8

»Weißt du«, sagte Nancy, »ich finde, er sieht zwar so aus und benimmt sich auch so, aber ich habe festgestellt, daß er durchaus nicht so spricht. Meiner Meinung nach ist er auch keiner.«

Sie lag im Dunkeln neben David. Ihre Worte klangen, als mache sie große, runde Augen. David hatte tief und ruhig geatmet, doch er schlief keineswegs. Schweigend mühte er sich, Nancys Gedankengängen zu folgen. Vergebens, wie er zugeben mußte.

»Wer?« fragte er.

»Leutnant Masters. Ich muß immerzu an ihn denken.«

»Was ist er nicht?«

»Ein Clown. Ein Einfaltspinsel. Ich glaube, er wirkt nur so, weil er eine so komische Nase hat und weil seine Hose so hängt.«

»Was willst du eigentlich? Er ist Leutnant der Kriminalpolizei, und das heißt, daß er durchaus fähig ist, Spuren auszuwerten, logische Folgerungen zu ziehen und ähnliches. Es ist also nur fair anzunehmen, daß er kein ausgemachter Idiot ist.«

»Aber er ist gerissen, das mußt du doch zugeben. Hattest du nicht den Eindruck, daß er ganz und gar nicht davon überzeugt ist, daß Larry Lila umgebracht hat? Trotz allem?«

»Nein, den hatte ich nicht. Ich hatte den Eindruck, daß er nur auf Beweise wartete, die diesen Schluß zuließen, und die wird er bekommen, sobald er Larry findet.«

»Glaubst du wirklich? Na ja, vielleicht hast du recht. Der Fall scheint tatsächlich klar zu liegen. Ich glaube, ich wünsche nur, daß Larry nicht der Täter war.«

»Natürlich. Der arme Larry. Er muß furchtbar gereizt worden sein, um so etwas zu tun. Ich wünschte nur, ich hätte mehr Verständnis für ihn gehabt. Dann hätte ich ihm vielleicht helfen können.«

»Dann glaubst du also wirklich, daß es stimmt? Ich meine, was Larry mir gestern abend erzählt hat.«

»Muß es wohl. Ein Mann wie Larry schnappt nicht von selbst über.«

Diese Bemerkung klang logisch, und Nancy schwieg, während David von neuem tief und regelmäßig zu atmen begann. Sie jedoch war so tief unglücklich über so viele verschiedene Dinge, daß sie glaubte, niemals mehr schlafen zu können.

»Nach allem, was an Tatsachen bekannt ist«, meinte sie, »könnte ebensogut ich sie umgebracht haben.«

Neben sich spürte sie eine hastige Bewegung. David war hochgefahren und saß senkrecht im Bett.

»Was? Um Gottes willen, was sagst du da?«

»Ich sagte, ebensogut könnte ich sie umgebracht haben, nach allem, was an Tatsachen bekannt ist.«

»Dann habe ich doch recht gehört. Aber warum mußt du so etwas sagen?«

»Weil es doch möglich ist.«

»Es ist einfach idiotisch.«

»Es ist durchaus möglich. Ich war doch draußen, während du geschlafen hast, und habe gesehen, wie Larry weggefahren ist. Da hätte ich doch gut hingehen und Lila umbringen können. Oder ich hätte es tun können, nachdem ich mit Stanley auf der Straße gesprochen hatte.«

»Ja natürlich«, höhnte David. »Du hattest ja auch einen triftigen Grund, nicht wahr? Hatte Lila vielleicht beim Bridge geschummelt?«

»Ich kann nicht Bridge spielen, das weißt du doch.«

»Dann hör auf mit deinen Phantasien und schlaf ein.«

»Vielleicht war ich in Larry verliebt und haßte Lila, weil sie ihn so schlecht behandelte.«

»Ja, ja! Und ich habe niemals Verdacht geschöpft. Hör zu, Kleopatra, du könntest noch nicht mal an Ehebruch denken, ohne daß ich Wind davon kriege.«

Ach nein! dachte Nancy. »Na ja. Jedenfalls, die Gelegenheit hatte ich, und ich wette, daß Leutnant Masters da einhakt. Der wird den Gedanken nicht so glatt von der Hand weisen.«

»Verdammt noch mal, ich liebe dich!« schrie David. »Du bist meine Frau!«

»Na, na, David! Das hat doch nichts damit zu tun.«

Doch David schwieg verstockt; Nancy wußte genau, er zählte bis zehn. »Wie lange hast du unten auf der Straße mit Stanley gesprochen?«

»Ach, ich weiß nicht genau. Eine ganze Weile. Wir haben geraucht und uns was erzählt.«

»Merkst du, worauf ich hinauswill? Ich habe gar nicht geschlafen. Während du mit Stanley unten auf der Straße warst, bin ich ‘rübergeschlichen und habe Lila umgebracht. Ich habe höchstens ein paar Minuten dazu gebraucht.«

»Aber du wußtest doch gar nicht, daß Larry weg war.«

»Ich habe vom Fenster aus gesehen, wie er wegfuhr.«

»Hast du nicht! David Ho well, du hast geschnarcht wie sieben Holzfäller! Fang doch nicht an, Märchen zu erzählen.«

»Es ist sinnlos«, sagte David düster. »Morgen lege ich ein volles Geständnis ab.«

Nancy legte sich hin und rollte auf die Seite. Sie wollte nichts mehr hören. Befriedigt schlief David ein.


»Ich glaube, ich gehe zu Bett«, sagte Dr. Jack Richmond.

»Komm, wir trinken erst noch einen Schluck«, sagte seine Frau. »Ich möchte etwas mit dir besprechen.«

»Besprechen? Hältst du das für klug, Vera?«

»Vermutlich ist es nutzlos, aber ich möchte wenigstens den Versuch machen. Es hängt alles davon ab, wie ehrlich du sein willst.«

»Na, schön. Aber ich glaube, du machst einen Fehler.«

»Ich möchte bitte Bourbon mit Wasser.«

Er ging hinaus und kam mit zwei Highballs zurück. Einen davon reichte er Vera, den anderen nahm er mit zu dem Sessel, in dem er gesessen hatte.

»Hat Larry Lila umgebracht?« fragte Vera.

»Sieht wohl so aus, nicht?«

»Wo, glaubst du, befindet sich Larry?«

»Genau da, wo du ihn vermutest. Oder vielmehr, er war da. Inzwischen ist er sicher längst gefunden und abtransportiert worden.«

»In seinem Büro?«

»Ja.«

»Tot?«

»Natürlich. Das war der einzige Weg, der ihm blieb.«

»Du meinst, er hat Selbstmord begangen, Jack?«

»Unbedingt.«

»Aber wenn du der Ansicht bist, daß Larry sich in seinem Büro umgebracht hat, warum hast du denn Leutnant Masters nichts davon gesagt?«

»Warum sollte ich? Soll Masters Larry doch selber finden.«

»Bist du denn der Ansicht, daß dieser Polizeimensch genügend Intelligenz besitzt, um zu verstehen, was vorgegangen ist?«

»Mach ja nicht den Fehler, ihn zu unterschätzen! Er ist ganz und gar nicht so dumm, wie er aussieht. Im Gegenteil, ich habe eher das Gefühl, daß es durchaus seiner Absicht entspricht, wenn die Leute ihn für dümmer halten, als er ist. Keine Angst, meine Liebe, der sieht genau, was los ist.«

»Du tust ja geradezu, als wüßtest du, daß Larry sich umgebracht hat.«

»Eine logische Folgerung. Das Büro war verschlossen, sein Wagen stand auf dem Parkplatz. Nach dem Mord an Lila drängt sich die Annahme, daß er Selbstmord begangen hat, geradezu auf.«

»Tja, und damit wäre die Affäre wohl ziemlich abgeschlossen. Meinst du nicht?«

»Ich hoffe es.«

Vera nippte nachdenklich an ihrem Highball. »Trotzdem – du sagst, Masters ist klug. Angenommen, er ist klug genug, um weiterzubohren?«

»Na und?« sagte Dr. Jack Richmond.

»Ich denke dabei an dich.«

»An mich? Vielen Dank für die Fürsorge, mein Schatz, aber ich sehe nicht ein, wieso mich das berühren sollte.«

»Wirklich nicht? Wenn dieser Schnüffler weitermacht mit seiner Untersuchung, könnte er etwas über deine Affäre mit Lila herausfinden.«

»Wir hatten doch abgemacht, nicht mehr davon zu sprechen.«

»Ich weiß, aber jetzt hat sich doch einiges geändert, nicht wahr?«

»Das macht aber trotzdem noch keinen Mörder aus mir, Vera. Unsere Affäre war zu Ende. Ich habe offen mit dir darüber gesprochen, und du warst einverstanden, trotz allem bei mir zu bleiben.«

»Weil du es so wolltest.«

»Ja, und ich will es auch jetzt noch, werde es immer wollen. Lila war ein gemeines Biest. Sie hätte mich mit der Zeit ebenso ruiniert, wie sie Larry ruinierte. Oder vielmehr, sie hätte mich dazu gebracht, mich selbst zu ruinieren. Gott sei Dank habe ich Schluß gemacht, und Larry hat nie ein Wort davon erfahren.«

»Bist du sicher, daß alles vorbei war?« fragte Vera stirnrunzelnd.

»Zweifelst du etwa daran?«

»Ich meine ja nicht dich. War es für sie vorbei?«

»Es blieb ihr nichts anderes übrig.«

»Wirklich nicht? Läßt sich eine Frau wie Lila gefallen, daß ihr ein Mann den Laufpaß gibt? Sie hätte dein Leben zerstört, wenn sie gekonnt hätte, und du als Arzt bietest doch besonders gute Angriffsflächen.«

»Willst du etwa andeuten, Vera, daß ich Lila getötet habe, um meine Position in dieser Stadt zu retten? Nein, so dumm und so feige bin ich nicht. Es gibt eine Menge Jobs, die ich ausüben könnte, wenn man mir das Praktizieren unmöglich macht. Sicher, leichtfallen würde mir das nicht, aber es wäre immer noch leichter für mich, als einen Menschen zu töten.«

»Ich weiß nicht«, sagte seine Frau leise. »Aber das spielt ja auch jetzt keine Rolle. Ich versuche lediglich, das Beweismaterial mit den Augen eines Kriminalbeamten zu sehen.«

»Welches Beweismaterial?«

»Denk doch mal nach! Du bist gestern abend ins Krankenhaus gerufen worden. Du warst über zwei Stunden fort. Wo bist du die ganze Zeit gewesen?«

»Ich bin ins Krankenhaus gefahren und dort geblieben, bis ich fertig war. Dann bin ich nach Haus gekommen.«

»Ja, ich weiß. Du hast mich sogar angerufen und mir gesagt, daß es ein bißchen später wird. Aber kannst du beweisen, daß du wirklich die ganze Zeit dort warst?«

»Hör mal, Vera…«, begann Jack ärgerlich.

»Und außerdem wußtest du, daß Larry nicht zu Hause war. Unsere Fenster standen offen, und wir haben gehört, wie er weggefahren ist.«

»Was soll das eigentlich? Verdächtigst du mich, auch noch Larry umgebracht zu haben?«

»Siehst du, jetzt behauptest du schon wieder, daß Larry tot ist.«

»Eine rein logische Folgerung.«

»Bitte, sei mir nicht böse, Jack«, sagte sie ruhig. »Ich habe Angst. Was würdest du tun, wenn man dich des Mordes bezichtigte? Was würde ich tun?«

Ihr Kummer zerstreute seinen Ärger. Er stellte das Glas hin, ging zu ihr und legte ihr die Hand auf den Kopf, als sei sie ein Kind. »Du bist eine ungewöhnliche Frau, Liebling. Du bist mehr wert als alle anderen zusammen.«

»Ich liebe dich, das ist alles. Es ist vielleicht ein Fehler, aber ich liebe dich.«

Er lächelte. »Danke! Und nun laß uns nach oben gehen. Ich gebe dir was, damit du schlafen kannst.«

»Geh nur schon, Liebling. Ich hole mir erst noch einen Drink.«

»Ich hole ihn dir.«

»Nein, nein! Du brauchst Schlaf. Ich hole ihn mir selbst.«

Er ging nach oben, Vera Richmond in die Küche. Nach einer Weile kam ihr der Gedanke, daß sie gerne umziehen würde. Sie und Jack konnten sich leicht ein besseres Haus in einer vornehmeren Gegend leisten. Es war ihr sehr schwer geworden, hier zu wohnen, in Lilas unmittelbarer Nachbarschaft. Jetzt, da Lila tot war, konnte es unter Umständen besser werden, doch Vera bezweifelte es.


Stanley Walters setzte sich auf den Bettrand und beugte sich ächzend über seinen Bauch, um sich die Socken auszuziehen.

»Ich verstehe nicht, warum wir das immer wieder durchkauen müssen«, sagte er.

Maes Antwort kam aus dem Bad; ihre Stimme, leicht gepreßt, verriet ihrem Mann, daß sie sich gerade aus dem Hüftgürtel herausarbeitete.

»Das kann ich mir vorstellen«, sagte sie. »Für dich war es vermutlich völlig normal, daß du dich um Mitternacht mit Nancy Howell auf der Straße herumgetrieben hast – im Schlafanzug. Ich hingegen, ich habe mehr Anstandsgefühl als du, und David Howell wird ganz meiner Meinung sein, falls er normal denkt.«

»Aber du hast doch gehört, was David gesagt hat. Er hat nichts dabei gefunden.«

»Jawohl, ich hab’s gehört. Und ich habe ebenfalls gehört, was Nancy gesagt hat.«

»Ach, Quatsch! Die hat sich doch nur lustig gemacht über dich, weil du so ein Theater gemacht hast.«

»Ach nein! Nun, vielleicht bin ich doch nicht so dumm, wie sie glaubt. Nancy Howell ist durchtrieben, und ich durchschaue sie, wenn sie auch sonst alle an der Nase herumführt. Die bringt es fertig und sagt die Wahrheit so, daß jeder glaubt, sie habe gelogen.«

»Aber Mae! Nancy hat nichts weiter getan, als mich an den Zaun zu rufen, um sich von mir eine Zigarette zu leihen. Das ist alles. Ehrenwort!«

»Wirklich?«

»Das habe ich dir doch schon tausendmal gesagt.«

»Mir kommt es ja nicht so sehr darauf an, was du mit Nancy getrieben hast, sondern auf das, was du getrieben haben könntest, als Nancy weg war.«

»Gar nichts habe ich getrieben. Verdammt noch mal, ich bin nach Hause gekommen und habe mich schlafen gelegt!«

»Das sagst du. Ich weiß nicht recht. Und ich wette, Leutnant Masters wird auch seine Zweifel haben, wenn er mal richtig nachdenkt.«

Mae erschien im Nachthemd in der Badezimmertür; Stanley sah ihrem imposanten Vormarsch mißtrauisch entgegen.

»Was soll das heißen? Was willst du damit sagen?«

»Genau das, was ich gesagt habe.«

»Warum sollte Masters an meinen Worten zweifeln?«

»Stanley Walters, wenn du noch nicht mal deine Frau überzeugen kannst, wie willst du dann einen Kriminalbeamten überzeugen? Alle hier wissen, daß Lila Connor dir bei jeder Gelegenheit Avancen gemacht hat, und daß du so gierig danach geschnappt hast wie ein Hund nach der Wurst. Nancy hat dir erzählt, daß Larry über Nacht in seinem Büro bleiben wollte, das hast du zugegeben. Ich hatte eine Schlaftablette genommen – auch das hast du gewußt. Was also sollte dich hindern, Lila einen kleinen nachbarlichen Besuch abzustatten, solange sich dazu Gelegenheit bot?«

»Aber Lila war tot! Larry hatte sie umgebracht, bevor er das Haus verließ. Das wissen wir doch jetzt.«

»So, wissen wir das? Mir scheint, das bleibt noch zu beweisen. Hast du Larrys Geständnis mit eigenen Ohren gehört?«

»Ja, sag mal, willst du etwa andeuten, daß ich Lila getötet habe, weil sie meine Annäherungsversuche zurückgewiesen hat, oder so ähnlich?« fragte Stanley aufgebracht.

»Das habe ich nicht gesagt, das hast du gesagt. Ich sage nur, daß deine Ambitionen als Don Juan dich zu einem erstklassigen Verdächtigen in einem ziemlich üblen Mordfall gemacht haben.«

»Herrgott, du machst mir Spaß! Zuerst beschuldigst du mich, mit Nancy auf der Straße herumgeknutscht zu haben, und dann, zu Lila ‘rübergeschlichen zu sein und mich mit ihr amüsiert zu haben. Ich fühl’ mich ja fast wie ein liebestoller Kater auf Abwegen!«

»An deiner Stelle, Stanley, hätte ich ein ganz anderes Gefühl. Ich hätte Angst!«

Und die hatte Stanley auch.

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