Ser Cortnay Fünfrosen trug keine Rüstung. Er saß auf einem fuchsroten Hengst, sein Bannerträger auf einem Apfelschimmel. Der gekrönte Hirsch der Baratheons und die gekreuzten Federkiele von Fünfrosen wehten im Wind, weiß in rotbraunem Feld. Ser Cortnays spitzzulaufender Bart war ebenfalls rotbraun, und auf dem Kopf war der Mann vollkommen kahl. Falls ihn die Pracht der königlichen Gesellschaft beeindruckte, offenbarte sich davon nichts auf seinem Gesicht.
Unter lautem Rasseln und Scheppern der Rüstungen trabten sie heran. Sogar Davos trug ein Kettenhemd, wenngleich er nicht recht wusste, wieso; Schultern und Rücken schmerzten ihn von dem ungewohnten Gewicht. Er fühlte sich beengt und kam sich lächerlich vor, und abermals fragte er sich, weshalb er überhaupt hier war. Doch es steht mir nicht an, die Befehle des Königs in Zweifel zu ziehen …
Jeder Mann dieser Gesellschaft nahm von Geburt an einen höheren Rang als Davos Seewert ein, und die großen Lords glitzerten in der Morgensonne. Versilberter Stahl und goldene Intarsien verzierten ihre Rüstungen, und ihre Helme waren mit Seide, Federbüschen und geschickt geschmiedeten Wappentieren mit Augen aus Edelsteinen geschmückt. Stannis selbst wirkte in dieser reichen und königlichen Begleitung fehl am Platze. Wie Davos trug der König ein einfaches Gewand aus Wolle und gehärtetem Leder, obwohl der Ring aus Rotgold über seiner Stirn ihm eine gewisse Erhabenheit verlieh. Das Sonnenlicht blitzte auf den flammenförmigen Zacken, wenn er den Kopf bewegte.
So nah war Davos Seiner Gnaden seit acht Tagen nicht mehr gekommen, seit die Schwarze Betha sich zum Rest der Flotte vor Sturmkap gesellt hatte. Noch in der Stunde seiner Ankunft hatte er um eine Audienz ersucht, war jedoch mit der Begründung abgewiesen worden, der König sei beschäftigt. Der König war häufig beschäftigt, erfuhr Davos von seinem Sohn Devan, einem der königlichen Knappen. Jetzt, da Stannis Baratheon zu so großer Macht aufgestiegen war, umschwirrten ihn die Lords wie Fliegen eine Leiche. Und er sieht auch halb wie eine Leiche aus, Jahre älter als an dem Tag, da ich Drachenstein verlassen habe. Devan erzählte, der König schlafe wenig in letzter Zeit. »Seit Lord Renly tot ist, wird er von schrecklichen Albträumen geplagt«, hatte der Junge seinem Vater anvertraut. »Die Tränke der Maester helfen nicht dagegen. Nur die Lady Melisandre kann ihm Schlaf bringen.«
Teilt sie deshalb den Pavillon mit ihm?, wunderte sich Davos. Um mit ihm zu beten? Oder kennt sie eine andere Methode, ihm in den Schlaf zu helfen? Es war eine unwürdige Frage, und er wagte es nicht, sie zu stellen, nicht einmal seinem eigenen Sohn. Devan war ein guter Junge, doch er trug das flammende Herz stolz auf seinem Wams, und sein Vater hatte ihn bei den Lagerfeuern in der Abenddämmerung gesehen, wenn er zum Herrn des Lichts betete, dass er die Morgendämmerung bringen möge. Er ist des Königs Knappe, sagte er sich, deshalb sollte er wohl auch den Gott des Königs annehmen.
Davos hatte fast vergessen, wie hoch und dick die Mauern von Sturmkap waren, die kurz vor ihnen aufragten. König Stannis hielt davor an, nur wenige Meter von Ser Cortnay und seinem Bannerträger entfernt. »Ser«, sagte er höflich, wenngleich steif. Er machte keine Anstalten abzusteigen.
»Mylord.« Das war weniger höflich, allerdings durchaus nicht unerwartet.
»Es ziemt sich, einen König mit Euer Gnaden anzureden«, wies ihn Lord Florent zurecht. Ein rotgoldener Fuchs auf seinem Brustharnisch spähte durch einen Kreis aus Lapislazuliblumen. Sehr groß, sehr vornehm und sehr reich, war der Lord von Burg Klarwasser der Erste gewesen, der sich nach Renlys Tod Stannis angeschlossen, der Erste, der den alten Göttern abgeschworen hatte und stattdessen den Herrn des Lichts verehrte. Stannis hatte seine Königin auf Drachenstein bei ihrem Onkel Axell zurückgelassen, doch die Männer der Königin waren nun zahlreicher und mächtiger denn je, und Alester Florent marschierte ihnen voran.
Ser Cortnay Fünfrosen ignorierte ihn und wandte sich lieber an Stannis. »Eine bemerkenswerte Gesellschaft habt Ihr da versammelt. Die großen Lords Estermont, Errol und Varner. Ser Jon von den Grünapfel-Fossoweys und Ser Bryan von den Rotäpfeln. Lord Caron und Ser Guyard aus König Renlys Regenbogengarde … und den mächtigen Lord Alester von Klarwasser. Ist das Euer Zwiebelritter, den ich dort hinten erblicke? Seid gegrüßt, Ser Davos. Ich fürchte, nur die Dame kenne ich nicht.«
»Man nennt mich Melisandre, Ser.« Sie allein trug keine Rüstung, sondern ihre wallende rote Robe. An ihrem Hals sog der große Rubin das Tageslicht in sich auf. »Ich diene Eurem König und dem Herrn des Lichts.«
»Ich wünsche Euch alles Gute dabei, Mylady«, antwortete Ser Cortnay, »aber ich verneige mich vor anderen Göttern und einem anderen König.«
»Es gibt nur einen wahren König und einen wahren Gott«, verkündete Lord Florent.
»Sind wir hier, um über Religion zu streiten, Mylord? Hätte ich das geahnt, hätte ich einen Septon mitgebracht.«
»Ihr wisst sehr wohl, aus welchem Grund wir hier sind«, erwiderte Stannis. »Ihr habt zwei Wochen Zeit gehabt, um mein Angebot zu überdenken. Ihr habt Raben ausgesandt. Niemand ist Euch zu Hilfe gekommen. Und das wird auch niemand tun. Sturmkap steht allein, und meine Geduld ist zu Ende. Ein letztes Mal befehle ich Euch, Ser, die Tore zu öffnen und mir auszuhändigen, was dem Rechte nach mir gehört.«
»Und zu welchen Bedingungen?«, fragte Ser Cortnay.
»Sie bleiben wie zuvor«, antwortete Stannis. »Ich werde Euch für den begangenen Hochverrat begnadigen, wie ich ebenso die Lords in meinem Gefolge begnadigt habe. Die Männer Eurer Festung dürfen wählen, ob sie in meine Dienste treten oder unbehindert nach Hause zurückkehren. Ihr dürft Eure Waffen behalten, und jeder Mann darf so viel von seinen Besitztümern mitnehmen, wie er tragen kann. Eure Pferde und Packtiere werde ich allerdings für mich beanspruchen müssen.«
»Und was wird aus Edric Sturm?«
»Der Bastard meines Bruders muss mir ausgeliefert werden. «
»Dann lautet die Antwort weiterhin nein, Mylord.«
Der König biss die Zähne zusammen. Er sagte nichts.
Stattdessen ergriff Melisandre das Wort. »Möge der Herr des Lichts Euch in Eurer Dunkelheit beschützen, Ser Cortnay. «
»Mögen sich die Anderen mit Eurem Herrn des Lichts vergnügen«, fauchte Fünfrosen zurück, »und sich den Hintern mit dem Lumpen abwischen, den Ihr tragt.«
Lord Alester Florent räusperte sich. »Ser Cortnay, hütet Eure Zunge. Seine Gnaden beabsichtigt nicht, dem Jungen ein Leid zuzufügen. Das Kind ist von seinem eigenen Blut, und ebenso von meinem. Meine Nichte Delena war die Mutter, wie ein jeder weiß. Falls Ihr dem König nicht vertraut, so vertraut wenigstens mir. Ihr kennt mich als Mann der Ehre …«
»Ich kenne Euch als Mann des Ehrgeizes«, unterbrach ihn Ser Cortnay. »Als Mann, der Könige und Götter wechselt wie ich meine Stiefel. Und für die anderen Abtrünnigen hier vor mir gilt das Gleiche.«
Ein zorniges Gemurmel erhob sich unter den Männern des Königs. Er ist nicht weit von der Wahrheit entfernt, dachte Davos. Noch vor kurzem hatten sie alle miteinander Renly angehangen, die Fossoweys, Guyard Morrigen und die Lords Caron, Varner, Errol und Estermont. Sie hatten in seinem Pavillon gesessen, mit ihm seinen Schlachtplan geschmiedet und sich überlegt, auf welche Weise man Stannis am besten niederwerfen könnte. Und Lord Florent war bei ihnen gewesen – mochte er auch der Onkel von Königin Selyse sein, so hatte dies den Lord von Klarwasser doch nicht davon abgehalten, das Knie vor Renly zu beugen, als dessen Stern noch im Aufgehen begriffen war.
Bryk Caron ließ sein Pferd ein paar Schritte vortreten. Sein langer Regenbogenumhang flatterte im Seewind. »Keiner hier ist ein Abtrünniger, Ser. Meine Treue gehört Sturmkap, und König Stannis ist dessen rechtmäßiger Herr … und unser wahrer König. Er ist der Letzte aus dem Hause Baratheon, Roberts und Renlys Erbe.«
»Wenn das so wäre, warum befindet sich der Ritter der Blumen dann nicht unter Euch? Und wo ist Mathis Esch? Randyll Tarly? Lady Eichenherz? Warum sind sie nicht bei Euch, jene, die Renly am meisten liebten? Wo ist Brienne von Tarth, frage ich Euch?«
»Die?« Ser Guyard Morrigen lachte rau. »Die ist davongelaufen. Was nicht anders zu erwarten war. Ihre Hand hat schließlich das Schwert geführt, mit dem der König erschlagen wurde.«
»Eine Lüge«, entgegnete Ser Cortnay. »Ich habe Brienne bereits als Kind gekannt, während sie noch bei ihrem Vater in Dämmerhall lebte, und viel besser habe ich sie kennengelernt, als der Abendstern sie hier nach Sturmkap schickte. Sie hat Renly Baratheon geliebt, seit sie ihn das erste Mal gesehen hatte, das hätte ein Blinder sehen können.«
»Gewiss«, erklärte Lord Florent leichthin, »und sie wäre kaum die erste Jungfer, deren Liebe sich in Wahnsinn verkehrte und die den Mann ermordete, der sie verschmäht hat. Obwohl ich für meinen Teil glaube, dass Lady Stark den Mord begangen hat. Sie war den ganzen Weg von Schnellwasser hierhergereist, um ein Bündnis zu erbitten, und Renly hat sie abgewiesen. Von da an hat sie ihn ohne Zweifel als Gefahr für ihren Sohn betrachtet, und deshalb hat sie ihn beseitigt. «
»Es war Brienne«, beharrte Lord Caron. »Ser Emmon Cuy hat es geschworen, ehe er starb. Darauf gebe ich Euch meinen Eid, Ser Cortnay.«
Verachtung schwang in Ser Cortnays Stimme mit. »Was soll der schon wert sein? Ihr tragt Euren Mantel mit den vielen Farben, sehe ich. Den Renly Euch gab, als Ihr ihm den Eid geleistet habt, ihn zu beschützen. Wenn er tot ist, wieso dann nicht auch Ihr?« Er wandte sich in seinem Hohn Guyard Morrigen zu. »Und Euch möchte ich das Gleiche fragen, Ser. Guyard der Grüne, nicht wahr? Von der Regenbogengarde? Unter Eid, sein Leben für seinen König zu geben? Wenn ich einen solchen Mantel besäße, würde ich mich schämen, ihn zu tragen.«
Morrigen fuhr auf. »Seid froh, dass dies eine Unterhandlung ist, Fünfrosen, sonst würde ich Euch die Zunge herausschneiden. «
»Und sie in das gleiche Feuer werfen, dem Ihr Eure Männlichkeit geopfert habt?«
»Genug!«, schrie Stannis. »Der Herr des Lichts wollte, dass mein Bruder für seinen Verrat starb. Wer die Tat begangen hat, spielt keine Rolle.«
»Für Euch vielleicht nicht«, erwiderte Ser Cortnay. »Ich habe mir Euren Vorschlag angehört, Lord Stannis. Jetzt hört meinen an.« Er zog seinen Handschuh aus und schleuderte ihn dem König mit voller Wucht ins Gesicht. »Ein Kampf Mann gegen Mann. Schwert, Lanze oder jede andere Waffe, die Ihr wählen wollt. Falls Ihr Euch scheut, Euer magisches Schwert und Eure königliche Haut gegen einen alten Mann aufs Spiel zu setzen, benennt einen Recken, der an Eurer Stelle kämpft, und ich werde das Gleiche tun.« Er blickte Guyard Morrigen und Bryk Caron von oben herab an. »Jeder von diesen Jüngelchen müsste geeignet sein, denke ich.«
Ser Guyard Morrigen wurde dunkelrot vor Zorn. »Ich würde die Herausforderung gern annehmen, wenn es dem König gefällt.«
»Und ich ebenso.« Bryk Caron sah Stannis an.
Der König knirschte mit den Zähnen. »Nein.«
Ser Cortnay schien nicht überrascht zu sein. »Ist es die Gerechtigkeit Eurer Sache, die Ihr anzweifelt, Mylord, oder die Stärke Eures Arms? Fürchtet Ihr Euch davor, dass ich auf Euer brennendes Schwert pisse und es zum Erlöschen bringe? «
»Haltet Ihr mich für einen vollkommenen Narr, Ser?«, fragte Stannis. »Ich habe zwanzigtausend Mann. Ihr werdet zu Lande und zur See belagert. Warum sollte ich mich auf ein Duell mit Euch einlassen, wo der Sieg doch am Ende mein sein wird?« Er richtete den Zeigefinger auf Cortnay. »Ich gebe Euch eine wohl gemeinte Warnung. Falls Ihr mich zwingt, meine eigene Burg zu stürmen, dürft Ihr keine Gnade erwarten. Ich werde Euch als Verräter hängen lassen, Euch und jeden, der bei Euch ist.«
»Wenn die Götter es so wollen. Beginnt Euren Sturm auf die Festung, Mylord – und vergesst, während Ihr es tut, den Namen der Burg nicht.« Sturmkap. Wo den Stürmen die Spitze genommen wird. Ser Cortnay wendete sein Pferd und ritt zurück zum Tor.
Stannis sagte kein Wort, wendete sein Tier jedoch ebenfalls und machte sich auf den Rückweg ins Lager. Die anderen folgten ihm. »Wenn wir diese Mauern erstürmen, werden Tausende sterben«, sorgte sich der alte Lord Estermont, des Königs Großvater mütterlicherseits. »Besser wäre es, ein einzelnes Leben zu gefährden. Unsere Sache ist gerecht, daher müssten die Götter unseren Recken segnen und ihm den Sieg schenken.«
Der Gott, alter Mann, dachte Davos. Vergesst nicht, wir haben nur noch einen, Melisandres Herrn des Lichts.
Ser Jon Fossowey sagte: »Ich würde diese Herausforderung liebend gern persönlich annehmen, obwohl ich nicht halb so gut fechten kann wie Lord Caron oder Ser Guyard. Renly hat keine nennenswerten Ritter auf Sturmkap zurückgelassen. Die Burgwache ist etwas für alte Männer und grüne Jungen.«
Lord Caron stimmte zu. »Ein leichter Sieg, ganz gewiss. Und welch Ruhm gewänne der, der Sturmkap mit einem einzigen Streich einnimmt!«
Stannis brachte sie mit einem Blick zum Schweigen. »Ihr schwatzt wie die Elstern, aber mit weniger Verstand. Ich wünsche Ruhe.« Der König wandte sich Davos zu. »Ser. Reitet mit mir.« Er spornte sein Pferd an und ritt den anderen voraus. Nur Melisandre hielt Schritt und trug das große Banner mit dem flammenden Herzen und dem gekrönten Hirsch, der darin eingeschlossen war. Als wäre er ganz davon verschlungen worden.
Davos bemerkte die Blicke, die die Lords untereinander wechselten, während er an ihnen vorbeiritt und sich zum König gesellte. Sie waren keine Zwiebelritter, sondern stolze Männer aus Häusern mit alten, ehrwürdigen Namen. Irgendwie wusste er, dass Renly sie niemals auf diese Art und Weise gescholten hatte. Der jüngste Baratheon war mit einer Gabe für leutselige Höflichkeit geboren worden, die seinem Bruder traurigerweise fehlte.
Als er den König eingeholt hatte, ließ er sein Pferd in langsamen Trab fallen. »Euer Gnaden.« Aus der Nähe betrachtet sah Stannis noch schlechter aus. Sein Gesicht war hager, und unter den Augen zeichneten sich dunkle Ränder ab.
»Ein Schmuggler muss die Menschen gut einschätzen können«, sagte der König. »Was haltet Ihr von diesem Ser Cortnay Fünfrosen?«
»Ein starrköpfiger Mann«, antwortete Davos vorsichtig.
»Ich würde ihn eher lebensmüde nennen. Er wirft mir seine Begnadigung ins Gesicht. Ja, und dabei verwirkt er sein Leben und das Leben der Männer im Inneren dieser Mauern. Ein Duell?« Der König schnaubte verächtlich. »Ohne Zweifel hat er mich mit Robert verwechselt.«
»Vermutlich war er eher verzweifelt. Welche andere Hoffnung konnte er denn noch hegen?«
»Keine. Die Burg wird fallen. Nur, wie können wir das beschleunigen? « Stannis brütete einen Moment lang vor sich hin. Unter dem steten Hufschlag meinte Davos zu hören, wie der König mit den Zähnen knirschte. »Lord Alester drängt mich, den alten Lord Fünfrosen hierherzubringen. Ser Cortnays Vater. Ihr kennt ihn.«
»Als Euren Gesandten hat mich Lord Fünfrosen höflicher empfangen als die meisten anderen«, sagte Davos. »Er ist ein alter Mann, Euer Gnaden, kränklich und gebrechlich.«
»Florent würde ihn noch kränker und gebrechlicher machen vor seines Sohnes Augen, mit einer Schlinge um den Hals.«
Es war gefährlich, sich gegen einen Mann der Königin zu stellen, doch Davos hatte geschworen, dem König stets die Wahrheit zu sagen. »Ich glaube, das wäre ein schlimmer Fehler, mein Lehnsherr. Ser Cortnay würde eher seinem Vater beim Sterben zusehen, als seinen Treueid brechen. Es würde uns nichts einbringen und unsere Sache nur mit Schande beflecken.«
»Was für Schande?«, fuhr Stannis auf. »Soll ich vielleicht das Leben von Verrätern verschonen?«
»Das Leben jener hinter uns habt Ihr auch verschont.«
»Wollt Ihr mich dafür schelten, Schmuggler?«
»Das steht mir nicht zu.« Davos fürchtete, zu viel gesagt zu haben.
Der König hakte unerbittlich nach. »Ihr schätzt diesen Fünfrosen höher ein als meine Vasallen. Warum?«
»Er hat die Treue gehalten.«
»Fehlgeleitete Treue für einen toten Usurpator.«
»Ja«, räumte Davos ein, »aber immerhin ist er treu geblieben. «
»Und die hinter uns nicht?«
Davos hatte sich zu weit vorgewagt, um nun einen Rückzieher zu machen. »Letztes Jahr waren sie noch Roberts Männer. Vor einem Monat gehörten sie zu Renly. Heute Morgen sind sie die Euren. Wessen werden sie morgen sein?«
Und Stannis lachte. Es war ein plötzlicher Ausbruch, rau und voller Hohn. »Ich habe es Euch gesagt, Melisandre«, wandte er sich an die Rote Frau, »mein Zwiebelritter spricht die Wahrheit zu mir.«
»Ihr kennt ihn gut, das sehe ich, Euer Gnaden«, antwortete die Rote Priesterin.
»Davos, ich habe Euch sehr vermisst«, sagte der König. »So, da habe ich mir also einen Rattenschwanz von Verrätern aufgehalst, denn Eure Nase trügt Euch nicht. Meine Gefolgsleute sind sich nicht einmal in ihrem Verrat treu. Ich brauche sie, aber Ihr sollt wissen, wie sehr es mich schmerzt, sie begnadigt zu haben, während ich bessere Männer für leichtere Vergehen bestraft habe. Ihr hättet alles Recht der Welt, mir Vorwürfe zu machen, Ser Davos.«
»Ihr macht Euch selbst schwerere Vorwürfe, als ich es jemals könnte, Euer Gnaden. Ihr braucht diese großen Lords, um Euren Thron zu erobern …«
»Mit Fingern und allem drum und dran.« Stannis lächelte grimmig.
Ohne nachzudenken hob Davos die verstümmelte Hand an den Beutel um seinen Hals und fühlte die Fingerknochen darin. Glück.
Der König bemerkte die Bewegung. »Tragt Ihr sie noch immer bei Euch, Zwiebelritter? Ihr habt sie nicht verloren?«
»Nein.«
»Warum behaltet Ihr sie? Das habe ich mich schon oft gefragt. «
»Sie erinnern mich an das, was ich einmal war. Woher ich komme. Sie erinnern mich an Eure Gerechtigkeit, mein Lehnsherr.«
»Es war Gerechtigkeit«, sagte Stannis. »Eine gute Tat gleicht die schlechte nicht aus, und eine schlechte Tat nicht die gute. Jede hat ihre eigene Belohnung verdient. Ihr wart ein Held und ein Schmuggler.« Er blickte sich nach Lord Florent und den anderen um, den Regenbogenrittern und Abtrünnigen, die in einigem Abstand folgten. »Diese begnadigten Lords würden gut daran tun, darüber einmal nachzudenken. Gute und aufrichtige Männer werden für Joffrey kämpfen, weil sie ihn fälschlicherweise für den wahren König halten. Ein Nordmann mag das Gleiche über Robb Stark sagen. Aber diese Lords, die unter dem Banner meines Bruders zogen, wussten, dass er ein Usurpator war. Sie haben ihrem rechtmäßigen König den Rücken gekehrt, weil sie von Macht und Ruhm träumten, und ich habe mir genau gemerkt, was für Männer sie sind. Begnadigt habe ich sie, ja. Ihnen vergeben. Aber nichts vergessen.« Er verfiel für einen Augenblick in Schweigen und brütete über seinen Plänen für Gerechtigkeit. Dann fragte er unvermittelt: »Was hält das gemeine Volk von Renlys Tod?«
»Es trauert. Euer Bruder war sehr beliebt.«
»Narren lieben den Narren«, knurrte Stannis, »aber auch ich trauere um ihn. Um den Jungen, der er war, nicht um den Mann, zu dem er wurde.« Einen Augenblick lang schwieg er, dann fügte er hinzu: »Wie hat das Volk die Nachricht von Cerseis Inzest aufgenommen?«
»Solange wir da waren, riefen sie nach König Stannis. Ich weiß allerdings nicht, was sie gesagt haben, nachdem wir abgefahren sind.«
»Ihr denkt also, sie könnten es nicht geglaubt haben?«
»In meiner Zeit als Schmuggler habe ich gelernt, dass manche Menschen alles glauben und andere gar nichts. Wir haben beide Sorten getroffen. Und es wird noch eine andere Geschichte erzählt …«
»Ja«, schnappte Stannis. »Selyse habe mir Hörner aufgesetzt und Narrenglöckchen an den Spitzen festgebunden. Meine Tochter soll von einem schwachsinnigen Narren gezeugt sein! Eine Geschichte, die ebenso abscheulich wie absurd ist. Renly hat sie mir ins Gesicht geschleudert, als wir uns zur Verhandlung trafen. Man müsste genauso verrückt sein wie Flickenfratz, um diese Geschichte zu glauben.«
»Das mag sein, mein Lehnsherr … aber ob sie das Gerücht nun für bare Münze nehmen oder nicht, sie erzählen es mit großer Freude weiter.« An vielen Orten war es sogar bereits vor ihm eingetroffen und hatte den Brunnen für die eigentlich wahre Geschichte vergiftet.
»Robert konnte in einen Kelch pissen, und die Menschen haben es Wein genannt, aber ich reiche ihnen klares kaltes Wasser, und sie blinzeln misstrauisch in den Becher und beschweren sich über den eigenartigen Geschmack.« Stannis knirschte mit den Zähnen. »Falls jemand behaupten würde, ich hätte mich in den Eber verwandelt, der Robert getötet hat, würden die Leute das vermutlich auch glauben.«
»Man kann ihrem Geschwätz nicht Einhalt gebieten, mein Lehnsherr«, sagte Davos, »doch wenn Ihr Rache an den wahren Mördern Eurer Brüder nehmt, wird das Reich die Wahrheit von den Lügen unterscheiden können.«
Stannis schien ihn nur halb zu hören. »Ohne Zweifel hatte Cersei bei Roberts Tod die Hand im Spiel. Ich werde Gerechtigkeit für ihn fordern. Und natürlich auch für Ned Stark und Jon Arryn.«
»Und für Renly?« Davos hatte die Frage ausgesprochen, ehe er sie sich recht überlegt hatte.
Lange Zeit erwiderte der König nichts. Dann sagte er sehr leise: »Davon träume ich manchmal. Von Renlys Tod. Ein grünes Zelt, Kerzen, eine schreiende Frau. Überall Blut.« Stannis sah auf seine Hände hinab. »Ich habe noch geschlafen, als er starb. Euer Devan kann das bezeugen. Er wollte mich wecken. Der Morgen hat bereits gedämmert, und meine Lords warteten voller Sorge. Ich hätte längst gerüstet im Sattel sitzen sollen. Renly würde bei Tagesanbruch angreifen. Devan sagt, ich habe um mich geschlagen und geschrien, aber was hat das schon zu bedeuten? Es war nur ein Traum. Ich war in meinem Zelt, als Renly starb, und als ich aufwachte, waren meine Hände rein.«
Ser Davos Seewert konnte die Phantom-Fingerspitzen spüren, die ihn juckten. Irgendetwas stimmt da nicht, ging es dem einstigen Schmuggler durch den Kopf. Dennoch nickte er. »Ich verstehe.«
»Renly hat mir einen Pfirsich angeboten. Bei unserer Unterredung. Er hat mich verspottet, sich mir widersetzt, mich bedroht und mir einen Pfirsich angeboten. Ich dachte, er würde eine Waffe ziehen, als er ihn hervorgeholt hat, und habe nach meiner gegriffen. War das Absicht, damit ich meine Furcht offenbare? Oder war es nur einer seiner belanglosen Scherze? Er sagte, der Pfirsich sei sehr süß. Hatten seine Worte eine verborgene Bedeutung?« Der König schüttelte den Kopf wie ein Hund, der einem Kaninchen das Genick brechen will. »Nur Renly konnte mich mit einem Stück Obst so rasend machen. Er hat sein Schicksal durch seinen Verrat selbst entschieden, und trotzdem habe ich ihn geliebt, Davos. Das weiß ich jetzt. Ich schwöre, ich werde bis an mein Lebensende über den Pfirsich meines Bruders nachdenken.«
Inzwischen hatten sie das Lager erreicht und ritten an den ordentlichen Reihen von Zelten, den wehenden Fahnen und den Stapeln von Schilden und Speeren vorbei. Der Gestank von Pferdemist hing in der Luft und vermischte sich mit Rauch und Kochgerüchen. Stannis zügelte sein Pferd kurz, entließ schroff Lord Florent und die anderen und befahl ihnen, sich in einer Stunde zum Kriegsrat in seinem Pavillon einzufinden. Sie neigten die Köpfe und verteilten sich, während Davos und Melisandre mit Stannis zum Pavillon des Königs ritten.
Die Größe des Zeltes war notwendig, denn hier versammelten sich die Vasallen zum Rat. Prächtig konnte man es allerdings nicht nennen. Es handelte sich um ein einfaches Soldatenzelt aus schwerer Leinwand, die in einem dunklen Gelb gefärbt war, welches man in bestimmtem Licht für Gold halten mochte. Allein das königliche Banner auf dem Pfosten in der Mitte zeichnete es als Stannis’ Sitz aus. Das und die Wachen davor; Männer der Königin, die auf langen Speeren lehnten und das Wappen des flammenden Herzens über dem eigenen auf der Brust trugen.
Stallburschen liefen herbei und halfen ihnen beim Absteigen. Eine der Wachen nahm Melisandre das Banner ab und stieß es tief in den weichen Boden. Devan stand auf der einen Seite der Tür, bereit, die Zeltklappe für den König zu öffnen. Ein älterer Knappe stand an seiner Seite. Stannis nahm die Krone ab und reichte sie Devan. »Kaltes Wasser, zwei Becher. Davos, gesellt Euch zu mir. Mylady, ich lasse Euch rufen, sollte ich Euch brauchen.«
»Wie der König befiehlt.« Melisandre verneigte sich.
Nach dem hellen Morgenlicht draußen war es im Innern des Pavillons kühl und dämmerig. Stannis setzte sich auf einen einfachen Feldstuhl und bot Davos mit einer Geste einen zweiten an. »Eines Tages werde ich Euch zum Lord machen, Schmuggler. Und sei es nur, um Celtigar oder Florent zu ärgern. Ihr werdet mir dafür allerdings nicht dankbar sein, denn dann müsst Ihr alle Ratsversammlungen über Euch ergehen lassen und so tun, als würde Euch das Geschrei dieser Maultiere interessieren.«
»Warum habt Ihr den Rat, wenn er keinem Zweck dient?«
»Weil die Maultiere ihr eigenes Geschrei so gern hören, warum sonst? Und ich brauche sie, damit sie meinen Karren ziehen. Oh, gewiss, hin und wieder gibt jemand einen nützlichen Gedanken zum Besten. Aber heute nicht, glaube ich –ach, da kommt Euer Sohn mit unserem Wasser.«
Devan stellte das Tablett auf den Tisch und füllte zwei Tonbecher. Der König streute eine Prise Salz in seines; Davos trank das Wasser pur und wünschte, es wäre Wein. »Ihr spracht von Eurem Rat?«
»Ich werde Euch erzählen, wie es ablaufen wird. Lord Velaryon wird mich drängen, die Burg beim ersten Licht mit Seilen und Leitern zu erstürmen, trotz Pfeilbeschusses und siedenden Öls. Die jüngeren Maultiere werden das für eine hervorragende Idee halten. Estermont dagegen wird bevorzugen, sie auszuhungern, so, wie es Tyrell und Rothweyn einst mit mir versucht haben. Das könnte zwar ein Jahr dauern, aber die alten Maultiere sind geduldig. Und Lord Caron und die anderen, die so gern ausschlagen, werden Ser Cortnays Fehdehandschuh aufnehmen und alles auf ein Duell setzen wollen. Jeder von ihnen malt sich aus, er werde der Recke sein, der sich durch einen Sieg unsterblichen Ruhm erwirbt.« Der König trank sein Wasser aus. »Was würdet Ihr mir raten, Schmuggler?«
Davos dachte einen Augenblick nach, ehe er antwortete. »Zieht sofort nach Königsmund.«
Der König schnaubte. »Und Sturmkap soll ich nicht einnehmen? «
»Ser Cortnay hat keine Streitmacht, die Euch gefährden könnte. Die Lennisters schon. Eine Belagerung würde zu lange dauern, ein Duell ist zu riskant, und ein Angriff würde Tausende das Leben kosten, ohne eine Gewähr für Erfolg zu bieten. Und wozu überhaupt? Nachdem Ihr Joffrey entthront habt, wird die Burg doch mit allem anderen an Euch fallen. Im Lager heißt es überall, Lord Tywin Lennister wäre in Eilmärschen nach Westen unterwegs, um Lennishort vor der Rache der Nordmannen zu schützen …«
»Du hast einen überaus klugen Vater, Devan«, sagte der König zu dem Jungen, der an seiner Seite stand. »Da kommt in mir der Wunsch auf, mehr Schmuggler in meinen Diensten zu haben. Und weniger Lords. Obwohl Ihr in einer Hinsicht falsch liegt, Davos. Es gibt einen Grund. Falls ich Sturmkap nicht einnehme und in meinem Rücken zurücklasse, wird man behaupten, ich sei hier geschlagen worden. Und das darf ich nicht zulassen. Die Männer lieben mich nicht so, wie sie meine Brüder liebten. Sie folgen mir, weil sie mich fürchten … und eine Niederlage ist der Tod der Angst. Die Burg muss fallen.« Sein Unterkiefer mahlte von rechts nach links. »Ja, und zwar schnell. Doran Martell hat zu den Fahnen gerufen und die Bergpässe befestigt. Seine Dornischen stehen bereit, um in die Marschen hinunterzuziehen. Und Rosengarten ist weit davon entfernt, erschöpft zu sein. Mein Bruder hatte den größeren Teil seiner Streitmacht bei Bitterbrück gelassen, fast sechzigtausend Mann zu Fuß. Ich habe den Bruder meiner Frau, Ser Errol, mit Ser Parmen Kranich losgeschickt, um das Heer unter meinen Befehl zu stellen, aber sie sind bislang nicht zurückgekehrt. Ich fürchte, Ser Loras Tyrell hat Bitterbrück vor meinen Gesandten erreicht und sich die Armee selbst angeeignet.«
»Umso mehr ein Grund, Königsmund so bald wie möglich anzugreifen. Salladhor Saan hat mir erzählt …«
»Salladhor Saan denkt nur ans Gold!«, fuhr Stannis auf. »Sein Kopf ist voller Träume von den Schätzen, die in seiner Einbildung unter dem Roten Bergfried vergraben liegen, also möchte ich nichts mehr von ihm hören. Der Tag, an dem ich militärischen Rat von einem Briganten aus Lys brauche, ist der Tag, an dem ich meine Krone ab- und das Schwarz anlege. « Der König ballte die Hand zur Faust. »Und Ihr seid hier, um mir zu dienen, Schmuggler? Oder um mich mit Euren Einwänden zu verärgern?«
»Ich bin der Eure«, sagte Davos.
»Dann hört, was ich Euch sage. Ser Cortnays Stellvertreter ist ein Vetter der Fossoweys, Lord Wiesen. Der Junge ist noch nicht trocken hinter den Ohren, knapp zwanzig. Sollte Fünfrosen irgendein Unglück widerfahren, wird dieses Jüngelchen Kastellan von Sturmkap, und seine Vettern glauben, er würde sich mit den Bedingungen einverstanden erklären und die Burg übergeben.«
»Ich kann mich an ein anderes Jüngelchen erinnern, das den Befehl über Sturmkap hatte. Jener Knabe kann auch nicht viel älter als zwanzig gewesen sein.«
»Lord Wiesen ist kein so steinharter Sturkopf wie ich.«
»Stur oder feige, was für einen Unterschied macht das? Ser Cortnay Fünfrosen erschien mir gesund und munter.«
»Das galt auch für meinen Bruder, noch einen Tag vor seinem Tod. Die Nacht ist dunkel und voller Schrecken, Davos.«
Davos Seewert spürte, wie sich ihm die Nackenhaare aufstellten. »Mylord, ich verstehe nicht recht.«
»Das ist auch nicht notwendig. Ich brauche nur Eure Dienste. Ser Cortnay wird vor dem morgigen Tage tot sein. Melisandre hat es in den Flammen der Zukunft gesehen. Seinen Tod, und auf welche Weise es geschehen wird. Und bestimmt wird Fünfrosen nicht in ritterlichem Kampf sterben.« Stannis hielt seinen Becher hoch, und Devan füllte ihn aus dem Krug. »Ihre Flammen lügen nicht. Sie hat Renlys Verhängnis ebenfalls vorhergesehen. Schon auf Drachenstein, und sie hat es Selyse erzählt. Lord Velaryon und Euer Freund Salladhor Saan wollten lieber gegen Joffrey vorgehen, aber Melisandre sagte mir, in Sturmkap würde ich den besten Teil der Streitmacht meines Bruder erringen, und sie hatte Recht.«
»A-aber«, stotterte Davos. »Lord Renly kam nur hierher, weil Ihr die Burg belagert habt. Er hatte die Absicht, nach Königsmund zu marschieren, gegen die Lennisters, und er hätte …«
Stannis richtete sich auf und runzelte die Stirn. »Hätte, wollte, was bedeutet das schon? Er hat getan, was er getan hat. Mit Bannern und Pfirsichen kam er her, und sein Schicksal hat ihn ereilt … und es gereichte mir zum Heil. Melisandre hatte in ihren Flammen noch einen anderen Tag gesehen. Einen Morgen, an dem Renly in seiner grünen Rüstung von Süden her geritten kam, um mein Heer vor den Mauern von Königsmund zu zermalmen. Wäre ich dort auf meinen Bruder getroffen, wäre ich an seiner Stelle gestorben.«
»Oder Ihr hättet Euch mit ihm verbündet und gemeinsam die Lennisters besiegt«, protestierte Davos. »Warum nicht? Wenn sie zwei Möglichkeiten für die Zukunft gesehen hat, nun … beide können nicht wahr sein.«
König Stannis hob den Zeigefinger. »Hier irrt Ihr, Zwiebelritter. Manche Lichter werfen mehr als nur einen Schatten. Stellt Euch vor das Nachtfeuer und seht es Euch selbst an. Die Flammen flackern und tanzen und ruhen niemals. Die Schatten werden groß und kleiner, und jeder Mensch scheint ein Dutzend davon zu werfen. Manche sind blasser als andere, das ist alles. Nun, auch in die Zukunft werfen Menschen Schatten. Einen Schatten oder viele. Melisandre kann sie alle sehen.
Ihr mögt die Frau nicht. Ich weiß es, Davos, ich bin nicht blind. Meine Lords können sie ebenfalls nicht ausstehen. Estermont hält das flammende Herz für eine schlechte Wahl und bittet darum, unter dem alten gekrönten Hirsch kämpfen zu dürfen. Ser Guyard sagt, mein Bannerträger sollte keine Frau sein. Andere tuscheln, dass sie nichts in meinem Kriegsrat zu suchen habe, dass ich sie nach Asshai zurückschicken sollte, dass es sündig sei, sie über Nacht in meinem Zelt zu behalten. Gut, das wird getuschelt … und währenddessen dient sie mir.«
»Und wie?«, fragte Davos und fürchtete die Antwort.
»Wie es notwendig ist.« Der König blickte ihn an. »Und Ihr?«
»Ich …« Davos fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. »Ich stehe unter Eurem Befehl. Was wünscht Ihr von mir?«
»Nichts, was Ihr nicht schon früher getan hättet. Landet im Schutz der Dunkelheit ungesehen mit einem Boot unter der Burg an. Könnt Ihr das?«
»Ja. Heute Nacht?«
Der König nickte knapp. »Ihr werdet ein kleines Boot benötigen. Nicht die Schwarze Betha. Niemand darf wissen, was Ihr tut.«
Davos wollte widersprechen. Er war jetzt ein Ritter, kein Schmuggler mehr, und ein Meuchelmörder war er nie gewesen. Doch als er den Mund öffnete, wollten ihm die Worte nicht über die Lippen gehen. Hier stand Stannis, sein gerechter Herr, dem er alles verdankte, was er war. Und er musste auch an seine Söhne denken. Bei den guten Göttern, was hat sie mit ihm gemacht?
»Ihr seid so still?«, bemerkte Stannis.
Und das sollte ich auch bleiben, sagte sich Davos und sagte stattdessen: »Mein Lehnsherr, Ihr müsst die Burg einnehmen, das sehe ich wohl ein, aber gewiss gibt es andere Möglichkeiten. Anständigere Möglichkeiten. Mag Ser Cortnay den Bastardjungen behalten, dann ergibt er sich.«
»Ich muss den Jungen bekommen, Davos. Ich muss. Denn Melisandre hat ihn ebenfalls in den Flammen gesehen.«
Davos suchte nach einer Antwort. »In Sturmkap finden sich keine Ritter, die es mit Ser Guyard oder Lord Caron aufnehmen können oder einem weiteren Hundert in Euren Diensten. Dieses Duell … könnte es nicht sein, dass Ser Cortnay nur nach einer Möglichkeit sucht, sich ehrenvoll zu ergeben? Selbst, wenn es ihn das eigene Leben kosten sollte?«
Eine besorgte Miene huschte wie eine vorbeiziehende Wolke über des Königs Gesicht. »Eher plant er irgendeine Hinterlist. Es wird keinen Kampf der Recken geben. Ser Cortnay war bereits ein toter Mann, bevor er mir diesen Handschuh hingeworfen hat. Die Flammen lügen nicht, Davos.«
Und dennoch werde ich gebraucht, damit ihre Bilder wahr werden, dachte er. Seit langer Zeit hatte Davos Seewert nicht mehr solche Trauer empfunden.
Und so fuhr er ein weiteres Mal im Dunkel der Nacht durch die Sturmbucht und steuerte ein winziges Boot mit schwarzem Segel. Der Himmel war genauso wie damals, und das Meer ebenfalls. Derselbe Salzgeruch lag in der Luft, und das Wasser gluckerte unter dem Kiel, wie er es in Erinnerung hatte. Tausend lodernde Lagerfeuer brannten um die Burg herum, wie die Feuer der Tyrells und Rothweyns vor sechzehn Jahren gebrannt hatten. Alles andere unterschied sich sehr von damals.
Beim letzten Mal habe ich Sturmkap das Leben gebracht, in Form von Zwiebeln. Dieses Mal ist es der Tod, in Gestalt von Melisandre aus Asshai. Vor sechzehn Jahren hatten die Segel im Wind geknattert, bis er sie eingeholt hatte und gepolsterte Ruder einlegte. Trotzdem hatte ihm das Herz bis zum Hals geschlagen. Die Männer auf den Rothweyn-Galeeren waren nach so langer Zeit unaufmerksam geworden, und so war er mit seinen Leuten geschmeidig wie schwarze Seide durch den Kordon geschlüpft. Diesmal gehörten alle Schiffe Stannis, und Gefahr drohte höchstens von einem Beobachter auf den Burgmauern. Trotzdem war Davos angespannt wie eine Bogensehne.
Melisandre hockte auf der Ducht, kaum zu erkennen in der dunklen roten Robe, die sie von Kopf bis Fuß einhüllte. Ihr Gesicht war ein bleicher Fleck unter der Kapuze. Davos liebte das Wasser. Er schlief am besten, wenn unter ihm das Deck sanft schaukelte, und das Seufzen des Windes in der Takelage war ein süßeres Lied für ihn, als es ein Sänger auf der Harfe spielen konnte. Doch auch das Meer spendete ihm heute Nacht keinen Trost. »Ich kann Eure Angst riechen, Ser Ritter«, sagte die Rote Frau leise.
»Jemand hat mir einmal gesagt, die Nacht sei dunkel und voller Schrecken. Und heute Nacht bin ich kein Ritter. Heute Nacht bin ich noch einmal Davos der Schmuggler. Wärt Ihr nur eine Zwiebel.«
Sie lachte. »Fürchtet Ihr mich? Oder das, was wir tun?«
»Was Ihr tut. Ich habe daran keinen Anteil.«
»Eure Hände haben das Segel gehisst. Eure Hände halten das Ruder.« Schweigend kümmerte sich Davos um seinen Kurs. Das Ufer war ein Gewirr von Felsen, deshalb steuerte er zunächst hinaus in die Bucht. Sturmkap blieb hinter ihnen zurück und wurde kleiner, doch die Rote Frau schien das nicht zu beunruhigen. »Seid Ihr ein guter Mann, Davos Seewert?«, fragte sie.
Würde ein guter Mann solche Dinge tun? »Ich bin ein Mann«, antwortete er. »Ich bin freundlich zu meinem Weib, aber ich habe auch schon andere Frauen gehabt. Ich habe versucht, als Vater für meine Söhne da zu sein, damit sie ihren Platz in dieser Welt finden. Ja, ich habe Gesetze gebrochen, aber vor heute Nacht habe ich mich niemals als schlechter Mensch gefühlt. Ich würde sagen, es hält sich die Waage, M’lady. Ich bin ein guter und ein schlechter Mann.«
»Ein grauer Mann«, sagte sie. »Weder weiß noch schwarz, doch von beidem ein bisschen. Seid Ihr das, Ser Davos?«
»Und wenn es so wäre? Mir scheint, die meisten Männer sind grau.«
»Wenn eine Zwiebel zur Hälfte schwarz gefault ist, kann man sie nur als verfaulte Zwiebel bezeichnen. Ein Mann ist entweder gut oder böse.«
Die Feuer hinter ihnen waren zu einem vagen Glühen verschmolzen, das sich gegen den schwarzen Himmel abhob, und das Land war schon fast außer Sicht. Es war Zeit zu wenden. »Passt auf Euren Kopf auf, Mylady.« Er legte das Ruder um, und das kleine Boot ließ Gischt aufspritzen, während es drehte. Melisandre duckte sich unter dem herumschwingenden Baum und legte eine Hand auf das Dollbord, so ruhig wie immer. Holz ächzte, Leinwand knatterte, Wasser spritzte so laut, dass man schwören mochte, es müsse auf der Burg zu hören sein. Davos wusste es besser. Das endlose Rauschen der Wellen auf dem Fels war das einzige Geräusch, das durch die massive seewärtige Mauer von Sturmkap drang, und auch das nur schwach.
Gekräuseltes Kielwasser blieb hinter ihnen zurück, während sie wieder auf das Ufer zufuhren. »Ihr sprecht von Zwiebeln und Männern«, sagte Davos. »Was ist mit Frauen? Gilt für sie nicht das Gleiche? Seid Ihr gut oder böse, Mylady?«
Auf die Frage hin kicherte sie. »Oh, gut. Ich bin selbst eine Art Ritter, edler Ser. Ein Streiter für Licht und Leben.«
»Dennoch beabsichtigt Ihr, heute Nacht einen Mann zu töten«, erwiderte er. »So wie Ihr schon Maester Cressen getötet habt.«
»Euer Maester hat sich selbst vergiftet. Mich wollte er ebenfalls vergiften, aber ich wurde von einer größeren Macht beschützt und er nicht.«
»Und Renly Baratheon? Wer hat ihn ermordet?«
Sie wandte den Kopf. Unter dem Schatten der Kapuze brannten ihre Augen schwach wie rote Kerzen. »Ich nicht.«
»Lügnerin.« Jetzt war sich Davos sicher.
Abermals lachte Melisandre. »Ihr habt Euch in Dunkelheit und Verwirrung verloren, Ser Davos.«
»Dennoch ist die Dunkelheit gut für uns.« Davos deutete auf die fernen Lichter, die auf den Mauern von Sturmkap flackerten. »Spürt Ihr, wie kalt der Wind ist? Die Wachen werden sich dicht an die Fackeln dort oben drängen. Ein bisschen Wärme, ein bisschen Licht bieten wenigstens einen kleinen Trost in der Nacht. Dadurch werden sie geblendet, und deshalb werden sie uns nicht sehen.« Das hoffe ich jedenfalls. »Der Gott der Dunkelheit beschützt uns heute, Mylady. Sogar Euch.«
Die Flammen ihrer Augen schienen bei diesen Worten ein wenig heller zu leuchten. »Sprecht diesen Namen nicht aus, Ser, solange Ihr sein schwarzes Auge nicht auf uns lenken wollt. Er beschützt keinen Menschen, so viel kann ich Euch versprechen. Denn er ist der Feind allen Lebens. Die Fackeln verbergen uns, Ihr habt es selbst gesagt. Feuer. Das helle Geschenk des Herrn des Lichts.«
»Wie Ihr wollt.«
»Wie Er will.«
Der Wind drehte, Davos konnte es fühlen und sah es am Kräuseln des Segeltuchs. Er griff nach den Fallen. »Helft mir, das Segel einzuholen. Den Rest des Wegs werde ich rudern.«
Gemeinsam holten sie das Segel ein, während das Boot unter ihnen schaukelte. Davos legte die Riemen ein und zog sie durch das unruhige dunkle Wasser. »Wer hat Euch zu Renly gerudert?«, fragte er.
»Das war nicht nötig«, antwortete sie. »Er war nicht geschützt. Aber hier … dieses Sturmkap ist ein alter Ort. In die Steine sind Zauber gewirkt. Dunkle Mauern, die kein Schatten passieren kann – uralt sind sie und vergessen, und doch noch immer vorhanden.«
»Schatten?« Davos spürte ein Kribbeln auf der Haut. »Ein Schatten ist ein Wesen der Dunkelheit.«
»Ihr seid unwissender als ein Kind, Ser Ritter. Im Dunkeln gibt es keine Schatten. Schatten sind die Diener des Lichts, die Kinder des Feuers. Die hellste Flamme wirft den dunkelsten Schatten.«
Stirnrunzelnd gebot ihr Davos daraufhin Schweigen. Sie näherten sich erneut der Küste, und über das Wasser hinweg trug der Klang von Stimmen weit. Er ruderte, und das leise Platschen verlor sich im Rhythmus der Wellen. Die Seeseite von Sturmkap stand auf einer weißen Klippe, der Kalkstein war anderthalbmal so hoch wie die massive äußere Mauer. In der Klippe gähnte ein Schlund, und darauf hielt Davos nun zu, genau wie vor sechzehn Jahren. Der Tunnel führte in eine Höhle unter der Burg, wo die alten Sturmlords ihre Landestelle erbaut hatten.
Die Durchfahrt war nur bei Flut passierbar und trotzdem sehr heimtückisch, doch sein Geschick als Schmuggler hatte Davos nicht verlernt. Er steuerte zwischen den zerklüfteten Felsen hindurch, bis sie den Höhleneingang erreichten und ließ sich von den Wellen hineintragen. Sie krachten um ihn herum, drängten das Boot hierhin und dorthin und durchnässten die beiden Menschen bis auf die Haut. Ein halb sichtbarer Felsen ragte plötzlich aus der Dunkelheit, und Davos konnte sie gerade noch mit einem Ruder davon fortschieben.
Dann waren sie daran vorbeigeglitten und wurden von Dunkelheit eingehüllt. Das Wasser beruhigte sich. Das kleine Boot wurde langsamer und drehte sich. Das Geräusch ihres Atmens hallte von den Wänden wider, bis sie den Eindruck hatten, es würde sie einhüllen. Solche Schwärze hatte Davos nicht erwartet. Beim letzten Mal hatten Fackeln im Tunnel gebrannt, und die Augen der hungernden Männer hatten durch die Löcher in der Decke gespäht. Das Fallgitter lag ein Stück vor ihnen, wie er wusste. Mit den Rudern verminderte Davos die Geschwindigkeit, bis sie sehr langsam dagegentrieben.
»Weiter geht es nicht, es sei denn, Ihr hättet einen Mann im Inneren, der das Tor für uns öffnet.« Sein Flüstern kroch einer Kolonne Mäusen gleich auf weichen rosa Füßen über das Wasser.
»Sind wir bereits innerhalb der Mauern?«
»Ja. Wir sind darunter hindurchgefahren. Weiter kommen wir nicht. Das Fallgitter reicht bis zum Boden. Und die Gitterstäbe sitzen zu dicht aneinander. Da käme selbst ein Kind nicht durch.«
Außer einem leisen Rascheln erhielt er keine Antwort. Dann leuchtete inmitten der Finsternis ein Licht auf.
Davos hob die Hand schützend vor die Augen. Der Atem stockte ihm. Melisandre hatte die Kapuze zurückgeworfen und ihre erdrückende Robe abgestreift. Darunter war sie nackt und hochschwanger. Die geschwollenen Brüste hingen herab, und ihr Bauch wölbte sich, als würde er im nächsten Moment platzen. »Mögen die Götter uns beschützen«, flüsterte er und hörte ihre Erwiderung, ein tiefes, kehliges Lachen. Ihre Augen funkelten wie heiße Kohlen, und der Schweiß auf ihrer Haut schien in seinem eigenen Licht zu glühen. Melisandre strahlte.
Keuchend hockte sie sich nieder und spreizte die Beine. Blut, schwarz wie Tinte, rann über ihre Schenkel. Ihr Schrei mochte den Qualen oder der Ekstase oder gar beidem entspringen. Und Davos sah die Krone des Kindskopfes, der sich den Weg aus ihr heraus bahnte. Zwei Arme befreiten sich, streckten sich, umfassten mit schwarzen Fingern Melisandres angespannte Schenkel und zogen, bis der ganze Schatten hinaus in die Welt glitt und größer wurde als Davos, hoch wie der Tunnel und bis zur Decke über dem Boot aufragte. Nur ein Augenblick blieb ihm, um ihn zu betrachten, dann war der Schatten verschwunden, hatte sich zwischen den Gitterstäben des Fallgitters hindurchgewunden und huschte über die Oberfläche des Wassers. Doch dieser kurze Augenblick hatte Davos genügt.
Er kannte diesen Schatten. Und er kannte auch den Mann, der ihn geworfen hatte.