Er träumte von einer geborstenen Steindecke und dem Geruch von Blut und Scheiße und verbranntem Fleisch. Überall war beißender Rauch. Männer stöhnten und jammerten, und von Zeit zu Zeit gellte ein gequälter Schmerzensschrei durch die Luft. Als er versuchte, sich zu bewegen, bemerkte er, dass er sein Lager verunreinigt hatte. Wegen des Rauchs traten ihm die Tränen in die Augen. Weine ich? Das durfte er seinen Vater nicht sehen lassen. Er war ein Lennister von Casterlystein. Ein Löwe, ich muss ein Löwe sein, wie ein Löwe leben, wie ein Löwe sterben. Doch er hatte solche Schmerzen. Zu schwach, um zu stöhnen, lag er in seinem eigenen Schmutz und schloss die Augen. In der Nähe verfluchte jemand mit schwerer, monotoner Stimme die Götter. Er lauschte den Lästerungen und fragte sich, ob er wohl im Sterben lag. Nach einer Weile verblasste der Raum um ihn herum.
Er fand sich draußen vor der Stadt wieder, wo er durch eine Welt ohne Farben schritt. Raben schwebten auf breiten, schwarzen Schwingen durch einen grauen Himmel, während Aaskrähen überall, wohin er den Fuß setzte, wütend von ihrem Festmahl aufstoben. Weiße Maden gruben sich durch schwarze Verwesung. Die Wölfe waren grau, und ebenso die Schweigenden Schwestern; beide befreiten die Knochen der Gefallenen vom Fleisch. Der ganze Turnierplatz war von Leichen übersät. Die Sonne schien einer heißen weißen Münze gleich auf den grauen Fluss herab, der um die verkohlten Gerippe gesunkener Schiffe strömte. Von den Scheiterhaufen, auf denen die Toten verbrannt wurden, stiegen schwarze Rauchsäulen und weiße heiße Asche in die Luft. Mein Werk, dachte Tyrion Lennister. Sie starben auf meinen Befehl hin.
Zunächst gab es keine Geräusche in dieser Welt, doch nach einer Weile hörte er die leisen, schrecklichen Stimmen der Toten. Sie weinten und jammerten, flehten darum, dass ihre Pein aufhören möge, riefen um Hilfe und nach ihren Müttern. Tyrion hatte seine Mutter nie kennengelernt. Er wollte zu Shae, doch sie war nicht hier. So ging er allein durch die grauen Schatten und versuchte sich zu erinnern …
Die Schweigenden Schwestern zogen den Toten die Rüstungen und die Kleider aus. All die fröhlichen Farben der Mäntel waren verblichen; die Erschlagenen waren in fahle Weiß- und Grautöne gekleidet, und ihr Blut war schwarz und verkrustet. Er sah zu, wie die nackten Körper an Armen und Beinen hochgehoben und zu den Feuern getragen wurden, wo sie sich wieder zu ihren Kameraden gesellten. Metall und Kleider wurden auf einen weißen Wagen geworfen, den zwei große schwarze Pferde zogen.
So viele Tote, so viele. Ihre Leichen lagen schlaff da, ihre Gesichter waren starr oder aufgedunsen, nicht mehr zu erkennen, kaum noch menschenähnlich. Die Gewänder, welche die Schwestern ihnen abnahmen, waren mit schwarzen Herzen verziert, grauen Löwen, toten Blumen und geisterhaft bleichen Hirschen. Ihre Rüstungen waren verbeult und geborsten, die Kettenhemden zerrissen. Warum habe ich sie alle getötet? Irgendwann einmal hatte er den Grund gewusst, doch er hatte ihn wieder vergessen.
Er hätte eine der Schweigenden Schwestern fragen können, doch als er sprechen wollte, stellte er fest, dass er keinen Mund hatte. Glatte, nahtlose Haut bedeckte seine Zähne. Diese Entdeckung erschreckte ihn zutiefst. Wie sollte er ohne Mund weiterleben? Er begann zu rennen. Die Stadt war nicht weit entfernt. Innerhalb der Mauern wäre er in Sicherheit, weit fort von diesen Toten. Er gehörte nicht zu den Toten. Wenn er auch keinen Mund hatte, so war er doch noch ein lebendiger Mann. Nein, ein Löwe, ein Löwe, und am Leben. Dann erreichte er die Mauer, doch die Tore waren ihm verschlossen.
Es war dunkel, als er erneut erwachte. Zuerst konnte er nichts sehen, bis er die vagen Umrisse eines Bettes um sich herum wahrnahm. Die Vorhänge waren zugezogen, trotzdem konnte er die Form der Bettpfosten erkennen, und über sich den samtenen Himmel. Unter sich spürte er eine weiche Federmatratze, und das Kissen unter seinem Kopf war mit Gänsedaunen gefüllt. Mein eigenes Bett, ich liege in meinem eigenen Bett, in meinem eigenen Schlafzimmer.
Innerhalb der Vorhänge, unter dem großen Haufen von Fellen und Decken war es warm. Er schwitzte. Fieber, dachte er benommen. Er fühlte sich schwach, und ein stechender Schmerz durchfuhr ihn, als er versuchte, die Hand zu heben. Er ließ es bleiben. Sein Kopf fühlte sich riesig an, so groß wie das Bett, zu schwer, um ihn vom Kissen zu heben. Seinen Körper konnte er kaum spüren. Wie bin ich hierhergekommen? Er versuchte, sich zu erinnern. Die Schlacht tauchte in einzelnen Bildern vor seinem inneren Auge auf. Die Gefechte am Fluss, der Ritter, der ihm den Handschuh angeboten hatte, die Brücke aus Schiffen …
Ser Mandon. Er sah die toten leeren Augen, die ausgestreckte Hand, das grüne Feuer, das auf der weiß emaillierten Rüstung leuchtete. Furcht überkam ihn in einer kalten Woge; er spürte, wie sich unter den Decken seine Blase entleerte. Hätte er nur einen Mund gehabt, dann hätte er wenigstens schreien können. Nein, das war im Traum, dachte er mit pochendem Schädel. Hilfe, so helft mir doch. Jaime, Shae, Mutter, irgendwer … Tysha …
Niemand hörte ihn. Niemand kam. Allein in der Dunkelheit versank er wieder in Schlaf und in Gestank nach Pisse. Er träumte, seine Schwester stehe an seinem Bett und auch sein Hoher Vater, der die Stirn runzelte. Das musste ein Traum sein, denn schließlich war Lord Tywin viele Meilen weit entfernt und kämpfte im Westen gegen Robb Stark. Andere kamen und gingen ebenso. Varys betrachtete ihn und seufzte, doch Kleinfinger machte einen Scherz. Du verfluchter, verräterischer Bastard, dachte Tyrion böse, wir haben dich nach Bitterbrück geschickt, und du bist nicht zurückgekehrt. Manchmal hörte er, wie sie miteinander redeten, die Worte verstand er allerdings nicht. Ihre Stimmen summten in seinen Ohren wie Wespen und wurden wie von dickem Filz gedämpft.
Er wollte fragen, ob sie die Schlacht gewonnen hätten. Das müssen wir wohl, sonst würde mein Kopf auf irgendeinem Spieß stecken. Wenn ich lebe, haben wir gesiegt. Er wusste nicht, was ihm mehr gefiel: der Sieg oder die Tatsache, dass er allein darauf gekommen war. Sein Verstand kehrte zurück, wenn auch langsam. Das war gut. Sein Verstand war alles, was er besaß.
Als er das nächste Mal erwachte, hatte man die Vorhänge zurückgezogen, und Podrick Payn stand mit einer Kerze vor ihm. Er sah, wie Tyrion die Augen aufschlug, und rannte davon. Nein, geh nicht weg, hilf mir, hilf mir, wollte er rufen, brachte jedoch nur ein leises Stöhnen hervor. Ich habe keinen Mund. Er griff sich unter Schmerzen ins Gesicht. Seine Finger fanden steifes Tuch, wo eigentlich Fleisch, Lippen und Zähne hätten sein sollen. Leinen. Die untere Hälfte seines Gesichts war fest verbunden, eine Maske aus hartem Gips mit Löchern zum Atmen und Essen.
Kurz darauf kam Pod zurück. Diesmal begleitete ihn ein Fremder, ein Maester mit Kette und Robe. »Mylord, Ihr müsst still liegen«, murmelte der Mann. »Ihr seid schwer verletzt. Seid Ihr durstig?«
Zur Antwort gelang ihm ein unbeholfenes Nicken. Der Maester schob einen geschwungenen Kupfertrichter durch das Loch über seinem Mund und schüttete vorsichtig etwas in seine Kehle. Tyrion schluckte, ohne irgendetwas zu schmecken. Zu spät erkannte er, dass es sich um Mohnblumensaft handelte. Als ihm der Maester den Trichter aus dem Mund zog, versank er bereits wieder in tiefen Schlaf.
Diesmal träumte er, bei einem Fest zu sein, einem Siegesfest in einer großen Halle. Er saß auf einem hohen Stuhl auf dem Podest, und Männer hoben die Kelche und priesen ihn als Helden. Marillion war da, der Sänger, der mit ihnen durch die Mondberge gereist war. Er spielte auf seiner Holzharfe und sang von den tapferen Taten des Gnoms. Sogar sein Vater lächelte anerkennend. Als das Lied zu Ende war, erhob sich Jaime von seinem Platz, befahl Tyrion niederzuknien, legte ihm die Klinge seines goldenen Schwertes zuerst auf die eine und dann auf die andere Schulter und schlug ihn zum Ritter. Shae konnte es nicht erwarten, ihn zu umarmen. Sie nahm ihn bei der Hand, lachte, neckte ihn und nannte ihn ihren Riesen von Lennister.
Er erwachte in der Dunkelheit eines kalten, leeren Zimmers. Die Vorhänge waren wieder zugezogen. Irgendetwas war verkehrt, falsch herum, nur kam er nicht darauf, was. Er war wieder allein. Also warf er die Decken zurück und versuchte, sich aufzusetzen, doch der Schmerz war zu stark, und er gab bald keuchend auf. Das Gesicht war nicht einmal das Schlimmste. Die ganze rechte Seite schien nur aus Schmerzen zu bestehen, und das Gleiche galt für seine Brust, sobald er nur den Arm hob. Was ist mit mir geschehen? Sogar die Schlacht war inzwischen fast nur noch ein Traum, wenn er daran zurückdachte. Ich bin wohl übler verwundet, als ich gedacht habe. Ser Mandon …
Die Erinnerung daran machte ihm Angst, doch Tyrion ließ sie nicht los und ließ seine Gedanken darum kreisen. Er wollte mich wirklich umbringen. Dieser Teil war jedenfalls kein Traum. Er hätte mich in zwei Hälften gespalten, wäre Pod nicht … Pod, wo ist Pod?
Er biss die Zähne zusammen, packte den Bettvorhang und zog daran. Der Stoff löste sich vom Himmel des Betts und fiel herunter, halb in die Binsen, halb auf ihn. Allein bei dieser kleinen Anstrengung drehte sich ihm schon der Kopf. Der Raum wirbelte um ihn herum, die nackten Wände und die dunklen Schatten und das schmale Fenster. Er sah eine Truhe, die ihm gehörte, einen unordentlichen Haufen seiner Kleider, seine verbeulte Rüstung. Das ist nicht mein Schlafzimmer, erkannte er. Nicht einmal im Turm der Hand bin ich. Man hatte ihn verlegt. Sein Wutschrei war ein kaum ersticktes Stöhnen. Sie haben mich zum Sterben hergebracht, dachte er, während er den Kampf aufgab und abermals die Augen schloss. Das Zimmer war feucht und kalt, und er brannte vor Fieber.
Er träumte von einem schöneren Ort, einem gemütlichen kleinen Häuschen am Meer der Abenddämmerung. Die Wände waren schief und voller Ritzen gewesen, und der Boden hatte nur aus gestampftem Lehm bestanden, doch es war stets warm gewesen, sogar wenn er das Feuer hatte ausgehen lassen. Damit hat sie mich immer aufgezogen, erinnerte er sich. Ich habe nicht daran gedacht, Holz nachzulegen, das war doch immer die Aufgabe eines Dieners gewesen. »Wir haben keine Diener«, hatte sie dann gesagt, und ich habe geantwortet: »Du hast doch mich, ich bin dein Diener«, und sie gab zurück: »Ein fauler Diener. Was macht man mit faulen Dienern auf Casterlystein, Mylord?«, und er erwiderte: »Man küsst sie.« Daraufhin hatte sie immer gekichert. »Bestimmt nicht. Man verprügelt sie, wette ich«, hatte sie erwidert, doch er beharrte darauf: »Nein, man küsst sie, genau so.« Dann zeigte er es ihr. »Man küsst ihnen zuerst die Finger, jeden einzeln, dann die Handgelenke, ja, und die Innenseite ihrer Ellbogen. Dann werden die lustigen Ohren geküsst, denn alle unsere Diener haben lustige Ohren. Hör auf zu lachen! Als Nächstes werden die Wangen und die Nasen geküsst, und anschließend die süßen Brauen und das Haar und die Lippen und … mhmmm … der Mund … so …«
Sie hatten sich stundenlang geküsst und ganze Tage im Bett verbracht, den Wellen gelauscht und einander liebkost. Ihr Körper war das reinste Wunder für ihn, und seiner schien sie zu entzücken. Manchmal sang sie für ihn. Ich liebte ein Mädchen, ’s war blond wie der Sommer, mit Sonnenschein im Haar. »Ich liebe dich, Tyrion«, flüsterte sie, ehe sie des Nachts einschliefen. »Ich liebe deine Lippen. Ich liebe deine Stimme und die Worte, die du zu mir sagst, und deine sanfte Art. Ich liebe dein Gesicht.«
»Mein Gesicht?«
»Ja. Ja. Ich liebe deine Hände und wie sie mich berühren. Dein Gemächt, ich liebe dein Gemächt, ich liebe es, es in mir zu fühlen.«
»Es liebt dich ebenfalls.«
»Ich liebe es, deinen Namen zu sagen. Tyrion Lennister. Er passt zu meinem. Nicht das Lennister. Tyrion und Tysha. Tysha und Tyrion. Tyrion. Mylord Tyrion …«
Lügen, dachte er, alles Täuschung, alles nur des Goldes wegen, sie war eine Hure, Jaimes Hure, Jaimes Geschenk, Mylady von der Lüge. Ihr Gesicht schien zu verblassen und löste sich hinter einem Schleier von Tränen auf, doch selbst nachdem sie verschwunden war, hörte er noch ihre leise, ferne Stimme, die seinen Namen rief: »… Mylord, hört Ihr mich? Mylord? Tyrion? Mylord? Mylord?«
Benommen vom Mohnblumensaft sah er ein weiches, rosafarbenes Gesicht über sich. Er war wieder in dem feuchten Zimmer mit dem zerrissenen Bettvorhang, und das Gesicht passte nicht, war nicht das ihre, war zu rund und hatte zudem einen fransigen braunen Bart. »Habt Ihr Durst, Mylord? Ich habe Euren Saft, Euren guten Saft. Ihr braucht Euch nicht zu wehren, nein, versucht nicht, Euch zu bewegen, Ihr braucht Ruhe.« In der einen Hand hielt er den Kupfertrichter, in der anderen eine Flasche.
Als der Mann sich vorbeugte, schob Tyrion die Finger unter die Kette aus verschiedenen Metallen, fasste zu und zog. Der Maester ließ die Flasche fallen, und der Mohnblumensaft ergoss sich über die Bettdecke. Tyrion verdrehte die Kette, bis er spürte, dass sich die Glieder in den fetten Nacken des Mannes gruben. »Nicht. Mehr«, krächzte er heiser und war nicht sicher, ob er wirklich gesprochen hatte. Doch so musste es wohl gewesen sein, denn der Maester keuchte: »Lasst los, bitte, Mylord … Ihr braucht Euren Saft, wegen der Schmerzen … die Kette, bitte nicht, lasst los, nein …«
Das rosafarbene Gesicht lief bereits violett an, als Tyrion losließ. Der Maester wich zurück und schnappte nach Luft. Der gerötete Hals zeigte tiefe weiße Abdrücke von der Kette. Die Augen waren weit aufgerissen. Tyrion hob die Hand zum Gesicht und machte eine reißende Bewegung über die harte Maske. Und wieder. Und wieder.
»Ihr … Ihr wollt, dass ich den Verband entferne?«, fragte der Maester endlich. »Aber ich darf nicht … das wäre … nicht sehr weise, Mylord. Die Wunden sind noch nicht verheilt, und die Königin würde …«
Bei der Erwähnung seiner Schwester knurrte Tyrion. Dann gehörst du also zu ihr? Er zeigte mit dem Finger auf den Maester und ballte dann die Hand zur Faust. Zermalmen, würgen, es war ein Versprechen für den Fall, dass der Narr nicht tat, was er von ihm verlangt hatte.
Glücklicherweise verstand er ihn. »Ich … Ich werde tun, was Mylord befehlen, natürlich, aber … das ist nicht sehr weise, Eure Wunden …«
»Tut. Es.« Diesmal lauter.
Der Mann verneigte sich, ging aus dem Zimmer, und als er kurz darauf zurückkehrte, trug er ein langes Messer mit Sägezähnen, ein Becken mit Wasser, einen Stapel weicher Tücher und mehrere Fläschchen. Inzwischen hatte Tyrion es geschafft, sich ein wenig hochzuschieben, sodass er nun halb in sein Kissen gelehnt dasaß. Der Maester bat ihn, ganz still zu halten, und schob die Spitze des Messers am Kinn unter die Maske. Ein kleines Abrutschen, und Cersei ist mich los, dachte er. Er fühlte, wie die Klinge dicht über seiner Kehle durch das steife Leinen schnitt.
Glücklicherweise gehörte der Mann nicht zu den tapferen Kreaturen seiner Schwester. Einen Augenblick später spürte er kühle Luft auf seiner Wange. Es tat zwar auch weh, doch er versuchte, den Schmerz zu ignorieren. Der Maester legte den Verband, der noch mit Salbe verschmiert war, zur Seite. »Haltet bitte still, ich muss die Wunde waschen.« Seine Berührungen waren sanft, das Wasser war warm und lindernd. Die Wunde, dachte Tyrion und erinnerte sich an einen grellen silbernen Blitz, der ihn unterhalb der Augen getroffen hatte. »Dies wird ein wenig brennen«, warnte der Maester, nachdem er ein Tuch mit Wein befeuchtet hatte, der nach zerriebenen Kräutern roch. Es war mehr als ein wenig Brennen. Das Tuch zog eine Spur aus Feuer über sein Gesicht und stach ihm wie ein glühendes Schüreisen in die Nase. Tyrion krallte sich in die Laken und schnappte nach Luft, doch es gelang ihm, nicht zu schreien. Der Maester gluckte wie eine alte Henne. »Es wäre weiser gewesen, die Maske an Ort und Stelle zu belassen, bis das Fleisch verheilt ist, Mylord. Immerhin sieht es sauber aus, gut, gut. Als wir Euch in diesem Keller unter den Toten und Sterbenden gefunden haben, waren Eure Wunden verschmutzt. Eine Rippe habt Ihr auch gebrochen, das werdet Ihr sicherlich noch spüren, vermutlich von einem Morgenstern oder von einem Sturz, schwer zu sagen. Und im Arm steckte ein Pfeil, oben am Schultergelenk. Dort haben wir Zeichen von Wundbrand gefunden und ich fürchtete eine Zeit lang, ich müsste den Arm abnehmen, doch ich habe die Wunde mit kochendem Wein und Maden behandelt, und jetzt scheint sie offenbar sauber zu verheilen …«
»Name«, keuchte Tyrion. »Name.«
Der Maester blinzelte. »Nun, Ihr seid Tyrion Lennister, Mylord. Der Bruder der Königin. Erinnert Ihr Euch an die Schlacht? Manchmal gibt es bei Kopfwunden …«
»Euer Name.« Seine Kehle war rau, seine Zunge hatte vergessen, wie man Wörter bildet.
»Ich bin Maester Ballabar.«
»Ballabar«, wiederholte Tyrion. »Bringt mir. Spiegel.«
»Mylord«, antwortete der Maester, »ich würde Euch nicht raten … das wäre, äh, nicht weise, wenn Ihr … Eure Wunden …«
»Bringt ihn her«, musste er sagen. Sein Mund war steif und schmerzte, als hätte ihm ein Hieb die Lippe aufgeschlagen. »Und zu trinken. Wein. Keinen Mohn.«
Der Maester erhob sich mit rotem Gesicht und eilte davon. Er kehrte mit einer Karaffe bernsteinfarbenem Wein und einem kleinen Silberspiegel mit goldenem Schmuckrahmen zurück. Nachdem er sich auf die Bettkante gesetzt hatte, goss er einen Becher halb voll Wein und hielt ihn Tyrion an die geschwollenen Lippen. Kühl rann es dem die Kehle hinunter, obwohl er kaum etwas schmecken konnte. »Mehr«, sagte er, als der Becher leer war. Maester Ballabar schenkte erneut ein. Nach dem zweiten Becher fühlte sich Tyrion Lennister stark genug, sein Gesicht zu betrachten.
Er drehte den Spiegel um und wusste nicht, ob er lachen oder weinen sollte. Die Wunde war lang und schief; sie begann knapp unter seinem linken Auge und endete auf der rechten Seite seines Kinns. Drei Viertel seiner Nase fehlten, ebenso wie ein Stück der Lippe. Jemand hatte das aufgerissene Fleisch mit Katzendarm zusammengenäht, und die unbeholfenen Stiche konnte man entlang der roten, halb verheilten Narbe gut erkennen. »Hübsch«, krächzte er und warf den Spiegel zur Seite.
Jetzt erinnerte er sich. Die Brücke aus Schiffen, Ser Mandon Moor, eine Hand, ein Schwert, das auf sein Gesicht zufuhr. Wenn ich den Kopf nicht zurückgezogen hätte, wäre mir von diesem Hieb der halbe Schädel abgeschlagen worden. Jaime hatte immer gesagt, Ser Mandon sei der gefährlichste Mann der Königsgarde, weil seine toten leeren Augen seine Absichten nicht verrieten. Ich hätte keinem von ihnen trauen dürfen. Natürlich hatte er gewusst, dass Ser Meryn und Ser Boros auf der Seite seiner Schwester standen, und später auch Ser Osmund, doch er hatte nicht glauben mögen, dass die anderen auch keine Ehre im Leib hatten. Cersei muss ihn bezahlt haben, damit ich aus der Schlacht nicht lebend zurückkehre. Warum sonst? Ich habe Ser Mandon meines Wissens nach nie ein Leid zugefügt. Tyrion berührte das geschwollene Fleisch mit seinen dicken Stummelfingern. Noch ein Geschenk von meiner lieben Schwester.
Der Maester stand neben ihm, fluchtbereit wie eine Gans. »Mylord, es … vermutlich wird eine Narbe zurückbleiben …«
»Vermutlich?« Er lachte schnaubend und zuckte vor Schmerz zusammen. Mit Sicherheit würde eine Narbe zurückbleiben. Vermutlich würde auch seine Nase in nächster Zeit nicht einfach nachwachsen. Gut, auch vorher war sein Gesicht kein hübscher Anblick gewesen. »Lehrt mich, nicht mit Äxten, zu spielen.« Sein Grinsen spannte die Haut. »Wo, sind wir? An, welchem Ort?« Das Sprechen tat weh, doch Tyrion hatte zu lange geschwiegen.
»Äh, Ihr seid in Maegors Feste, Mylord. In einer Kammer über dem Ballsaal der Königin. Ihre Gnaden wollten Euch in der Nähe wissen, damit sie selbst über Euch wachen kann.«
Ich wette, das hat sie auch getan. »Bringt mich zurück«, befahl Tyrion. »In mein eigenes Bett. In mein eigenes Zimmer.« Wo ich von meinen eigenen Männern umgeben bin und meinen eigenen Maester habe, wenn ich einen finde, dem ich vertrauen kann.
»Euer eigenes … Mylord, das wird wohl kaum möglich sein. Die Hand des Königs hat sich in Euren früheren Gemächern niedergelassen.«
»Ich. Bin. Die Hand. Des Königs.« Das Sprechen erschöpfte ihn, und was er hörte, verwirrte ihn nur.
Maester Ballabar wirkte betrübt. »Nein, Mylord, ich … Ihr wart verwundet, dem Tode nahe. Euer Hoher Vater hat diese Pflichten jetzt übernommen. Lord Tywin, er …«
»Hier?«
»Seit der Nacht der Schlacht. Lord Tywin hat uns alle gerettet. Das gemeine Volk behauptet, es sei König Renlys Geist gewesen, aber weisere Männer kennen die Wahrheit. Es waren Euer Vater und Lord Tyrell, zusammen mit dem Ritter der Blumen und Lord Kleinfinger. Sie sind durch die Asche geritten und dem Usurpator Stannis in den Rücken gefallen. Es war ein großer Sieg, und jetzt hat sich Lord Tywin im Turm der Hand niedergelassen, um Seiner Gnaden zu helfen, die Ordnung im Reich wiederherzustellen, die Götter mögen gepriesen sein.«
»Die Götter mögen gepriesen sein«, wiederholte Tyrion hohl. Sein verdammter Vater und der verdammte Kleinfinger und Renlys Geist? »Ich möchte …« Wen wollte er? Er konnte dem rosigen Ballabar doch nicht sagen, er solle Shae holen. Wen konnte er schicken, dem er vertraute? Varys? Bronn? Ser Jaslyn? »… meinen Knappen«, beendete er den Satz. »Pod. Payn.« Das war Pod auf der Brücke aus Schiffen. Der Junge hat mir das Leben gerettet.
»Den Jungen? Diesen seltsamen Jungen?«
»Den seltsamen Jungen. Podrick. Payn. Geht. Schickt ihn.«
»Wie Ihr wünscht, Mylord.« Maester Ballabar eilte nickend hinaus. Tyrion spürte, wie ihn während des Wartens die Kräfte verließen. Er fragte sich, wie lange er hier wohl geschlafen hatte. Cersei würde es gern sehen, wenn ich für immer schlafe, doch so entgegenkommend werde ich nicht sein.
Podrick Payn betrat ängstlich wie eine Maus das Zimmer. »Mylord?« Er kam zum Bett geschlichen. Wie kann ein Junge, der in der Schlacht so tapfer war, in einem Krankenzimmer so ängstlich sein?, fragte sich Tyrion. »Ich wollte bei Euch bleiben, aber der Maester hat mich fortgeschickt.«
»Jetzt schick du ihn fort. Hör mir zu. Reden ist schwer. Brauche Traumwein. Traumwein. Nicht Mohnblumensaft. Geh zu Frenken, nicht Ballabar. Sieh zu, wie er ihn mischt. Bring ihn her.« Pod warf verstohlen einen Blick auf Tyrions Gesicht und wandte sich sofort wieder ab. Gut, das kann ich ihm nicht verdenken. »Ich will«, fuhr er fort, »meine eigene. Wache. Bronn. Wo ist Bronn?«
»Er wurde zum Ritter geschlagen.«
Sogar das Stirnrunzeln schmerzte. »Such ihn. Bring ihn her.«
»Wie Ihr befehlt. Mylord. Bronn.«
Tyrion packte den Jungen am Arm. »Ser Mandon?«
Sein Knappe zuckte zusammen. »Ich w-wollte ihn nicht t-t-t-t…«
»Töten? Bist du sicher? Er ist tot?«
Der Junge trat verlegen von einem Bein auf das andere. »Ertrunken.«
»Gut. Erzähl nichts. Niemandem. Von ihm. Von mir. Nichts. Gar nichts.«
Als sein Knappe hinausging, waren Tyrions letzten Kräfte geschwunden. Er lehnte sich zurück und schloss die Augen. Vielleicht würde er wieder von Tysha träumen. Wie ihr mein Gesicht wohl jetzt gefallen würde?, dachte er verbittert.