigen Bau aus Glas und grünen Ziegeln, mit einem Vorgarten, dessen Rasen so üppig war, daß er künstlich wirkte. Master? trottete durch die Halle, an der blitzblanken Apotheke vorbei, und einen langen, steril wirkenden Korridor entlang bis zu einer Holztür, auf der in verchromten Buchstaben >John R. Richmond, M.D.< geschrieben stand. Masters trat ein.

Das Wartezimmer war leer.

»Dr. Richmond ist nicht da«, sagte die Sprechstundenhilfe in ihrem Glaskasten. »Sind Sie bestellt?«

»Ich bin kein Patient«, sagte Masters. Er öffnete das Etui mit seiner Marke, und ihre Augen wurden schmal. »Wo ist er?«

»Um diese Zeit ist er sonst immer vom Krankenhaus zurück«, sagte die Sprechstundenhilfe. »Aber er hat angerufen, daß er einen dringenden Fall hat und nicht weiß, wann er kommen kann.«

»Einen dringenden Fall? Im Krankenhaus?«

»Das weiß ich wirklich nicht.«

»Hören Sie, Schwester«, sagte Masters geduldig. »Jede Sprechstundenhilfe weiß stets genau, wo sich ihr Chef zur Zeit befindet. Also: ist er im Krankenhaus?«

»Ich glaube ja.« Sie hatte Angst. »Ja.«

Masters fuhr ins Krankenhaus. Dr. Richmond operierte. Appendektomie. Er mußte warten.

Masters fluchte verhalten. Er stand herum. Er las die Krankenhausordnung. Er betrachtete eingehend einen großen Druck, auf dem sich eine Gruppe weißbekittelter Männer über einen nackten Mann auf einem rohen Küchentisch beugen. Das Bild hieß >Die Chirurgen<. Er blätterte in ein paar Illustrierten.

Plötzlich konnte er das Warten nicht länger ertragen. Mit schnellen Schritten ging er zum Lift. Einer war gerade da; die Tür stand offen. Er trat hinein und preßte den Finger auf den Knopf zur fünften Etage. Im Schneckentempo schloß sich die Tür. Der Aufstieg zum obersten Stock dauerte Ewigkeiten.

Dann bezog Leutnant Masters vor den großen Doppeltüren des Operationssaals Posten.

Mit dem Rücken zur Wand.

Symbolisch.

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