Am Montagmorgen war Masters schon vor acht Uhr in Larry Connors Büro. Er wußte nicht, wann die Sekretärin des Toten gewöhnlich zur Arbeit kam, doch er nahm an, daß auch sie die in der Stadt übliche Arbeitszeit von acht bis fünf einhielt. Er hatte recht; um eine Minute vor acht hörte er einen Schlüssel in der Vordertür. Masters hockte wartend auf einer Ecke ihres Schreibtischs, die Hand in der Tasche seiner ausgebeulten Hose, wo seine Finger mit einem einsamen Vierteldollar spielten. Die Sekretärin war ein hübscher, gut gewachsener Rotschopf und, wie er schätzte, etwa Ende Zwanzig. Ihr Ausdruck, als sie Masters da sitzen sah, wo er ganz offensichtlich nicht hingehörte, war eher erstaunt als erschreckt. Masters mochte ihr Haar nicht. Das Rot war zwar echt, doch hatte sie es übermäßig toupiert, um eine nicht vorhandene Fülle vorzutäuschen.
»Wer sind Sie?« fragte sie streng.
»Leutnant Masters. Kriminalpolizei.« Er zeigte ihr seinen Ausweis.
»Aber was wollen Sie hier, Leutnant? Ist Mr. Connor schon da?«
»Nein. Und er wird auch nicht kommen. Darüber möchte ich ja mit Ihnen sprechen. Ich glaube, Sie nehmen wohl besser Platz.«
Als sie an ihm vorbei zu ihrem Schreibtischstuhl ging, zog er die Hand aus der Tasche. Das Mädchen bewegte sich steif, und er hatte den Eindruck, daß sie auf schlechte Nachrichten gefaßt war. Bevor sie sich setzte, verstaute sie ihre Handtasche in einer Schublade; dann faltete sie die Hände auf der Schreibtischplatte wie eine Lehrerin, die ein Kind an die Wandtafel ruft.
»Was ist denn passiert?« fragte sie. »Ist Mr. Connor etwas zugestoßen?«
»Ich glaube, Sie haben mir Ihren Namen noch nicht genannt.«
»Ich heiße Ruth Benton.«
»Also, Miss Benton, sind Sie schon lange Mr. Connors Sekretärin?«
»Seit über einem Jahr. Fünfzehn Monate genau. Warum?«
»Dann hätten Sie also Zeit gehabt, ihn ziemlich genau kennenzulernen. Was für ein Mensch war er?«
Ihre wahre Meinung war deutlich in ihren Augen zu lesen, und er merkte, daß Larry Connor ihr viel bedeutet haben mußte. Sie ihm auch? Möglich. Ruth Benton mußte eine Erholung sein für einen Mann, der mit Lila Connor verheiratet war.
»Er war freundlich, aufmerksam und anständig. Er würde nie etwas Unehrenhaftes tun, wenn Sie das meinen.«
»Das meine ich nicht. Haben Sie jemals Anzeichen einer seelischen Störung an ihm bemerkt?«
»Nun, er hatte auch seine Sorgen, wie jedermann.« Sie verstummte; urplötzlich war ihr der Tempus aufgefallen, den Masters benutzte, und den sie unwillkürlich nachgeahmt hatte.
»Was ist Mr. Connor denn zugestoßen? Ist er tot?«
»Warum fragen Sie?«
»Ist er tot?«
»Ja. Er hat anscheinend gestern nacht hier im Büro Selbstmord begangen.«
Sie nahm es gefaßt auf, und Masters, der eine andere Reaktion befürchtet hatte, war erleichtert. Geduldig wartete er, und bald schon sah sie auf und begann ruhig zu sprechen. Das Zittern in ihrer Stimme konnte sowohl auf Wut als auch auf Schock und Schmerz zurückzuführen sein.
»Dann hat sie ihn also endlich doch dazu getrieben«, sagte sie.
»Wer?«
»Seine Frau.«
»Ach ja. Wie ich hörte, war er nicht glücklich mit ihr. Aber stand es denn so schlimm?«
»Er hat sich doch umgebracht, nicht? Wenn man lieber stirbt als so weiterzuleben, muß es doch schlimm sein.«
»Würden Sie mir sagen, wieso Sie mit seinen privaten Schwierigkeiten so vertraut sind?«
»Larry hat’s mir erzählt. Er muß sich bei jemandem aussprechen.«
So, jetzt war es also >Larry<, ganz offen. Das gefiel Masters.
»Sie waren befreundet?«
»Ja.«
»Mehr nicht?«
»Nein.« Sie sagte das weder abwehrend noch trotzig, sondern nur, als konstatiere sie eine Tatsache. »Unser Verhältnis war etwas ganz Besonderes. Ich möchte lieber nicht darüber sprechen.«
»Ich verstehe. Haben Sie sich auch außerhalb des Büros getroffen?«
»Hin und wieder.«
»Wo?«
»Das war verschieden. Zum Beispiel auf Cocktails im Hotel. Dann und wann zum Essen. Ein paarmal kam er auch zu mir in die Wohnung.«
»Ich danke Ihnen für Ihre Offenheit.«
»Warum sollte ich nicht offen sein? Wir hatten nichts zu verbergen. Wir haben nicht miteinander geschlafen – es war alles ganz unschuldig, Leutnant. Jetzt wünschte ich, es wäre anders gewesen.«
»Haßte er seine Frau?«
»Das würde ich nicht direkt sagen. Sie brachte ihn zur Verzweiflung. Er wollte sie verlassen.«
»Er hat sie mitgenommen, Miss Benton.«
»Was?« Sie griff nach der Schreibtischkante.
»Er hat sie umgebracht.«
»Das glaube ich nicht!«
»Tja, man hat sie in ihrem Schlafzimmer erstochen aufgefunden. Kurz bevor er hier gefunden wurde.«
Ruth Benton starrte auf ihre ineinandergekrampften Hände; dann senkte sie langsam den Kopf, bis ihre Stirn auf ihnen ruhte. Er erwartete, daß sie jetzt zusammenbrach, war gefaßt auf einen Strom von Tränen, doch abermals konnte er erleichtert aufatmen. Nach einer Weile erhob sie sich und holte ihre Handtasche aus der Schreibtischschublade.
»Ich möchte nach Hause«, sagte sie.
»Kann ich Sie dort erreichen, falls ich Sie brauche?«
»Meine Nummer steht im Telefonbuch.«
»Nun gut, Miss Benton.«
Die Tasche fest in der Hand, ging sie hinaus, immer noch steif, so als nehme sie sich mit all ihrer Kraft zusammen. Sie ist, dachte er, eine bemerkenswert starke und zähe junge Frau. Masters schloß ab und ging ebenfalls.
Im Präsidium erstattete er dem Chef Bericht und informierte ihn über die zwei Todesfälle und ihren offensichtlichen Zusammenhang.
»Ekelhaft«, sagte der Chef. »Aber wenigstens eindeutig. Mord und Selbstmord. Bleibt in der Familie. Können wir bestimmt bald abschließen, den Fall.«
»Bevor wir ihn abschließen, Chef, möchte ich aber doch noch gern zwei Fragen klären.«
»Warum? Was für Fragen?«
Masters wühlte in der Tasche und zog das lederne Schlüsseletui hervor, das er aus Larry Connors Büro mitgenommen hatte. Er öffnete es und legte es vor den Chef auf den Schreibtisch.
»Zum Beispiel dieses Schlüsseletui. Diese beiden Schlüssel hier sind für seinen Wagen – der eine Tür- und Zündschlüssel, der andere für den Kofferraum. Diese beiden hier gehören zur Vorder- und Hintertür seines Büros. Ich habe alle vier probiert. Hier, der fünfte ist, wie ich glaube, entweder für die Vorderoder die Hintertür seines Privathauses. Die Frage ist nun: Warum hatte er nicht zwei Hausschlüssel – für jede Tür einen?«
»Das scheint mir ziemlich nebensächlich, Gus. Vielleicht nahm er immer nur einen Schlüssel mit.«
»Na, schön. Trotzdem aber möchte ich noch einmal zum Haus hinausfahren. Wenn Sie nichts dagegen haben.«
»Seien Sie vorsichtig, Gus. Wir können uns keine nachteilig gen Auswirkungen aus dem Fall leisten.«
»Ich werde die Diskretion in Person sein.«
»Sie sagten eben, zwei Fragen. Welches ist die andere?«
»Die Klimaanlagen. Sie waren sowohl im Haus als auch im Büro abgestellt. Ich frage mich nur, warum.«
»Verdammt noch mal, ein Mann, der Selbstmord begehen will, macht sich wohl kaum Mühe, die Klimaanlage einzuschalten!«
»Aber was ist mit dem Privathaus? Es war glühheiß, gestern; die Klimaanlage hätte laufen müssen.«
»Vielleicht ist eine Sicherung durchgebrannt.«
»Nein. Ich habe nachgesehen. Dr. Richmond glaubt, daß sie vielleicht vorhatten, die Fenster aufzumachen. Nachts war es ja kühler, daher wäre das eine Möglichkeit.«
»Na also!«
»Aber sie haben’s nicht getan. Alle Fenster waren geschlossen.«
»Na, schön, Gus. Machen Sie sich ruhig Gedanken über Schlüssel und Klimaanlagen, aber vergessen Sie nicht, was ich Ihnen gesagt habe: Seien Sie vorsichtig!«
Masters versprach noch einmal, vorsichtig zu sein und ging hinüber in sein eigenes Büro, wo er den Bericht des Spezialisten für Fingerabdrücke vorfand. Er enthielt keinerlei Neuigkeiten. Abdrücke beider Connors waren überall im Mordzimmer gefunden worden, Abdrücke des Ehemannes außerdem überall im Büro und auf der Schachtel und der Flasche, die Masters im Waschraum gefunden hatte. Auf dem Griff der Mordwaffe hatten sich als einzige die Abdrücke von Connors rechter Hand befunden. Die Tatsache an sich war nicht bemerkenswert, seltsam war nur, daß man nur einen Satz Abdrücke gefunden hatte. Gewiß war doch Connor der einzige gewesen, der den Brieföffner benutzt hatte, und zwar recht häufig. Warum also nur ein Satz Fingerabdrücke?
Masters stellte dieses Problem zunächst einmal zurück und fuhr nach Shady Acres Addition hinaus. Das Haus der Connors wirkte an diesem gewöhnlichen Montagmorgen ganz harmlos. Er parkte in der Einfahrt und kürzte den Weg zur Haustür ab, indem er über eine Anpflanzung von Riedgras sprang. Der Schlüssel im Lederetui paßte und ließ sich mühelos im Schloß drehen.
Hinter sich machte er die Haustür zu und ging nach oben. Das Schlafzimmer war sauber aufgeräumt. Das einzige, das diese Ordnung gestört hatte – die Leiche – , war inzwischen fortgeschafft worden. Der Raum wirkte auf Masters wie ein einladendes Liebesnest – ehelich, wohlgemerkt! – und schien nur darauf zu warten, daß die Liebesspiele wieder aufgenommen wurden. Doch Mr. und Mrs. Larry Connor liebten sich nicht mehr; sie waren nicht zu Hause und würden auch nicht mehr nach Hause kommen. Der Gedanke daran betrübte Masters; er seufzte, ging wieder nach unten und verließ das Haus, diesmal durch die Hintertür. Von außen versuchte er mit dem Schlüssel zur Vordertür die Hintertür aufzusperren. Es ging nicht; der Schlüssel ließ sich noch nicht einmal ins Schloß stecken. Hatte das Etui noch einen weiteren Schlüssel enthalten? Und wenn ja, wo war er?
Masters hatte plötzlich das Gefühl, er werde beobachtet. Er warf einen kurzen Blick zur Seite und entdeckte eine appetitlich gewachsene junge Frau in weißen Shorts, die ihn von der Terrasse des Nachbarhauses aus aufmerksam beobachtete. Nancy Howell, die Frau des Lehrers. Ihre Neugier, die sie durchaus nicht zu verbergen suchte, hatte etwas Anziehendes. Ja, mehr noch, ihre ganze Erscheinung, jede Linie, jede Biegung ihres Körpers hatte etwas Anziehendes, fand Masters. Wie schön für einen Pädagogen, wenn zu Hause etwas so Leckeres auf ihn wartete.
Er steckte das Schlüsseletui in die Tasche und machte sich auf, die junge Dame zu begrüßen.
»Guten Morgen, Mrs. Howell«, sagte er.
»Guten Morgen«, sagte Nancy. »Ich habe eben überlegt, was Sie da wollten.«
»Ich wollte mich noch einmal umsehen. Manchmal entdeckt man dabei etwas, das einem vorher entgangen ist.«
»Und haben Sie etwas entdeckt?«
»Eigentlich nicht.«
»Haben Sie Larry schon gefunden?«
»Ja.«
»Das habe ich mir gedacht.« Sie zupfte grundlos an ihren Shorts herum, eine Bewegung, die nur bewirkte, daß die Aufmerksamkeit auf ihre Beine gelenkt wurde. Doch diesmal betrachtete Masters ihre Augen, die ebenso schön und überdies zutiefst beunruhigt waren. »Er war in seinem Büro, nicht wahr?«
»Ja. Die ganze Zeit.«
»Tot?«
»Ja.«
»Der arme Larry! Die arme Lila. Sie tun mir beide leid, aber das können Sie wohl nicht verstehen.«
»Ich habe gewöhnlich Mitleid mit dem Opfer, Mrs. Howell, aber ein wenig davon gehört fast immer auch dem Täter.«
»Ist das nicht eine etwas ungewöhnliche Einstellung für einen Polizisten?«
»Finden Sie? Meiner Ansicht nach verdient ein Mensch, der Leid erlebt hat, immer unser Mitleid.«
»Wie schön Sie das sagen! Fast wie ein Epigramm. Haben Sie sich das eben ausgedacht?«
»Vermutlich nicht. Normalerweise denke ich nicht in Epigrammen.«
»Würden Sie mir erzählen, wie Larry gestorben ist?«
»Aber gern. Die Öffentlichkeit wird es ja doch bald erfahren. Höchstwahrscheinlich ist er an einer tödlichen Dosis Chloralhydrat gestorben, die er mit Weinbrand geschluckt hat.«
»Chloralhydrat? Was ist das?«
»Knock-out-Pillen. Die Basis für einen Mickey Finn. In kleinen Dosen harmlos, in großen tödlich.«
»Komisch, daß er so etwas Ausgefallenes genommen hat!«
»Gar nicht komisch. Das Zeug hat seine Vorzüge. Man kann es sich leicht beschaffen, und es ist einfach zu nehmen. Keine Schmerzen, keine Übelkeit, gar nichts. Man fällt einfach in ein Koma. Lähmung der Herz- und Atemtätigkeit. Es gibt weitaus schlimmere Todesarten.«
Trotzdem schauderte Nancy. »Na ja, damit ist ja wohl alles geklärt, oder?«
»Es scheint so. Mord und Selbstmord.«
»Aber warum sind Sie dann noch einmal wiedergekommen?« Mit schiefgelegtem Kopf sah sie ihn listig an. »Ich meine, wenn alles so eindeutig ist.«
»Es sind noch ein paar Einzelheiten zu klären. Wahrscheinlieh unwichtige Dinge, aber man kann nie wissen. Außerdem möchte ich Sie um einen Gefallen bitten.«
»Ja?«
»Mr. Connors Leiche ist jetzt beim Leichenbestatter. Das Gesetz verlangt eine offizielle Identifizierung. Würden Sie das übernehmen?«
»Ach, du liebe Zeit!«
»Verzeihen Sie, ich hätte Sie nicht fragen sollen. Irgendein Nachbar tut’s auch. Ist Ihr Mann zu Hause?«
»Nein, David ist schon lange in der Schule. Und Jack ist, glaube ich, in seiner Praxis, und Stanley im Geschäft. Ich komme mit, Leutnant. Ich… Es macht mir nichts aus.«
»Danke. Ich fahre Sie hin und bringe Sie auch wieder zurück.«
»Ich will mir eben ein Kleid überziehen. Wenn Sie so lange warten wollen… Kommen Sie doch herein.«
»Danke, ich warte hier draußen. Lassen Sie sich nur Zeit.«
Als Nancy wiederkam, trug sie ein schlichtes, blaues Kleid, das Masters’ Bewunderung erregte. Er fragte sich, wie sie in so kurzer Zeit und mit so wenigen Hilfsmitteln so viel Schick produzieren konnte. Er nahm an, daß das zum Großteil an den Vorzügen lag, mit denen die Natur sie ausgestattet hatte. Auf dem ganzen Weg in die Stadt spürte er die Nähe der kleinen Frau neben ihm im Polizeiwagen fast körperlich, und mit Anstrengung hielt er die Augen auf die Straße gerichtet, wie es die Disziplin verlangte. Welches Parfüm sie wohl benutzte? Der Duft war schwach, kaum ein Hauch. Als sie vor dem Haus des Leichenbestatters parkten, hatte er es noch immer nicht identifiziert.
Den Geruch innen im Haus hingegen kannte er. Das war eindeutig der Geruch einbalsamierter Leichen, und er schien aus jeder Pore des Betons, des Holzes und der alten Ziegel zu strömen. Vielleicht aber war es auch ein Amalgam aller Gerüche, die sich dort sammeln, wo Tote für die Ewigkeit vorbereitet werden. Ein Mann in einer Art Schürze ließ sie herein und wies sie zu einem kleinen Raum, in dem Larry Connor nach der Autopsie still und geduldig auf die Einbalsamierung wartete. Masters hielt in diesem Fall nicht viel von einer Autopsie. Das Chloralhydrat, sowieso schwer festzustellen, hatte sich gewiß schon verflüchtigt…
Unvermittelt kam ihm zu Bewußtsein, daß Nancy stehengeblieben war, und er wandte sich zu ihr um. Sie stand unbeweglich, mit geschlossenen Augen, das kesse Gesichtchen weiß wie Schnee. Er erschrak fürchterlich; bestimmt würde sie gleich ohnmächtig werden. Doch noch ehe er bei ihr war, öffnete sie die Augen und tat einen tiefen Atemzug.
»Fühlen Sie sich nicht wohl, Mrs. Howell?« fragte er.
»Doch. Mir war nur ein bißchen flau.«
»Wollen Sie wirklich die Identifizierung vornehmen?«
»Wollen nicht, aber ich werde es tun.«
Und dann war es doch nicht so schlimm. Larry war so still, so entrückt allem Irdischen, und vor allem so gar nicht er selbst, daß sein Anblick kaum ein Gefühl aufkommen ließ, höchstens die Frage, warum er aus freien Stücken dort war, wo er war. Sein trauriges, hageres Gesicht trug einen verächtlichen Ausdruck, der seine völlige Gleichgültigkeit allem Geschehen gegenüber verriet. War es wirklich erst vorgestern abend gewesen, daß sie mit ihm auf der Bank gesessen und seinen leicht beschwipsten Reden gelauscht hatte? Flüsternd hörte sie wieder seine Stimme, aus unendlicher Ferne, aus lang vergangener Zeit. Und wo war Lila? War Lila auch an diesem Ort des Todes, der so voller Süße zu sein schien? Nancy drehte sich um und ging hinaus. Masters folgte ihr auf die Straße, wo sie an den Wagen gelehnt stehengeblieben war, und er verspürte den Wunsch, ihr über den Kopf zu streichen, ihre Hand zu halten – ihr durch eine liebevolle Geste an Trost zu geben, was er vermochte.
Eigentlich hatte Masters ein schlechtes Gewissen, daß er sie diesem erschütternden Erlebnis ausgesetzt hatte. In Wirklichkeit hatte er es einfach nicht über sich gebracht, sie nach ihrer Unterhaltung auf der Terrasse alleinzulassen, und hatte sich auf diese makabre Weise ihrer Gesellschaft versichern wollen. Von Anfang an hatte er gespürt, daß ihre lebhafte, naive Neugier einem fähigen Kopf entsprang, so wirr es auch in ihm aussehen mochte, und zu seiner nicht unbeträchtlichen Überraschung mußte er feststellen, daß es sein Wunsch war, an ihr die mageren Beweise zu testen, auf denen sein Verdacht beruhte.
»Würden Sie«, erkundigte er sich, »mit mir eine Tasse Kaffee trinken?«
»Vielen Dank, aber ich glaube, ich möchte lieber nach Hause.«
»Aber es liegt mir sehr daran, Mrs. Howell. Ich möchte mit Ihnen etwas besprechen.«
»Was denn?«
»Ein, zwei Fakten, die mich beunruhigen. Wie ist es?«
»Ich lade Sie zu einer Tasse Kaffee bei mir zu Hause ein, Leutnant. Wäre Ihnen das recht?«
»Wenn’s Ihnen nicht zuviel Umstände macht…«
Sie fuhren also zurück, saßen an Nancys Küchentisch und tranken den Kaffee, der vom Frühstück übriggeblieben war. Über den Tisch hinweg sah sie ihn an, mühsam ihre Neugier im Zaum haltend.
»Vielleicht halten Sie mich für verrückt«, begann Masters.
»Weshalb?«
»Weil, Mrs. Howell, dieser Fall ganz eindeutig in die eine Richtung weist, und ich nicht von dem Gedanken abkomme, daß er womöglich in eine ganz andere läuft.«
»In welche denn?«
»Es sieht aus wie Mord und Selbstmord. Und ich komme nicht los von dem Gedanken, daß es vielleicht Mord ist und Mord, der aussehen soll wie Selbstmord. Mord durch eine dritte Person.«
Nancy war perplex. »Wieso kommen Sie auf diese Idee?«
»Aufgrund verschiedener Umstände, wie ich schon sagte. Eines Schlüssels, der verlorengegangen ist, oder auch nicht… Der Tatsache, daß Sie die Klimaanlage im Connorschen Haus abgeschaltet gefunden haben. Warum? Dr. Richmond glaubt, daß sie beabsichtigten, die Fenster zu öffnen. Diese Theorie befriedigt mich nicht.«
»Aber warum sonst sollte sie abgeschaltet worden sein?«
»Vielleicht, weil jemand die Todeszeiten durcheinanderbringen wollte?«
»Da komme ich nicht mit, Leutnant«, sagte Nancy gespannt.
»Wenn man den Zeitpunkt des Todes mit ziemlicher Sicherheit feststellen will«, erklärte Masters, »muß man eine Anzahl Faktoren in Betracht ziehen: Klima, Wetter, Temperatur, Luftdruck, spezielle örtliche Verhältnisse, und so weiter. Bei höheren Temperaturen zersetzt sich eine Leiche zum Beispiel weit schneller als bei niedrigen. Und selbstverständlich muß der medizinische Sachverständige auch eine Klimaanlage in seine Berechnungen einbeziehen.«
»Sie meinen«, fragte Nancy atemlos, »es ist möglich, daß in unserem Fall an den Klimaanlagen herummanipuliert worden ist?«
Masters konnte ihre rasche Auffassungsgabe nur bewundern. »Genau. Nehmen wir einmal an, Mrs. Howell, daß es eine dritte Person gibt in diesem Fall, und nennen wir sie >Mörder<. Der Mörder beabsichtigt, Lila Connor umzubringen – mit den Gründen wollen wir uns jetzt nicht befassen. Er kennt sich aus in den Privatangelegenheiten der Connors; er weiß von dem heftigen Streit am Samstagabend. Er sieht, daß Larry Connor einen großartigen Strohmann abgibt, dem man den Mord an Lila Connor in die Schuhe schieben kann. Und ganz offensichtlich ist es, wenn man Larry den Mord an Lila erfolgreich angehängt hat, sicherer, ihn ebenfalls umzubringen, bevor er sich verteidigen kann. Also sagt sich der Mörder: Ich muß es so machen, daß es aussieht wie Mord und Selbstmord. Ehemann bringt seine Frau um und dann sich selbst…«
»Wollen Sie wirklich behaupten, daß Larry nur umgebracht worden ist, damit man ihm den Mord an Lila anhängen kann?«
»Ich denke nur laut«, sagte Masters lächelnd. »Passen Sie auf: Gewisse Umstände – vielleicht Eile oder unvorhergesehene Ereignisse – zwingen den Mörder, Lila und Larry Connor so kurz hintereinander zu töten, daß es schwer, wenn nicht unmöglich ist, mit Gewißheit festzustellen, welcher Mord zuerst verübt wurde. Hauptbedingung beim Plan des Mörders ist jedoch, daß Lilas Tod von medizinischer Seite ausdrücklich als derjenige erkannt wird, der zuerst eingetreten ist. Und hier kommt das Abschalten der Klimaanlage ins Spiel.«
»Ich verstehe«, sagte Nancy mit vor angestrengtem Nachdenken gekrauster Stirn. »Oder vielleicht doch nicht? War die Klimaanlage in Larrys Büro an- oder abgeschaltet, als Sie ihn fanden?«
»Abgeschaltet. Es war stickig und heiß im Zimmer.«
»Aber wenn Ihre Theorie zutrifft, hätte sie dann nicht angeschaltet sein müssen?«
»Nein. Aber lassen wir den technischen Kram jetzt mal beiseite. Die Sache ist die, Mrs. Howell, daß ich die Mord- Selbstmordtheorie nicht akzeptiere.«
Doch Nancy schüttelte den Kopf. »Das ist mir alles zu phantastisch, Leutnant. Sie haben doch überhaupt keinen Grund für diese Annahme. Mir scheint, Sie haben sie aus der Luft gegriffen.«
»Zumindest würde sie die Hitze im Haus erklären, und den fehlenden Schlüssel zur Hintertür des Connorschen Hauses. Das heißt, falls der Schlüssel wirklich fehlt. Wissen Sie zufällig, ob Larry Connor stets einen Schlüssel zur Hintertür bei sich hatte?«
»Das wird er wohl. Ich habe oft gesehen, daß er die Hintertür aufschloß, wenn Lila nicht da war.«
»Sehen Sie! Sie sind eine Frau mit guter Beobachtungsgabe, Mrs. Howell. Darum wollte ich auch mit Ihnen sprechen.«
»Ich hoffe nur, daß durch meine Beobachtungen kein Unschuldiger in Verdacht gerät.«
»Bestimmt nicht.«
»Ich weiß nicht recht. So langsam glaube ich, Sie sind so clever, daß Sie den Fall leicht einer Person anhängen können, die gar nichts damit zu tun hat.«
»Das will ich nicht hoffen. Soll ich jetzt fortfahren mit meinen phantastischen Ideen?«
»Ich muß zugeben, daß sie interessant sind. Und beängstigend. Was kommt nun?«
»Etwas, das mir auch noch Kopfzerbrechen macht, ist, warum Larry Connor seine Frau umgebracht haben und dann in sein Büro gefahren sein soll, um sich umzubringen. Warum hat er’s nicht einfach zu Hause getan?«
»Er hat sicher den Kopf verloren. Vielleicht wollte er davonlaufen und hat erst später erkannt, daß es sinnlos war.«
»Ja, ich weiß. Selbstmörder machen oft die verrücktesten Sachen. Trotzdem muß man das im Auge behalten. Sie haben Connor wegfahren sehen. Machte er einen verstörten Eindruck? Handelte er wie ein Mann, der nach einem Mord davonläuft?«
»Nein.« Nancy starrte in ihre Tasse, in der der Kaffee kalt wurde. »Nein, eigentlich nicht.«
»Sehen Sie, da haben Sie wieder etwas, das nicht paßt. Gut, nehmen wir an, daß Lila noch lebte, als er fortging. Nehmen wir an, daß er tatsächlich, wie er zu Ihnen sagte, in sein Büro fuhr, um dort zu übernachten. Wäre es möglich, daß ihm der Mörder folgte, ihn tötete, dann mit Connors Hintertürschlüssel zurückkehrte und Lila umbrachte?«
»Halt, Augenblick! Das wird ja immer absurder. Wollen Sie unterstellen, daß der Mörder, falls es einen gibt, eine Person aus unserer unmittelbaren Nachbarschaft ist?«
»Aber ja. Falls es, wie Sie ganz richtig sagen, einen Mörder gibt, befindet er sich ganz gewiß hier in der Nähe. Vermutlich hat er auch an der Party am Samstagabend teilgenommen.«
»Und darf ich fragen, wen von uns Sie in Verdacht haben?«
»Es kann jeder einzelne von Ihnen gewesen sein. Es kommt darauf an, inwieweit jeder die Wahrheit gesagt hat. Und es kommt vermutlich weiterhin darauf an, wer wen deckt. Denken Sie einmal nach. Sie sagen, Sie haben Stanley Walters am Zaun zurückgelassen, nachdem Sie ihm erzählt hatten, daß Connor in sein Büro gefahren sei. Walters kommt also durchaus in Frage. Dr. Richmond wohnt auf der anderen Seite neben den Connors. Er hätte sehr gut sehen können, wie Connor wegfuhr, oder auch hören, wie Sie beide sich vor der Einfahrt unterhielten. Überdies hat der Doktor zugegeben, daß er später in der Nacht auf längere Zeit ins Krankenhaus gerufen wurde. Ist er direkt dort hingefahren? Ist er die ganze Zeit dort geblieben? Wie dem auch sei, auch Dr. Richmond kommt in Frage. Soll ich fortfahren?«
»Lieber nicht«, sagte Nancy leise. »Mir wird richtig schlecht dabei. Gleich werden Sie noch behaupten, ich selbst hätte den Mord auch begehen können.«
»Hätten Sie auch. Sie kommen ebenfalls in Frage.« Nancy war sichtlich entsetzt, und rasch fügte Masters hinzu: »Aber wenn ich Sie auch nur einen Moment für schuldig gehalten hätte, säße ich jetzt nicht hier und unterhielte mich mit Ihnen.«
»Nun, Leutnant, ich glaube, ich habe mich schon viel zu lange und viel zuviel mit Ihnen unterhalten, und habe keine Lust, mich noch weiter mit Ihnen zu unterhalten.«
»Das ist bedauerlich.«
Masters erhob sich und warf einen sehnsüchtigen Blick auf seine leere Tasse; er hatte gehofft, Nancy würde sie noch einmal füllen. Doch auch sie hatte sich erhoben und stand da – die Inkarnation gekränkter Weiblichkeit. In der Absicht, sie zu besänftigen, sagte er: »Das alles ist ja nur Theorie, Mrs. Howell.« Doch da sie weiterhin Salzsäule spielte, fiel er in seinen alten Ton zurück und fügte hinzu: »Bis jetzt, jedenfalls.« Dann verließ er sie, den bitteren Geschmack des Triumphes im Mund.