»Liebling«, sagte Nancy Howell, »was hältst du eigentlich von Lila?«
»Sie ist schön, sexy und entzückend ungeniert«, sagte David Howell. »Das habe ich heute abend hinter einem Spiräengebüsch feststellen können. Das mit der Ungeniertheit, meine ich.«
David lag auf der Seite, mit dem Rücken zu Nancy, die in einem blaßgelben Nachthemd auf der anderen Bettkante saß. Den einzigen, schwachen Lichtschein warf die Nachttischlampe, denn David wollte schlafen, und darum hatte er Nancy auf ihre Frage auch so eine Antwort gegeben. Sie hatte sie zum Schweigen bringen und im Grunde nichts anderes heißen sollen als: >Hör um Gottes willen auf zu quatschen, mach das Licht aus und geh schlafen.« Dummerweise hatte Nancy nicht das geringste Bedürfnis zu schlafen.
»Das war vermutlich, als Larry und ich auf der Bank saßen und schmusten«, sagte sie. »Aber im Ernst, David, was hältst du von Lila? Ich meine, ganz ehrlich. Ich will die Meinung hören, die du sonst niemals aussprechen würdest, zu keinem Menschen.«
»Ich hab’s dir doch eben gesagt.«
»Larry behauptet, sie kann nicht zwischen Recht und Unrecht unterscheiden.«
»Larry hat recht. Sie hat keinerlei Moralgefühl. Gott sei Dank.«
»Larry sagt, sie ist die geborene Lügnerin.«
»Ich hab’ nichts gegen Lügnerinnen«, sagte David schläfrig. »Und ich hätte auch nichts dagegen, wenn du dich jetzt hinlegen und das Licht ausmachen würdest. Gute Nacht, Geliebte.«
»Ha, Geliebte! Noch nicht einmal wachhalten kann ich dich!«
»Aber Geliebte, das mußt du verstehen. Es ist zu kurz nach Lila. Aber du darfst morgen früh gern darauf zurückkommen.«
»Interessiert dich denn nicht, was Larry gesagt hat?«
»Larry war betrunken. Was Betrunkene sagen, ist selten interessant.«
»Ich bin gar nicht so sicher, daß Larry betrunken war. Was er sagte und tat, wirkte jedenfalls nicht so.«
Davids einzige Antwort war ein vorgetäuschter Schnarcher, der bedeutete, daß er von nun an kein Wort mehr zu sagen gedachte. Und so blieb Nancy stumm auf der Bettkante sitzen und dachte über die Beschreibung nach, die Larry ihr vom Charakter seiner Frau gegeben hatte. Sie hoffte, daß sie nicht zutraf, denn sie hatte Lila aufrichtig gern. Auf der anderen Seite jedoch hoffte sie ebenso sehr, daß sie zutraf, denn ihre Zuneigung zu Larry war keineswegs geringer.
Schon bald begann David zu atmen, als schlafe er wirklich. Nancy ging ins Bad. Sie machte das kleine Nachtlichtchen an, das in der für den elektrischen Rasierapparat bestimmten Steckdose steckte; dann kam sie zurück, knipste die Nachttischlampe aus und ging wieder ins Bad. Sie drückte Zahnpasta auf ihre Zahnbürste und putzte sich energisch die Zähne; dann hockte sie sich auf den Badewannenrand und dachte darüber nach, was eine junge Frau anfangen könnte, deren Ehemann sich für nichts Interessantes – sei es ein Gespräch oder etwas anderes – zu interessieren schien. Sie konnte natürlich nach unten gehen und sich ein Butterbrot oder eine Tasse Kaffee machen. Doch auf ein Butterbrot hatte sie keinen Appetit, und nach Kaffee würde sie nur noch weniger schlafen können. Das kam also nicht in Frage. Offen gestanden war sie vom Bier noch etwas benommen, und daher wäre es wohl das beste, nach draußen zu gehen und ein bißchen frische Luft zu schnappen.
Nachdem sie diesen Entschluß gefaßt hatte, ging Nancy daran, ihn in die Tat umzusetzen. Sie schlich sich ins Schlafzimmer, suchte Bluse, Schuhe und Shorts zusammen, die sie am Abend getragen hatte, kehrte ins Bad zurück und zog sich an. Dann ging sie nach unten und trat vor das Haus. Die silberne Sichel des Mondes war zwischen blinkenden Sternen verschwunden, und von Westen her wehte eine sanfte Brise. Die Nacht war so schön, wie eine junge Frau mit einem schlafenden Ehemann sie sich nur wünschen konnte.
Sie blieb eine Weile auf der Vortreppe sitzen und schlenderte dann den Plattenweg zur Straße hinunter. Den Blick nach oben, den Sternen zu gerichtet, wandte sie sich nach links und ging langsam weiter. Eben hatte sie die Einfahrt zum Connorschen Grundstück erreicht, als plötzlich laut dröhnend das nachbarliche Garagentor in die Höhe geschoben wurde. Im Licht der Garagenlampe stand Larry Connor. Er stieg in seinen Buick Special, ließ den Motor an und setzte den Wagen rückwärts heraus. Nancy sah, wie er in der Einfahrt anhielt, ausstieg, die Garagenlampe ausmachte und das Tor herunterzog. Dann kam er langsam rückwärts auf die Straße herausgefahren. Als er an Nancy vorbeikam, die auf dem Gehsteig stand, sprach sie ihn an, obgleich sie bis dahin nicht die Absicht gehabt hatte, sich mit ihm zu unterhalten.
»Hallo, Larry«, sagte Nancy. »Wohin willst du denn?«
Larry trat heftig auf die Bremse und lehnte sich zum Fenster hinaus, die Augen zusammengekniffen, um besser sehen zu können.
»Ach, du bist es, Nancy«, sagte er. »Was machst du denn um diese Zeit hier draußen?«
»Ich konnte nicht schlafen und wollte einen kleinen Spaziergang machen.«
»Ja, die Nacht ist wie geschaffen dafür«, sagte er. Seine Stimme klang zurückhaltend, fast förmlich.
»Ja, nicht wahr? So viele Sterne. Und dieser leichte Wind ist einfach herrlich.«
»Hast du gefragt, wo ich hin will?« fragte er brüsk.
»Ich glaube schon, Larry.«
»Nun, wenn du’s genau wissen willst: Ich fahre in mein Büro und übernachte dort. Das mache ich immer, wenn ich’s zu Hause nicht mehr aushalten kann.«
Das klang bedrohlich nach einer Einleitung zu weiteren Ergüssen über die häuslichen Schwierigkeiten der Connors. Nancy verhielt sich still in der Hoffnung, Larry würde das Thema wechseln oder weiterfahren. Doch er tat keins von beiden.
In der nächtlichen Stille wurde sich Nancy plötzlich eines rhythmischen Geräusches bewußt, dessen Ursache sie nicht sogleich erkannte. Dann stellte sich heraus, daß es von Larry kam, der immer wieder voll Verzweiflung mit der Faust auf das Lenkrad schlug. Es dauerte nur ein paar Sekunden lang, dann sagte er ruhig:
»Weißt du noch, was ich dir heute abend gesagt habe, Nancy?«
»Worüber?«
»Daß ich will, du möchtest verstehen, wie die Dinge wirklich liegen?«
»Ja, ich glaube…«
»Dann vergiß es nicht. Gute Nacht, Nancy.«
»Gute Nacht, Larry. Sehen wir uns morgen?«
»Ich glaube nicht. Vielleicht.«
Er setzte zurück auf die Straße, wendete und fuhr davon in Richtung Stadt. Verdammt noch mal, dachte Nancy. Jetzt hatte er sie wieder so aufgeregt, daß es ihr unmöglich war, schlafen zu gehen. Sie wünschte, Larry Connor würde die Freundlichkeit besitzen, nicht immer Dinge zu sagen, die etwas oder nichts, oder alles bedeuten konnten.
Nancy ging zurück, setzte sich wieder auf die Stufen vor der Haustür und versuchte herauszufinden, was Larry mit seinen Worten hatte sagen wollen. Doch was es auch sein mochte, er und Lila mußten nach ihrer Heimkunft von der Party noch einmal Streit gehabt haben, sonst wäre er nicht noch so spät in der Nacht in sein Büro gefahren. War es vielleicht, weil er mit ihr gesprochen, sie geküßt hatte? Nancy sagte sich, daß ihr Schuldgefühl absurd sei, denn die Tatsache, daß sie zugehört und sich hatte küssen lassen, war nicht ihrem eigenen Wunsch, sondern einem Gefühl nachbarlicher Zusammengehörigkeit entsprungen.
Nach etwa zehn Minuten stand Nancy auf und wanderte ums Haus herum in den Garten. Sie wünschte, sie hätte Zigaretten bei sich. Und dann erkannte sie plötzlich, daß ihr Verlangen nach einer Zigarette durch einen winzigen, glühenden Punkt gegenüber, im Garten der Walters, hervorgerufen worden war. Da drüben rauchte jemand. Sicher Stanley, denn Mae war Nichtraucherin. Vermutlich konnte der Arme nicht schlafen.
Nancy trat an den Lattenzaun und spähte hinüber in den Garten, wo der kleine, rote Punkt glühte.
»Stanley?« rief sie leise. »Bist du das?«
Der Punkt fuhr herum.
»Wer ist da?« erklang Stanleys Stimme. »Wer ist da?«
»Nancy Howell. Hier bin ich, am Zaun.«
Der rote Punkt kam näher; dahinter tauchte Stanleys Gesicht aus dem Dunkel. Er trug einen Pyjama mit breiten Streifen, die die Fülle seines Körpers nur noch deutlicher hervorhoben. Er beugte sich kurz über den Zaun, als wolle er sich vergewissern, daß es Nancy war, dann öffnete er behutsam das Pförtchen und kam herüber.
»Was machst du denn so ganz allein hier draußen, Nancy?«
»Ich konnte nicht schlafen. Die Nacht ist so wunderbar, nicht wahr? So herrlich kühl.«
»Der Wetterbericht sagt, morgen wird’s etwas kühler.«
»Na, hoffentlich. In den letzten Tagen war es wirklich zu heiß, selbst zum Sonnen. Hast du vielleicht eine Zigarette für mich, Stanley? Ich sterbe, wenn ich keine kriege.«
»Um Himmels willen, Nancy! Ein so hübsches Mädchen wie du sollte ewig leben.«
Das war wieder einer von Stanleys Versuchen zur Ritterlichkeit, doch hier im Dunkeln, so spät nachts mit ihm allein, klang es nicht ganz so kitschig. Eher rührend, dachte Nancy, denn es war deutlich, daß der Arme jedes Wort meinte, wie er’s sagte. Sie nahm die Zigarette, die er ihr anbot, zündete sie an der seinen an und inhalierte tief. In der kühlen Nachtluft schmeckte der Rauch kräftig und angenehm.
»Danke, Stanley. Du hast mir das Leben gerettet.«
»Bitte sehr. Die Belohnung kassiere ich später.«
»Tu das«, lachte Nancy. »Kannst du auch nicht schlafen?«
»Nein. Aber Mae ist sofort eingeschlafen.«
»David auch. Der schläft wie ein Stein.«
»Bist du schon lange draußen?«
»Eine Weile.«
»Ich dachte, ich hätte vorhin Larrys Wagen gehört. Hast du Larry gesehen?«
»Ja, er ist weggefahren. Er und Lila müssen sich wieder einmal gezankt haben. Er sagte, er wolle in seinem Büro übernachten.«
»Mein Gott, Larry sollte das wirklich nicht immer tun. Ich meine, Lila so alleinlassen.«
»Mach dir nur keine Sorgen wegen Lila, Stanley. Das ist nicht die erste Nacht, die sie allein verbringt. Ich bin auch schon nachts allein gewesen.«
»Larry denkt zuviel nach, das ist der Fehler. In Gedanken malt er sich die übelsten Dinge aus.«
»Über Lila?«
»Es geht mich ja nichts an, aber Lila verdient wirklich nicht, wie Larry sie behandelt.«
»Wie behandelt er sie denn, Stanley? Ich habe keine Ahnung.«
»Du hast doch auch gehört, was für Dinge er ihr manchmal sagt. Er weiß Lila einfach nicht richtig zu schätzen.«
Es war nicht zu übersehen, daß Stanley Lila durchaus zu schätzen wußte, ob richtig oder nicht. Nancy fand, daß nun genug über Dinge gesagt worden war, die am besten überhaupt hätten totgeschwiegen werden müssen. Außerdem bekam sie eine Gänsehaut, so seltsam das nach einem so heißen Tag auch anmuten mochte. Bibbernd tat sie einen letzten Zug an ihrer Zigarette und warf sie über den Zaun. Automatisch trat Stanley sie aus.
»Ich glaube, wir gehen lieber wieder ins Haus, Stanley. Vielen Dank für den Sargnagel.«
»Gern geschehen«, sagte Stanley. »Gute Nacht.«
Nach ein paar Schritten sah Nancy sich um, ob Stanley ebenfalls hineinging. Doch er stand noch immer, wo sie ihn verlassen hatte. Zuerst nahm sie an, er warte ritterlich, bis sie im Haus war, doch dann sah sie, daß er den Kopf in eine andere Richtung gewandt hatte. Seine Aufmerksamkeit galt einem Vorgang im oberen Stock des Connorschen Hauses. Stanley beobachtete das erleuchtete Fenster des Schlafzimmers! Des Zimmers, in dem Lila heute nacht allein und offensichtlich noch hellwach war. Die Idee, die Nancy durch den Kopf fuhr, war so phantastisch, daß sie im selben Moment darüber lachen mußte.
Aber nein! dachte Nancy. Selbst der arme Stanley kann so dumm nicht sein.
Sie ging nach oben. David schlief wie ein Murmeltier. Nancy schlüpfte wieder in ihr Nachthemd und kroch neben ihn ins Bett. Lange lag sie da, auf dem Rücken, und unterdrückte jede Regung, sich zu bewegen, sich aufzusetzen und zu lesen oder eine Zigarette zu rauchen. Und dann, in einem unbewachten Augenblick dieser endlosen Übung in Selbstdisziplin, war sie eingeschlafen.