Ein Mann kam das Durchgangsgäßchen entlang und kontrollierte die Türen. Wenn die Rückseite eines Gebäudes direkt am Durchgang lag, blieb er nur kurz stehen, um sich zu vergewissern, ob die Hintertür verschlossen war, doch wo zwischen Haus und Durchgang ein Parkplatz lag, verschwand er ein, zwei Minuten, und Masters erriet, daß der Mann eine Tür außerhalb seiner Sichtweite kontrollierte. Der Wachmann zog ein Bein nach, Resultat einer Verletzung, die er sich vor Jahren als Bremser bei der Eisenbahn zugezogen hatte. Damals hatte man ihn mit einer beträchtlichen Summe abgefunden, doch das Geld war längst den Weg alles Irdischen gegangen, und er lebte jetzt von einer kleinen Pension und seinen Einkünften als Nachtwächter. Sein Name war Jake Kimble.
Masters, der in einer Seitenstraße am Ende des Gäßchens wartete, verfolgte Jakes Weg nach dem Schein von dessen Taschenlampe; außerdem hörte er deutlich den schlurfenden Schritt des Lahmen über das unebene Pflaster. Er wartete jetzt eine Viertelstunde. Es war ihm eingefallen, daß der Wachmann im Besitz von wichtigen Informationen sein könnte.
Bald tauchte Jake Kimble aus der Dunkelheit auf und trat in den Lichtschein der Straßenlaterne.
»Hallo, Jake«, sagte Masters.
»Hallo?« Der Alte fuhr zusammen. Angestrengt suchte er in dem ungewissen Licht den anderen zu erkennen. »Leutnant Masters?«
»Richtig. Irgend etwas Ungewöhnliches, Jake?«
»Nein, Leutnant. Nichts Ungewöhnliches.«
»Aber neulich nachts gab es etwas Ungewöhnliches, nicht wahr?«
»Nicht für mich, Leutnant«, erwiderte Jake rasch.
Masters lachte. »Finden Sie nicht, daß ein Selbstmord etwas Ungewöhnliches ist?«
»Ach, Sie meinen Mr. Connor, der sich umgebracht hat, nachdem er seine Frau erstochen hat. Nein, der hat nichts Ungewöhnliches gebracht. Mir nicht.«
»War das nicht Samstag nacht?«
»Jawohl, Samstag nacht, auf meiner ersten Runde. Sonntagmorgen bin ich dann wiedergekommen.«
»Und jedesmal haben Sie die Hintertür kontrolliert?«
»Jawohl, Sir. Und jedesmal war sie verschlossen. Ich kenne meine Pflicht, Leutnant.«
»Das weiß ich, Jake. Wissen Sie, ich bearbeite den Fall, und da habe ich mir gedacht, daß Sie vielleicht etwas wissen könnten.«
»Glaube ich kaum. Bei meiner ersten Runde war er nicht in seinem Büro, das weiß ich genau. Aber als ich wiederkam, da war er da. Vielleicht war er da schon tot.«
»Woher wollen Sie das wissen?«
»Was? Daß er tot war? Das weiß ich nicht. Ich habe gesagt, vielleicht.«
»Nicht, daß er tot war. Daß er da war.«
»Na, weil sein Wagen doch hinter dem Haus stand.«
Masters grinste enttäuscht. »Sonst noch Gründe?«
»Na klar. Im Fenster neben der Hintertür hat er ‘nen Klimaapparat stecken. Das erstemal, als ich kam, war der aus. Das zweitemal war er an.«
Es war kurz nach elf. Da er bereits soviel vom Abend vertan hatte, fand Masters, er könne ruhig noch etwas mehr vertun. Auf der Ausfallstraße verließ er die Stadt und parkte fünfzehn Minuten später, auf halbem Weg nach Kansas City, vor einem luxuriösen, reich mit Steinurnen, Glasziegeln und Riesen-Neonröhren verzierten Gebäude.
Die Halle war mit teuren Teppichen ausgelegt; dahinter lag ein großer, eng mit Tischen vollgestellter Raum, den er vom Eingang aus überblicken konnte. Nicht alle Tische waren besetzt; an Wochentagen lief das Geschäft nicht so recht. Im Augenblick war der Raum dunkel, bis auf einen bläulichen Scheinwerfer, in dessen Licht ein Mädchen in hautengem Abendkleid zur Begleitung einer kleinen Combo sang. Gleich an der Tür, bewaffnet mit einem Stapel Speisekarten, stand der Geschäftsführer in einem Frack, der um einen Schein blauer war als seine Wangen. Der Mann musterte Masters kühl. Nun ja, Masters mußte zugeben, daß er in seinem verdrückten Anzug, dem weißen Hemd und der schlecht gebundenen Krawatte keine besonders gute Figur machte.
»Einen Tisch für eine Person… Sir?« Das >Sir< kam nur widerwillig.
»Nein, danke«, sagte Masters. »Ich will mich nur umsehen.«
»Suchen Sie einen Freund? Vielleicht kann ich Ihnen dabei helfen?«
»Freund ist zuviel gesagt. Lewis Shrill. Ist er da?«
»Mr. Shrill ist in seinem Büro. Aber ich glaube, er will nicht gestört werden.«
»Keine Angst, er stört mich ebenso wie ich ihn.« Er klappte sein Etui mit der Marke auf. »Bemühen Sie sich nicht, mein Freund. Ich kenne den Weg.«
Das Büro lag linker Hand, hinter einer schweren Eichentür. Masters klopfte, und eine Stimme, die hinter einem enormen Hindernis hervorzukommen schien, forderte ihn zum Eintreten auf. Masters trat ein.
Das Hindernis bestand aus Rührei und Hühnerleber. Shrill nahm sein Abendessen ein, und das erinnerte Masters daran, daß seit dem Mittagessen eine sehr lange Zeit verstrichen war, und daß bis zum Frühstück eine noch viel längere verstreichen würde. Er setzte sich auf einen Stuhl vor Shrills Schreibtisch.
»Nehmen Sie Platz, Gus«, sagte Shrill.
Masters legte seinen Hut neben sich auf den Boden. »Lassen Sie sich nicht beim Essen stören, Lew.«
»Möchten Sie auch was? Ich lasse gleich was kommen.«
»Lieber nicht. Jemand könnte es sehen und glauben, ich ließe mich bestechen.«
»Immer noch bescheiden, he, Gus? Wenn es etwas gibt, das ich ekelhafter finde als einen korrupten Polypen, dann ist es ein ehrlicher.«
»Ich wollte Sie um einen Gefallen bitten«, lächelte Masters.
»Sie befinden sich außerhalb Ihres Bezirks, nicht wahr?«
»Außerhalb meines Bezirks, außerhalb meines Elements und außerhalb meiner Prinzipien.«
Shrill hielt mit dem Einschaufeln inne und starrte Masters an. Dann sagte er: »Sagen Sie mir, um was es sich handelt. Wir werden sehen.«
Er konzentrierte sich wieder auf Eier und Leber, und Masters sah ihm hungrig zu. Es war sicher Zufall, daß Shrills Stimme, sogar wenn sie Eier und Leber zu überwinden hatte, seinem Namen alle Ehre machte. Hoch, geziert, fast feminin. Daß sie aus einem schweren Körper kam, machte sie sogar lächerlich. So lange, bis man lernte, oder am eigenen Leibe verspürte, daß an dem Mann durchaus nichts Lächerliches war. Shrill besaß ein breites, dunkles Gesicht mit kleinen, ruhigen, in dunkel aufgedunsene Fleischfalten gebetteten Augen; sein Haar, in der Mitte gescheitelt, war schwarz und glänzend wie ein Toupee, und war auch eins. Überdies litt er an einem sehr femininen, unstillbaren Hunger nach Klatsch, speziell delikater Art. Shrill wußte mehr pikante Einzelheiten über die unglaublichsten Leute als jeder andere im Mittelwesten, und dieser Fundgrube galt Masters’ Besuch.
»Ich brauche Informationen, Lew«, sagte Masters.
»Seit wann kommt die Polizei zu mir wegen Information nen?«
»Sie bedeuten für mich eine Abkürzung des üblichen Weges, und mir wird die Zeit ein bißchen knapp.«
»Zur Sache, Gus. Was wollen Sie wissen?« Mit ungebrochen nem Appetit aß Shrill weiter.
»Alles, was Sie über zwei Personen wissen: Lila Connor und Dr. Jack Richmond.«
Shrills Gabel machte mitten zwischen Teller und Mund halt. Nach einem Augenblick beendete sie dann ihren Weg und kehrte auf den Teller zurück. Shrill kaute mit Behagen. Seine Stimme bahnte sich mühsam einen Weg nach draußen.
»Die Dame ist tot, Gus. Über Tote pflege ich nicht zu plaudern. Das bringt Unglück.«
»Nehmen Sie diesmal das Risiko auf sich, Lew. Ich brauche die Auskunft.«
»Haben Sie Ihren Beruf gewechselt, oder bearbeiten Sie neuerdings nebenbei Fälle von Ehebruch?«
»Also doch Ehebruch«, grinste Masters.
»Spielen Sie nicht Verstecken mit mir, Gus. Es war auch Mord dabei, soviel ich gehört habe. Ihr Mann hat sie umgelegt, und wäre darüber eigentlich nicht überrascht gewesen, wüßte ich nicht, daß er selbst auch keine ganz weiße Weste hatte.«
»Sie denken da an eine gewisse Sekretärin?«
»Ach so, Sie wissen von ihr und Connor!« Shrills Stimme klang überrascht. Plötzlich lachte er. »Ach was, mir kann’s ja nichts schaden. Über den Doktor wollen Sie was hören? Nun ja, er liebt Abwechslung. Die Dame Connor war nicht die erste, und sie wird auch nicht die letzte sein.«
»Lew!« Masters beugte sich vor. »Was war mit Richmond und der Connor? War er über beide Ohren in sie verknallt?«
Der Dicke zuckte die Achseln. »Wer soll das wissen? Er hat’s lange mit ihr ausgehalten, soviel weiß ich. Er hat sie sogar mehrmals hierhergebracht, und das macht midi neugierig. Ich amüsiere mich immer über Burschen wie den Doktor, und manchmal kann ich aus dem, was ich weiß, auch ein paar ehrliche Dollars schlagen. Ich habe gute Verbindungen in Kansas City – Hotels, Motels, Privatdetektive und so weiter. Ich habe mir Berichte geben lassen.«
»Und?«
Shrill zwinkerte. Merkwürdiger Anblick, einen Buddha zwinkern zu sehen. »Die Berichte waren äußerst pikant. Ich könnte ein paar Nächte nennen, von denen Mrs. Doktor bestimmt gerne wüßte.«
»Mit Lila Connor?«
Shrill schob denn Teller zurück und wischte sich mit einer Serviette, so groß wie ein Tischtuch, die Lippen. Gewissenhaft faltete er sie zusammen und legte sie neben den sauber leergegessenen Teller.
»Jawohl«, sagte er. »Mit Lila Connor. Und ich sage Ihnen eins, Gus: dieser Richmond hat Glück gehabt, daß er so leicht davongekommen ist. Sie war ein gemeines Biest – von der Sorte, die tut, als sei sie nymphoman und dann noch nicht mal schneller atmet.«
Masters bückte sich und nahm seinen Hut. »Und haben Sie ein paar ehrliche Dollars herausschlagen können aufgrund der Berichte, Lew?«
»Hören Sie, Gus«, quiekte Lewis Shrill. Dann wurde sein massiger Körper von einem Rülpser geschüttelt. »Verzeihung… Würden Sie mir glauben, wenn ich nein sage?«
»Nein«, sagte Masters.
»Warum fragen Sie dann? Tatsache ist jedoch leider, daß mir keine Zeit blieb, mich mit diesem Fall zu befassen. Connor hat mich ‘ne Menge ehrlicher Dollars gekostet.«
Masters zog eine skeptische Miene. Trotzdem lächelte er, als er sagte: »Vielen Dank, Lew.« Dann ging er.
Er überlegte, ob er noch irgendwo kurz auf eine Bulette und eine Tasse Kaffee haltmachen sollte, doch der Appetit war ihm vergangen. Er schloß einen Kompromiß und trank in einer Bar ein paar Gläser Schnaps.
Die Howells waren gegangen, und das dunkle Haus schien langsam, leise im Dunkeln zu atmen. Vera Richmond lag neben ihrem Mann im Bett und lauschte auf dieses Atmen. Es war ihr eigenes. Seit einer halben Stunde lag sie auf dem Rücken und konnte nicht schlafen. Würde sie je wieder schlafen können? Aber natürlich! Schlaf ist, wie der Tod, unausweichlich, und am Ende bestand vielleicht gar kein Unterschied zwischen den beiden.
»Bist du wach?« fragte sie.
»Ja«, erwiderte Jack Richmond. Nach einer Weile sagte er: »Ich habe nachgedacht.«
»Ich auch. Ich habe über das nachgedacht, was Nancy Howell uns heute abend erzählt hat. Was, glaubst du, geschieht als nächstes?«
»Ich weiß nicht. Einer Tatsache müssen wir jedoch ins Auge sehen, Vera: Lila lebte noch, als Larry Samstag nacht das Haus verließ. Also ist er entweder später zurückgekommen, oder… jemand anders hat sie umgebracht.«
Sie schwiegen wieder. Abermals nach einer Weile sagte Vera: »Aber was ist mit Larrys Tod? Wieso kann man da überhaupt auf etwas anderes schließen als Selbstmord?«
»Die Frage ist nicht, auf was >man< schließen kann, sondern auf was die Polizei schließt. Dieser Masters hat uns bewiesen, daß er keineswegs dumm ist. Gott allein weiß, was er noch herausgefunden oder kombiniert hat.«
»Es schien zuerst alles so einfach«, sagte Vera. »Es wäre besser gewesen, wenn es dabei geblieben wäre.«
Jack räusperte sich. »Ich weiß nur, daß ich von jetzt an jeden Augenblick mit einem Anruf von Masters rechnen muß. Er wird kommen.«
»Aber er kann dich doch nicht verhaften, Jack! Was für Beweise hat er denn?«
»Es hat keinen Sinn, alles noch mal durchzusprechen, Vera. Motiv und Gelegenheit sind durchaus genug. Wenn Masters mich nicht aufgrund direkten Beweismaterials überführen kann, so kann ich doch ebensowenig meine Unschuld beweisen. Am Ende haben wir dann Indizien, die wie Beweise aussehen, aber keine sind.«
»Aber das ist nicht fair! Das lasse ich nicht zu!«
»Du kannst nichts daran ändern. Ich will auch nicht, daß du dich da einmischst. Ich bin der allergrößte Idiot gewesen, und jetzt muß ich dafür büßen. Tut mir leid, Vera.«
»Alles wird gut werden. Du wirst sehen.«
»Ja, mein Liebes.«
»Jack, warum ziehen wir nicht um? Ich möchte so gerne in ein anderes Stadtviertel ziehen.«
»Wenn’s nicht zu spät dazu ist«, sagte Dr. Richmond.
Es war später, als sie dachten. Schon am nächsten Abend kam Masters zu Dr. Jack Richmond. Normalerweise wäre es anders herum gewesen – Dr. Richmond wäre zu Masters bestellt worden, doch Masters hatte in der Nachbarschaft zu tun gehabt. Um genau zu sein, im Haus nebenan.
In der Zwischenzeit hatte sich in den Gärten einiges getan. Jack Richmond war mit einer Hacke nach draußen gekommen und hatte die Erde rund um die Rosenbüsche zu lockern begonnen; David, der kurz darauf in seinem Garten auftauchte, sah Jack drüben schuften und beschloß, ihn dabei zu beaufsichtigen. Doch Jack schien nicht allzu interessiert an den Rosenstöcken, eine Tatsache, die sich dadurch zeigte, daß er bei Davids Erscheinen sofort die Hacke fallen ließ und ein kühles Bier auf der Terrasse vorschlug. Der Form halber brachte David einen schwachen Protest hervor. Dann verschwand Jack im Haus, kam kurz darauf mit dem Bier zurück, und da saßen sie nun, gemütlich in die Gartenstühle gelehnt, als Nancy herauskam, um nach ihrer großen Hilfe Ausschau zu halten.
Da sie ihn vor der Tür gewähnt hatte, war sie leicht verärgert, ihn dort nicht zu finden. Sie hatte in der heißen Küche Geschirr gespült, und ihr schien es nur recht und billig, daß ihr Mann, wenn er ihr schon nicht helfen wollte, doch wenigstens im eigenen Garten blieb, bis die Arbeit getan war. Er jedoch saß gemütlich auf der Terrasse der Richmonds und kippte sein Bier, als sei er ein Angehöriger der privilegierten Klasse.
Nancy fand, was gut genug war für ihn, war ganz gewiß auch nicht zu gut für sie. Mit freundlichem Lächeln marschierte sie hinüber und wurde eiligst eingeladen, den beiden Gesellschaft zu leisten, eine überflüssige Geste, da sie ja schon da war. Und als Jack ein Bier für sie holen ging, kam auch Vera zu ihnen heraus.
In schweigender Übereinkunft vermieden sie jede Anspielung auf die Connors, deren Nachlaß von verschiedenen entfernten Verwandten beansprucht worden war, doch es war schwierig, ein anderes Thema zu finden, da aller Gedanken stets nur um das eine kreisten.
Jade und Vera, fand Nancy, sahen hohläugig und überanstrengt aus. Das war ungewöhnlich, besonders bei Vera, die sich normalerweise mit jeder Situation leicht abfinden konnte.
Das stille Haus nebenan warf Schatten und Kälte über Rasen, Hecke und Terrasse, und sehr zu ihrem Verdruß ertappte sich Nancy immer wieder dabei, daß sie sich umdrehte und ängstlich hinübersah, als werde es ihr gleich ins Gesicht springen. Und daher bemerkte sie es auch auf einmal und stieß einen Schrei aus.
»Da!« rief sie. »Da ist Licht in Lilas Zimmer!«
»Ja«, sagte Vera. »Vor ein paar Minuten ist es angegangen.«
»Aber wer in aller Welt kann zu dieser Tageszeit dort oben sein?« fragte David. »Und was in aller Welt macht er da?«
»Augenblick!« Jack sprang auf und ging ums Haus herum. Als er zurückkam, sagte er: »Vor dem Haus steht ein Polizeiauto. Das muß dieser Schnüffler sein, Leutnant Masters.«
Er setzte sich wieder, nahm seine Dose Bier und lehnte sich mit einem tiefen Seufzer zurück. Man hatte den Eindruck, als spüre er, daß irgend etwas dem Ende zuging, und daß dieses Gefühl ihn erleichterte.
»Was er wohl tut, da oben?« sagte Nancy nachdenklich. »Ob er wieder nach dem Schlüssel sucht?«
»Nach welchem Schlüssel?« fragte Jack.
»Dem Schlüssel zur Hintertür. Er glaubt, daß Larry einen in seinem Schlüsseletui hatte, und daß er verschwunden ist. Habe ich euch das nicht erzählt?«
»Nein.«
»Na ja, er glaubt, daß der Mörder ihn an sich nahm, nachdem er Larry umgebracht hat, um damit ins Haus zu kommen und Lila zu erstechen.«
»Aber Larry hat doch Selbstmord begangen«, sagte Vera. »Ganz gleich, was für absurde Theorien die Polizei sich ausdenkt, daran ist doch nicht zu zweifeln. Falls Lila wirklich von jemand anders getötet worden ist, hat Larry eben zufällig zur gleichen Zeit Selbstmord begangen.«
»Das ist auch meine Meinung«, sagte David.
»Aber«, sagte Nancy, »nicht die Meinung von Leutnant Masters. Das hat er mir deutlich zu verstehen gegeben, als ich ihm neulich morgens von dem Licht erzählte – ich meine, daß es aus war, nachdem es noch brannte, als Larry schon weg war. Das war am selben Morgen, als ich ihm von Stanley erzählte, und daß Stanley Lila noch gesehen und mit ihr gesprochen hat, nachdem ich ihn im Gäßchen alleingelassen hatte.«
»Sag mal, kannst du eigentlich hexen?« fragte David. »Jedesmal, wenn du von Stanley sprichst, zauberst du ihn irgendwie herbei. Da kommt er mit Mae.«
»Ich glaube«, sagte Vera, »ich kann Mae heute abend nicht ertragen.«
Aber sie konnte es doch. Die Walters’ lehnten das angebotene Bier ab und nahmen förmlich Platz. Es war offensichtlieh, daß die eheliche Gemeinschaft sich in äußerst labilem Gleichgewicht befand. Stanley hatte sichtlich schwere Tage hinter sich und konnte auch kaum in näherer Zukunft auf Besserung hoffen.
»Wir haben auf unserer Hintertreppe gesessen«, sagte Stanley, »und da haben wir das Licht nebenan gesehen. Was ist denn da los?«
»Die Polizei«, sagte Jack nachdenklich. »Masters, nehme ich an. Er scheint etwas zu suchen.«
»Zu suchen? Was denn?«
»Das weiß ich nicht. Nancy glaubt, einen Schlüssel zur Hintertür. Vielleicht auch einen Beweis dafür, daß du in Lilas Schlafzimmer warst in der Nacht, als sie starb. Hast du Fingerabdrücke hinterlassen, Stanley?«
»Mein Gott, Jack! Sag doch so etwas nicht! Du weißt genau, daß ich nur an der Haustür war. Drinnen war ich überhaupt nicht.«
»So, weiß ich das? Woher denn? Weil du es behauptest?«
»Es ist die Wahrheit, das schwöre ich! Ich bin im Polizei-Präsidium gewesen und habe dem Leutnant genau erzählt, was sich abgespielt hat.«
»Du hast ziemlich lange damit gewartet, Freundchen. Masters läßt sich nicht so leicht an der Nase herumführen.«
Stanley war vorübergehend sprachlos.
»Alles, was ihm geschieht, geschieht ihm recht«, sagte Mae Walters verächtlich. »Er wußte, daß ich eine Schlaftablette genommen hatte, nur deshalb hat er den Mut gehabt, sich die halbe Nacht herumzutreiben und mit Weibern im Nachthemd zu reden – falls sie überhaupt eins anhatte.«
»Das haben wir doch schon zur Genüge durchgekaut«, stieß Slanley hastig hervor. »Willst du denn schon wieder davon anfangen…?«
»Vermutlich werden wir wieder davon anfangen müssen, ob du nun willst oder nicht«, sagte Mae. »Lila umbringen ist möglicherweise nicht das einzige, was du ihr angetan hast. Du hast oft genug bewiesen, daß du sofort deinen dicken Kopf verlorst, wenn sie den Büstenhalter fallen ließ.«
»Nun«, sagte Stanley bitter, »vergiß ja nicht, das Masters zu erzählen. Er wird sich sehr für die Meinung meiner eigenen Frau interessieren.«
»Nun hör schon auf, Mae«, sagte Jack. »Ich hab’ Stanley doch nur aufgezogen. Vielleicht war es auch Wunschdenken von mir. Dabei bin zweifellos ich derjenige, den Masters aufs Korn genommen hat.«
»Wieso glaubst du das?« fragte Nancy plötzlich.
»Ich glaube es nicht, Nancy, ich weiß es. Als die MordSelbstmordtheorie plötzlich ins Wanken geriet, wußte ich, daß es nur eine Frage der Zeit sein konnte, bis er auf mich stoßen würde. Er hat schon im Krankenhaus Fragen über mich gestellt. Und zweifellos auch anderswo.«
»Laß ihn fragen«, sagte David herzlich. »Du warst in jener Nacht im Krankenhaus, Jack, und kannst es beweisen.«
»Das kann ich eben nicht. Ich kann nicht beweisen, daß ich die ganze Zeit dort war. Und das ist noch nicht alles. Es gibt noch etwas, das er herausfinden wird, wenn er’s nicht schon weiß. Du solltest dich glücklich schätzen, daß du Stanley hast, Mae. Du hättest an mich geraten können.«
»Soweit ich mich erinnere, bist du aber mit mir verheiratet«, sagte Vera. »Und wenn ich Grund zur Beschwerde hatte, habe ich ihn stets nur zu dir geäußert.«
»Das hast du, mein Liebes, und dafür bin ich dir dankbar. Nun ja, was geschehen muß, geschieht. Alles, was Masters gegen mich in der Hand hat, sind Indizien. Er kann höchstens beweisen, daß ich den Mord hätte begehen können, nicht daß ich ihn begangen habe. Mit einem guten Rechtsanwalt müßte ich meine Haut retten können.«
»Das würde dich ruinieren«, sagte Vera. »Was kann ein Arzt anfangen, den man vom Mordverdacht freigesprochen hat?«
»Mehr als einer, den man verurteilt hat. Mir bliebe immer noch die Forschung oder die Tiermedizin.«
In diesem Augenblick ging nebenan das Licht aus. Die drei Ehepaare saßen schweigend in der zunehmenden Dunkelheit. Sie warteten. Nach einer Weile wurde die Hintertür des Connorschen Hauses geöffnet, und Leutnant Masters erschien. Es war jetzt ziemlich dunkel, und Masters war nur als undeutlicher Schatten zu erkennen. Er schien an der Hintertür, die er hinter sich ins Schloß gezogen hatte, herumzumanipulieren, und schon bald wurde allen der Sinn seines mysteriösen Tuns klar: Die Tür öffnete sich wieder. Er hatte sie von außen aufgeschlossen.
»Er hat ihn gefunden!« rief Nancy. »Er hat den Schlüssel gefunden!«
Als Masters sich umwandte, sah er, daß man ihn von der Terrasse der Richmonds her beobachtete und ging hinüber. Er machte den Eindruck, als habe er schwere, körperliche Arbeit geleistet. Die Krawatte hing ihm schlaff um den offenen Hemdkragen, sein Gesicht war voller schweißverkrusteter Schmutzstreifen. In der rechten Hand hielt er den Schlüssel. Vielsagend warf er ihn in die Luft und fing ihn wieder auf.
»Guten Abend«, sagte er mit eigenartiger Betonung.
»Irgendwie«, sagte Nancy, »werde ich das Gefühl nicht los, daß es gar kein guter Abend ist.«
»Ich möchte Ihre Unterhaltung nicht stören, Mrs. Howell. Wenn es Ihnen lieber ist, komme ich später wieder. Oder vielmehr zu demjenigen, den ich vor allem sprechen will.«
»Nein, danke. Ich jedenfalls möchte lieber nicht länger warten und mich auf die Folter spannen lassen. Könnten Sie den Hinrichtungstermin nicht vorverlegen?«
»Ganz meine Meinung«, sagte Jade Richmond. »Selbst der Schuldige schläft besser, wenn alles vorüber ist.«
»Wenn das so ist«, sagte Masters, »und da Sie, Doktor, derjenige sind, den ich vor allem sprechen möchte, komme ich Ihrer Aufforderung gerne nach.«
»Das klingt reichlich ominös. Wollen Sie mich etwa verhaften?«
»Haben Sie etwas zu gestehen?«
»Durchaus nicht. Nehmen Sie Platz, Leutnant.«
»Danke.«
»Wie wohlerzogen wir doch alle sind«, spöttelte Mae Walters.
»Halt den Mund«, sagte Stanley Walters ärgerlich. Sein Ton überraschte seine Frau dermaßen, daß sie augenblicklich schwieg. David Howell sagte: »Meine Frau nimmt an, daß Sie Larrys Schlüssel zur Hintertür gesucht haben, Leutnant. Wie ich sehe, haben Sie ihn gefunden.«
»Ganz recht, Mr. Howell.«
»Ich kann mir nicht vorstellen, wo«, sagte Nancy. »Neulich, als wir beide stundenlang danach gesucht haben, Leutnant, haben wir nichts gefunden.«
»Aber nur, weil wir nicht an der richtigen Stelle gesucht haben.«
»Wo war denn die richtige Stelle, falls diese Auskunft nicht unter das Geheimhaltegebot fällt?«
»Genau, wo ich sie vermutete«, sagte Masters nicht ohne Befriedigung. »Wissen Sie noch, daß mir, gerade als wir gehen wollten, etwas einfiel? Und zwar, als ich oben war, im Badezimmer? Als ich das Apothekenschränkchen über dem Waschbecken öffnete, entdeckte ich einen kleinen Schlitz im Schränkchen, der für gebrauchte Rasierklingen bestimmt ist. Da fiel mir ein, daß das ein ideales Versteck für einen Schlüssel wäre, der nicht gefunden werden sollte, und vorhin ging ich hinüber, um den Rasierklingenbehälter herauszuholen. Ich hatte recht. Mitten unter den alten Klingen fand ich den Schlüssel.«
»Das war ein sehr kluger Schluß, den Sie gezogen haben, Leutnant«, sagte Vera Richmond.
»Es war mehr als ein logischer Schluß, Mrs. Richmond. Der Schlitz ist sehr schmal, und eine sorgfältige Untersuchung ergab, daß kürzlich gewaltsam etwas hindurchgezwängt worden war.«
»Gute Arbeit, Leutnant«, lobte Jack Richmond. »Wie meine Frau schon sagte: Das war sehr klug von Ihnen.«
»Schade, daß man das nicht auch von unserem Mörder sagen kann«, entgegnete Masters heiter. »Er hat mehrere schwerwiegende Fehler begangen, und einer davon war der Versuch, diesen Schlüssel zu verstecken. Hätte er ihn einfach herumliegen lassen, hätte ich ihm vermutlich gar keine besondere Bedeutung beigemessen. Doch der Versuch, ihn verschwinden zu lassen, mußte unbedingt meine Aufmerksamkeit erregen. Nun wissen wir mit Bestimmtheit, daß er mit Hilfe des Schlüssels ins Haus gelangt ist.«
»Und dann die Tür unverschlossen ließ, als er sich davonmachte?« fragte Dr. Jack Richmond.
»Das mußte er. Er wollte, daß Lila Connors Leiche, so schnell wie mit dem Täuschungsversuch bezüglich des Todeszeitfaktors vereinbar, gefunden werden sollte. Er verließ sich darauf, daß irgend jemand unruhig werden und darauf bestehen würde, ins Haus einzudringen, und die unverschlossene Tür sollte das erleichtern. Übrigens bin ich der Ansicht, daß, wenn Mrs. Howell nicht auf Untersuchung des Hauses bestanden hätte, der Mörder selbst die Initiative ergriffen haben würde.«
»Mit anderen Worten: Der Mörder befindet sich hier in der Gegend.«
»Mehr noch, Doktor. Er befindet sich hier auf der Terrasse.«
Lähmende Stille. Dann sagte Jack Richmond: »Tja, dann… Was nun?«
»Ich habe keine Eile, Doktor«, sagte Masters gelassen. Nancy haßte ihn direkt. »Sie alle möchten doch sicher gern wissen, wie der Mörder vorgegangen ist.«
»Ich möchte wissen, wie Sie glauben, daß er vorgegangen ist«, fuhr Nancy ihn an. »Und das ist möglicherweise nicht dasselbe.«
»Wenn ich fertig bin, würde ich mich freuen, andere Theorien zu hören, Mrs. Howell«, nickte der kleine Kriminalbeamte. »Also, nehmen wir einmal an – nur um einen Ausgangspunkt zu haben – , nehmen wir einmal an, der Mörder wären Sie, Dr. Richmond.«
»Ich?« sagte Jack. »Na schön, meinetwegen.«
»Sie sahen in der – wie sich später herausstellte – Mordnacht Larry Connor das Haus verlassen. Sie müssen gehört haben, wie er draußen mit Mrs. Howell sprach, denn die folgenden Ereignisse beweisen, daß Sie genau wußten, wohin er wollte, und außerdem… Sagten Sie nicht, daß die Fenster Ihres Hauses in jener Nacht offenstanden? Zu dem Zeitpunkt hatten Sie sich vermutlich noch keinen Mordplan und kein Täuschungsmanöver zurechtgelegt; das kam erst später, als Sie ins Krankenhaus gerufen wurden und, dort angekommen, feststellen mußten, daß Sie eine lange Wartezeit vor sich hatten. Diese Tatsache verschaffte Ihnen die Gelegenheit zum Mord; alles andere war Gedankenarbeit.«
»Das hört sich ja an, als wäre ich ein richtiggehendes Ungeheuer«, sagte Jack.
Masters lächelte. »Es war nicht schwer für Sie, ein leeres Zimmer zum >Ausruhen< zu bekommen. Die Lage dieses Zimmers erleichterte es Ihnen, ungesehen zu gehen und wieder zu kommen. Darin lag natürlich ein gewisses Risiko, doch wenn Sie zurück waren, bevor man Sie zu Ihrer Patientin rief, befanden Sie sich in Sicherheit, und die Patientin hatten Sie selbst untersucht und konnten den Zeitpunkt, zu dem man Sie rufen würde, mit ziemlicher Präzision bestimmen. Sie schätzten, daß Sie etwas über eine Stunde Zeit hatten. Sie schlichen sich aus dem Haus und fuhren zu Larry Connors Büro.
Die Aufregungen hatten ihn ziemlich mitgenommen, und Sie waren Arzt und außerdem sein >Freund<. Sie überredeten ihn, ein Beruhigungsmittel zu nehmen und bereiteten es selbst zu. Nur war es kein Beruhigungsmittel. Entgegen allem, was man von einem Arzt erwarten würde, gaben Sie ihm einen hochdosierten Mickey Finn, damit man Ihnen nicht so schnell auf die Spur kam. Dann arrangierten Sie alles so, daß es wie Selbstmord aussah, erledigten außerdem noch dreierlei und fuhren schleunigst zum Krankenhaus zurück, damit man Sie dort nicht vermißte.
Die drei Dinge, die Sie außerdem erledigten, waren der Kern Ihres ganzen Planes. Lila Connor, und nicht ihrem Ehemann, galt dieser Plan. Darum mußte es so aussehen, als sei Larry nach Lila gestorben, und zwar trotz der Tatsache, daß Lila zu dem Zeitpunkt noch lebte. Der erste Teil Ihres Täuschungsmanövers bestand darin, die Klimaanlage in Larrys Büro so weit aufzudrehen, wie es ging, um den Zerfall des Körpers zu verlangsamen; das bedeutete natürlich, daß Sie früh am Sonntagmorgen, bevor Larrys Leiche entdeckt werden konnte, wieder ins Büro zurückkehren und die Klimaanlage abschalten mußten, um so den Anschein zu erwecken, sie sei nie angewesen; sonst hätte man nämlich beim Bestimmen der Todeszeit den Kaltluftfaktor mit in Betracht gezogen, und Ihre ganze Mühe wäre umsonst gewesen. Zweitens mußte die Waffe, durch die Lila sterben sollte, seine Fingerabdrücke tragen. Das war einfach: Sie nahmen den metallenen Brieföffner von seinem Schreibtisch, preßten die Finger seiner rechten Hand um den Griff, packten den Brieföffner vorsichtig ein, um die Abdrücke nicht zu verwischen, und trugen ihn in Ihrer Instrumententasche mit hinaus. Drittens nahmen Sie den Schlüssel zur Hintertür aus Connors Schlüsseletui, um sich damit Einlaß in das Connorsche Haus zu verschaffen, nachdem Sie Ihre Patientin im Krankenhaus versorgt hatten und nach Hause fahren konnten.«
»Eine großartige Rekonstruktion, Leutnant«, sagte Dr. Richmond. »Lesen Sie viel Kriminalromane? Das Leben selber verlangt allerdings Beweise.«
»Das lassen Sie nur meine Sorge sein, Doktor«, sagte Masters lächelnd. »Und überdies ist es wirklich nicht nur reine Theorie. Ich kann zum Beispiel beweisen, daß die Klimaanlage in Larry Connors Büro angeschaltet und dann später abgeschaltet war. Der Nachtwächter hat die Anlage laufen hören, als er seine zweite Runde machte, und er wird das auch beschwören. Ich dagegen kann bezeugen, daß die Klimaanlage abgestellt war, als ich Connors Leiche fand. Der Hausbesitzer kann das bestätigen; er war dabei. Ergo: Der Mörder muß ins Büro zurückgekehrt sein, genau wie ich sagte.
Was nun die Waffe betrifft: Connor war ausschließlich Linkshänder, und allein diese Tatsache spricht ihn schon vom Verdacht des Mordes an seiner Frau frei. Der Mörder beging einen schweren Fehler, als er diese Tatsache beim Unterschieben von Connors Fingerabdrücken auf dem Brieföffner nicht in Betracht zog – selbst wenn man ihm die Nervenanspannung, die Eile, und so fort, zugute hält. Trotzdem – der Brieföffner stammt von Connors Büroschreibtisch; seine Sekretärin wird ihn identifizieren. Offensichtlich nahm also nicht Connor, sondern jemand anders den Brieföffner aus dem Büro mit ins Connorsche Haus, und da wir ihn als Mordwaffe in Lila Connors Brust fanden, ist es wohl ebenso offensichtlich, daß der Mörder ihn eben zu diesem Zweck mitgenommen hat.«
Jack Richmond betrachtete nachdenklich seine leere Bierdose. Dann sah er auf. »Donnerwetter, Leutnant, Sie haben da eine großartige Theorie aufgestellt. Doch leider deutet nichts darin speziell auf mich. Sie haben nicht einen direkten Beweis dafür, daß ich mit dem einen oder dem anderen Mord etwas zu tun habe. Alles, was Sie haben, sind Indizien.«
»Viele Verbrecher«, entgegnete Masters trocken, »sind schon mit dem Kopf in der Schlinge oder an einem ähnlich unerfreulichen Ort gelandet, nur weil Indizien gegen sie sprachen. Außerdem wäre da noch das Motiv.«
Jack Richmond wurde unruhig, und Masters schwieg. Er schwieg so lange, daß es den anderen schien, als folgten seine Gedanken urplötzlich einer ganz neuen Richtung.
»Möchten Sie, daß ich das Motiv näher erläutere, Dr. Richmond?« sagte er endlich.
»Sie sind wahrhaftig nicht untätig gewesen, Leutnant«, murmelte Jack. Er lachte rauh. »Na schön, ich war dumm genug, mich mit Lila einzulassen. Es war schon lange vor ihrem Tod vorbei. Erwarten Sie jetzt nicht, daß ich Ihnen Einzelheiten auftische; die kennen Sie vermutlich ebenso gut wie ich.«
»Ich hab’ so einiges erfahren«, nickte Masters. »Hören Sie, Doktor, wenn Sie dies lieber nicht in Gegenwart Ihrer Frau verhandeln wollen…«
»Lassen Sie sich durch meine Frau nicht stören, Leutnant. Sie weiß seit langem von mir und Lila, und zwar – und ich schätze mich glücklich, das sagen zu können – , weil ich es ihr erzählt habe, und nicht, weil sie uns erwischt hat. Warum also sollte ich Lila getötet haben? Wo bleibt da Ihr Motiv?«
Masters kniff die Augen zusammen. Er wandte sich an Vera Richmond. »Entspricht das der Wahrheit, Mrs. Richmond? Und bitte, sagen Sie nicht, daß es stimmt, wenn Ihr Mann gelogen hat. Das würde weder ihm noch Ihnen nützen, und könnte überdies, falls Sie es offiziell wiederholen, üble Folgen für Sie haben.«
»Jack hat es mir von sich aus erzählt«, sagte Vera unerschüttert. »Und ich beschloß, daran unsere Ehe nicht zerbrechen zu lassen, und zwar aus zwei Gründen: einmal, weil ich ihn liebe, und zweitens, weil ich weiß, daß er mich liebt – trotz gelegentlicher Seitensprünge. Ich fand es albern, wegen einer Schlampe, die ihm überhaupt nichts bedeutete, eine Ehe kaputtgehen zu lassen.«
»Dann sind Sie eine bemerkenswerte Frau, Mrs. Richmond. War es nicht schwer für Sie, Tür an Tür mit einer Frau zu wohnen, mit der Ihr Mann eingestandenermaßen geschlafen hat?«
Vera errötete, doch ihre Stimme blieb ruhig. »Ja, Leutnant, es war schwer. Besonders weil wir, um den Schein zu wahren, mit den Connors gesellschaftlich verkehren mußten. Aber was sollte ich tun? Auf und davon gehen? Jack drängen, umzuziehen? Das hätte Lila nur eine Genugtuung verschafft, die sie nicht verdiente. Und schließlich, wie man’s auch nimmt: ich hatte gewonnen, und sie verloren.«
»Eine überaus erfrischende Einstellung«, entgegnete Masters. »Aber mir klingt das ein bißchen zu übermenschlich. Ich bin noch immer der Ansicht, daß die Affäre mit Lila Connor Ihrem Mann das Mordmotiv lieferte.«
»Aber wieso?« fragte Vera. Es klang wie ein Protestschrei. »Er war doch fertig mit ihr. Ich wußte von allem…«
»War denn überhaupt je ein Mann ganz fertig mit Lila Connor«, fragte Masters absichtlich brutal, »ehe sie nicht mit ihm fertig war?«
Sein Ton, seine Worte schienen Lila auf einmal heraufzubeschwören; ihre Gegenwart war fast spürbar. Jack Richmond, der im Schatten saß, seufzte.
»Sie haben«, sagte er, »Lila anscheinend sehr gründlich studiert.«
»Jawohl, das habe ich, Doktor. Am Abend Ihrer Party machte Larry Connor, wie mir berichtet wurde, ein paar harte und überraschende Bemerkungen über seine Frau. Sie können doch nicht erwarten, daß ich so etwas ignoriere! Ich ließ sie nachprüfen, und sie stimmten. Lila hatte vor ihrer Ehe mit Connor in rascher Folge drei Ehemänner gehabt, und allen dreien hatte sie das Leben schwergemacht, wie auch Larry Connor. Sie scheint Männer gehaßt zu haben. Offensichtlich machte es ihr Spaß, Männer in sich verliebt zu machen, und sie dann unverhofft wieder fallen zu lassen. Das einzige, was sie nicht ertrug, war, selbst fallengelassen zu werden. Dann wurde sie wirklich gefährlich. Womit hat sie Ihnen denn gedroht, als Sie sich von ihr abkehrten, Doktor? Mit Skandal? Beruflichem Ruin? Was verlangte sie von Ihnen? Geld? Scheidung und Ehe mit ihr?«
»Ich hatte nicht genug Geld, um ihren Ansprüchen zu genügen, und ich hätte eher ein Ungeheuer geheiratet als Lila.«
»Dann geben Sie also zu, daß sie Ihnen gedroht hat!«
»Gar nichts gebe ich zu. Und was meinen Ruf und meine berufliche Karriere betrifft, so hätte ich, so wichtig sie mir auch sein mögen, doch keinen Mord begehen können, nur weil sie gefährdet waren.«
»Wirklich nicht? Haben Sie ihn denn nicht begangen?«
»Ich hätte ihn nicht begehen können, und ich habe ihn nicht begangen. Sie können mir nichts anhängen, Leutnant, geben Sie’s doch zu. Sie argumentieren auf Grund von Dingen, die ich hätte tun können, nicht denen, die ich getan habe. Und ich wiederhole nochmals: Die zwei Stunden im Krankenhaus habe ich in jenem leeren Zimmer verbracht. Ich habe geschlafen, und versuchen Sie, mir das Gegenteil zu beweisen.«
»Das werde ich. Und ich glaube auch, daß ich es kann.«
»Soll das heißen, daß Sie mich verhaften?«
»Verhaften?« Masters schien zu überlegen. »Nein, Dr. Richmond. Noch nicht.«
»Das habe ich mir gedacht.« Jack lachte und erhob sich unvermittelt. »Sie müssen mich jetzt entschuldigen. Dies alles hat midi ein wenig angestrengt.«
Ohne ein weiteres Wort machte er kehrt und ging ins Haus. Vera folgte ihm eilig; sie machte ein besorgtes Gesicht. Masters blieb noch eine Weile sitzen, dann schlug er sich auf den Schenkel und sagte: »Tut mir leid. Verdammt, es tut mir wirklich leid.« Doch ob das nun auf die beiden Richmonds gemünzt war, oder auf seine eigene Lage, war nicht herauszuhören. Er sprang auf und ging. Nach diesen plötzlichen Abgängen blieben die Walters und die Howells hilflos und einsam auf der Richmondschen Terrasse sitzen.
»Ich wußte es ja«, sagte Mae. »Ich habe von Anfang an gewußt, daß Lila ‘ne Schlampe war.«
»Halt den Mund, Mae«, sagte Stanley.
»Mit der mußte es ja ein schlimmes Ende nehmen.«
»Halt den Mund, Mae«, sagte Stanley.
»Ja, Mae«, sagte Nancy. »Bitte, sei still.«
»Komm, Stanley«, sagte Mae. »Es ist wohl besser, wir gehen nach Hause.«
Stanley erhob sich ohne Hast und ging mit Mae auf das Seitengäßchen zu. Mae nahm seinen Arm.
»Armer Stanley«, murmelte Nancy. »Dabei ist er so naiv.«
»Mae ist unmöglich. Ich möchte lieber nicht über sie sprechen.«
»Da ist Vera anders. Vera ist großartig. Ich frage mich nur, was ich getan hätte, wenn ich dich bei einem Seitensprung erwischt hätte.«
»Genau dasselbe, was ich getan habe, als ich dich und Stanley im Gäßchen erwischte«, sagte David. »Den Mund gehalten.«
»Aber ich habe doch nur Spaß gemacht, David. Das weißt du genau!«
»So? Na, dann Schwamm drüber. Ich bin total erledigt, mein Herz, und ich sehne mich nach meinem gemütlichen Heim und ein paar schönen Drinks.«
Und so gingen die Howells hinüber in ihr gemütliches Heim und machten sich ein paar schöne Drinks, und so weiter, und hielten sich schließlich eng umschlungen und vergaßen alles, was sie an diesem Abend gehört hatten von Tod, Zerfall und Ehebruch.