BRAN

Die Asche fiel wie weicher grauer Schnee.

Er tappte über trockene Nadeln und braune Blätter zum Rand des Waldes, wo die Kiefern nicht so dicht standen. Jenseits des offenen Feldes sah er die großen Stapel aus Menschenstein und die hohen Flammen. Der Wind wehte heiß herüber und trug den Geruch von Blut und verbranntem Fleisch heran, der so stark war, dass ihm der Geifer aus dem Maul lief.

Doch während ihn der eine Geruch anzog, waren andere eine Warnung. Er prüfte schnüffelnd den vorbeitreibenden Rauch. Männer, viele Männer, viele Pferde, und Feuer, Feuer, Feuer. Kein Geruch war gefährlicher, nicht einmal der des Eisens, aus dem Menschen ihre Krallen und ihre harte Haut machten. Der Rauch und die Asche trübten seine Augen, und im Himmel sah er eine große geflügelte Schlange, deren Brüllen ein Fluss aus Flammen war. Er fletschte die Zähne, doch da war die Schlange schon verschwunden. Hohes Feuer hinter den Mauern verschlang die Sterne.

Die ganze Nacht lang knisterten die Brände, und einmal ertönte ein lautes Brüllen und Krachen, bei dem die Erde unter seinen Füßen bebte. Hunde bellten und winselten, Pferde wieherten voller Schrecken. Ein Heulen gellte durch die Nacht; das Heulen des Menschenrudels, ängstliches Jammern und wildes Rufen, Lachen und Schreie. Kein Tier machte so viel Lärm wie Menschen. Er spitzte die Ohren und lauschte, und sein Bruder knurrte bei jedem Geräusch. Sie streiften unter den Bäumen umher, während der Wind Asche und Funken durch den Himmel wehte. Langsam begannen die Flammen zu verlöschen, und schließlich waren sie verschwunden. Die Sonne ging an diesem Morgen grau und rauchverhüllt auf.

Erst jetzt verließen sie den Wald und pirschten langsam über die Felder. Sein Bruder lief neben ihm, gleichermaßen angezogen vom Geruch nach Blut und Tod. Schweigend liefen sie durch die Höhlen, die die Menschen aus Holz und Gras und Lehm gebaut hatten. Viele, viele waren verbrannt, viele, viele waren eingestürzt; andere standen noch so wie zuvor. Dennoch sahen oder witterten sie nirgends einen lebenden Menschen. Krähen bedeckten die Leichen und erhoben sich kreischend in die Luft, sobald er und sein Bruder sich näherten. Die wilden Hunde schlichen vor ihnen davon.

Unter den großen grauen Steilwänden starb ein Pferd, versuchte, sich auf ein gebrochenes Bein zu stellen und wieherte, als es wieder hinfiel. Sein Bruder umkreiste es, dann riss er dem Tier die Kehle auf, während es schwach um sich trat und die Augen verdrehte. Als er sich dem Kadaver nähern wollte, schnappte sein Bruder nach ihm und legte die Ohren an, und er schlug mit der Vorderpfote nach ihm und biss ihn ins Bein. Sie kämpften in Gras und Erde und gefallener Asche neben dem toten Pferd, bis sein Bruder sich mit eingeklemmtem Schwanz auf den Rücken wälzte und unterwarf. Ein kleiner Biss noch in die ungeschützte Kehle; dann fraß er und ließ seinen Bruder fressen und leckte ihm das Blut von seinem schwarzen Fell.

Der dunkle Ort zog ihn an, das Haus des Flüsterns, wo alle Menschen blind waren. Er fühlte seine kalten Finger. Der Steingeruch drang ihm wie ein Wispern in die Nase. Er wehrte sich gegen ihr Drängen. Die Dunkelheit mochte er nicht. Er war Wolf. Er war Jäger und Pirscher und Töter, und er gehörte zu seinen Brüdern und Schwestern in den tiefen Wäldern, wo er frei unter dem Sternenhimmel dahinlaufen konnte. Er hockte sich auf die Hinterpfoten, hob den Kopf und heulte. Ich werde nicht gehen, rief er. Ich bin Wolf, ich werde nicht gehen. Trotzdem wurde die Dunkelheit noch dichter, bis sie seine Augen bedeckte und seine Nase füllte und seine Ohren verstopfte, sodass er nicht mehr sehen oder riechen oder hören oder laufen konnte, und die grauen Wände waren verschwunden, das tote Pferd war verschwunden, sein Bruder war verschwunden, alles war still und schwarz und kalt und schwarz und tot und schwarz …

»Bran«, flüsterte eine Stimme. »Bran, komm zurück. Komm jetzt zurück, Bran. Bran …«

Er schloss das dritte Auge und öffnete die beiden anderen, die alten Zwei, die blinden Zwei. An dem dunklen Ort waren alle Menschen blind. Doch irgendetwas hielt ihn fest. Er fühlte Arme um sich herum, die tröstliche Wärme eines Körpers. Er hörte Hodor leise vor sich hin singen: »Hodor, hodor, hodor.«

»Bran?« Das war Meeras Stimme. »Du hast um dich geschlagen und fürchterliche Geräusche gemacht. Was hast du gesehen?«

»Winterfell.« Seine Zunge fühlte sich fremd und dick an. Eines Tages werde ich nicht mehr wissen, wie man spricht, wenn ich zurückkomme. »Es war Winterfell. Alles hat gebrannt. Es hat nach Pferden und Stahl und Blut gerochen. Sie haben alle umgebracht, Meera.«

Er fühlte ihre Hand auf seinem Gesicht, als sie ihm das Haar zurückstrich. »Du bist ganz verschwitzt«, stellte sie fest. »Möchtest du etwas trinken?«

»Ja«, sagte er. Sie hielt ihm den Schlauch an die Lippen, und Bran schluckte so hastig, dass ihm das Wasser aus den Mundwinkeln rann. Er war immer so schwach und durstig, wenn er zurückkam. Und hungrig. Er erinnerte sich an das sterbende Pferd, an den Geschmack des Blutes, an den Geruch verbrannten Fleisches in der Morgenluft. »Wie lange?«

»Drei Tage«, antwortete Jojen. Der Junge war gerade erst herangeschlichen, oder er war die ganze Zeit da gewesen; in dieser blinden schwarzen Welt konnte Bran es nicht sagen. »Wir hatten Angst um dich.«

»Ich war bei Sommer«, meinte Bran.

»Zu lange. Du wirst noch verhungern. Meera hat dir ein bisschen Wasser in den Rachen geträufelt, und wir haben dir Honig in den Mund gestrichen, aber das genügt nicht.«

»Ich habe gegessen«, erwiderte Bran. »Wir haben einen Elch gejagt und mussten eine Baumkatze vertreiben, die ihn stehlen wollte.« Die Katze war hell- und dunkelbraun gewesen und nur halb so groß wie die Schattenwölfe, dafür jedoch sehr wild. Er erinnerte sich noch an ihren Moschusgeruch und daran, wie sie sie vom Ast einer Eiche herab angefaucht hatte.

»Der Wolf hat gefressen«, widersprach Jojen, »nicht du. Pass auf, Bran. Vergiss nicht, wer du bist.«

Er erinnerte sich allzu gut daran, wer er war; Bran der Knabe, Bran der Krüppel. Lieber Bran der Tierling. War es ein Wunder, dass er sich in seinen Sommerträumen, seinen Wolfsträumen wohler fühlte? Hier in der kalten feuchten Dunkelheit der Gruft hatte sich sein drittes Auge endlich geöffnet. Er konnte Sommer erreichen, wann immer er wollte, und einmal hatte er sogar Geist erreicht und zu Jon gesprochen. Obwohl er das vielleicht nur geträumt hatte. Er konnte nicht verstehen, warum Jojen jetzt immer versuchte, ihn zurückzuholen. Bran stemmte sich mit den Armen in eine sitzende Position. »Ich muss Osha sagen, was ich gesehen habe. Ist sie hier? Wohin ist sie gegangen?«

Die Wildlingsfrau antwortete: »Nirgendwohin, Mylord. Ich bin genug im Dunkeln herumgetappt.« Er hörte einen Fuß auf Stein scharren und drehte den Kopf in die Richtung, sah jedoch nichts. Er meinte sie riechen zu können, war sich jedoch nicht sicher. Sie stanken alle gleich, und er hatte nicht so eine feine Nase wie Sommer, der sie unterscheiden konnte. »Letzte Nacht habe ich einem König auf den Fuß gepinkelt«, fuhr Osha fort. »Oder vielleicht auch heute Morgen, wer kann das schon sagen? Ich habe geschlafen, jetzt schlafe ich nicht.« Sie schliefen alle sehr viel, nicht nur Bran. Sonst gab es nichts zu tun. Schlafen und essen und wieder schlafen, und manchmal ein bisschen reden … doch nicht viel, und immer im Flüsterton, das war sicherer. Osha wäre es lieber, wenn sie überhaupt nicht redeten, doch es war unmöglich, Rickon daran zu hindern, und Hodor davon abzuhalten, endlos »hodor, hodor, hodor« vor sich hin zu murmeln.

»Osha«, sagte Bran, »ich habe Winterfell brennen sehen.« Zu seiner Linken konnte er Rickon leise atmen hören.

»Ein Traum«, meinte Osha.

»Ein Wolfstraum«, ergänzte Bran. »Ich konnte es auch riechen. Nichts riecht wie Feuer oder Blut.«

»Wessen Blut?«

»Menschen, Pferde, Hunde, alle. Wir müssen nachsehen

»Diese dünne Haut ist die einzige, die ich habe«, entgegnete Osha. »Wenn dieser Krakenprinz mich erwischt, wird er mich auspeitschen, bis davon nur noch Streifen übrig sind.«

Meera fand im Dunkeln Brans Hand und drückte sie leicht. »Ich kann an deiner Stelle gehen, wenn du Angst hast.«

Bran hörte Finger an Leder herumfummeln, darauf folgte das Geräusch von Stahl, der auf einen Feuerstein geschlagen wurde. Noch einmal. Ein Funken flog, und Zunder fing Feuer. Osha blies vorsichtig. Eine lange helle Flamme reckte sich in die Höhe wie ein Mädchen auf Zehenspitzen. Oshas Gesicht schwebte darüber. Sie hielt die Flamme an eine Fackel. Bran musste blinzeln, als das Pech zu brennen begann und die Welt mit seinem orangefarbenen Licht erfüllte. Die Helligkeit weckte Rickon, der sich gähnend aufsetzte.

Durch die Schatten, die sich bewegten, sah es einen Moment lang aus, als würden die Toten sich ebenfalls erheben. Lyanna und Brandon, Lord Rickard Stark, Lord Edwyl, Lord Willam und sein Bruder Artos der Unversöhnliche, Lord Donnor und Lord Beron und Lord Rodwell, der einäugige Lord Jonnel, Lord Barth und Lord Brandon und Lord Cregan, der gegen den Drachenritter gekämpft hatte. Auf ihren Steinthronen saßen sie, mit Steinwölfen zu ihren Füßen. Hierher kamen sie, wenn alle Wärme ihre Leiber verlassen hatte; dies war die dunkle Halle der Toten, welche die Lebenden nur mit Furcht betraten.

Und im Eingang der leeren Grabnische, die auf Lord Eddard Stark wartete, hockten die sechs Flüchtlinge unter der majestätischen Granitstatue, um ihren kleinen Vorrat aus Brot und Wasser und getrocknetem Fleisch herum. »Kaum noch etwas übrig«, murmelte Osha, während sie die Vorräte durchging. »Ich muss sowieso bald nach oben gehen und etwas zu essen stehlen, sonst müssen wir noch Hodor auffressen. «

»Hodor«, sagte Hodor und grinste sie an.

»Ist es draußen Tag oder Nacht?«, fragte sich Osha. »Ich habe alles Zeitgefühl verloren.«

»Tag«, sagte Bran, »aber es ist ganz dunkel vom Rauch.«

»Ist Mylord sicher?«

Er bewegte seinen zerschmetterten Körper nicht und streckte doch die Hand aus, und einen Augenblick lang sah er doppelt. Dort stand Osha mit der Fackel, und Meera und Jojen und Hodor und die doppelte Reihe hoher Granitsäulen und die längst toten Lords dahinter in der Dunkelheit … doch dort war auch Winterfell, grau und von Rauch eingehüllt, die schweren eisenbeschlagenen Eichentore waren verkohlt und auseinandergebrochen, von der Zugbrücke war nur ein Gewirr zerrissener Ketten und fehlender Bretter geblieben. Leichen schwammen im Wassergraben, Inseln für die Raben.

»Sicher«, verkündete er.

Osha brauchte einen Moment, bis sie das verdaut hatte. »Dann werde ich mal einen Blick riskieren. Ihr bleibt aber dicht hinter mir. Meera, hol Brans Korb.«

»Gehen wir nach Hause?«, fragte Rickon aufgeregt. »Ich will mein Pferd. Und Apfelkuchen und Butter und Honig und Struppi. Gehen wir dorthin, wo Struppel ist?«

»Ja«, versprach Bran, »aber du musst ganz leise sein.«

Meera schnallte Hodor den Weidenkorb auf den Rücken, half, Bran hineinzusetzen, und schob seine gelähmten Beine durch die Löcher. Er hatte ein seltsames Gefühl im Bauch. Er wusste, was sie oben erwartete, aber deswegen hatte er nicht weniger Angst. Als sie aufbrachen, drehte er sich um und warf der Statue seines Vaters einen letzten Blick zu, und es erschien Bran, als sähe er Trauer in Lord Eddards Augen, als wollte er nicht, dass sie fortgingen. Wir müssen, dachte er, es ist Zeit.

Osha trug ihren langen Eichenspeer in der einen Hand und die Fackel in der anderen. Ein Schwert ohne Scheide hatte sie sich über den Rücken gehängt, eins der letzten, die Mikkens Zeichen trugen. Er hatte es für Lord Eddards Gruft geschmiedet, um seinen Geist zu beruhigen. Da Mikken jedoch ermordet worden war, und die Eisenmänner die Waffenkammer bewachten, konnten sie gutem Stahl nicht widerstehen, selbst wenn sie ein Grab ausrauben mussten. Meera hatte Lord Rickards Klinge genommen und beschwerte sich nun, sie sei zu schwer. Bran holte sich die Waffe seines Namensvetters, das Schwert des Onkels, den er nie kennengelernt hatte. Er wusste, dass er im Falle eines Kampfes nur von wenig Nutzen sein würde, doch die Klinge fühlte sich trotzdem gut in seiner Hand an.

Dennoch war es nur ein Spiel, und das wusste Bran ebenso.

Ihre Schritte hallten durch die riesige Gruft. Die Schatten hinter ihnen verschluckten seinen Vater, während die Schatten vor ihnen zurückwichen und andere Statuen enthüllten; dies waren nicht nur Lords, sondern die alten Könige des Nordens. Auf der steinernen Stirn trugen sie Kronen. Torrhen Stark, der Kniende König. Edwyn der Frühlingskönig. Theon Stark, der Hungrige Wolf. Brandon der Verbrenner und Brandon der Schiffsbauer, Jorah und Jonos, Brandon der Böse, Walton der Mondkönig, Edderion der Bräutigam, Eyron, Benjen der Süße und Benjen der Bittere, König Edrick Schneebart. Ihre Gesichter waren ernst und voller Stärke, und manche von ihnen hatten schreckliche Dinge getan, doch ein jeder war ein Stark, und Bran kannte ihre Geschichten. In der Gruft hatte er sich niemals gefürchtet; sie war ein Teil seines Zuhauses, ein Teil seiner Selbst, und er hatte immer gewusst, dass er eines Tages ebenfalls hier unten liegen würde.

Jetzt war er sich dessen nicht mehr so sicher. Wenn ich nach oben gehe, werde ich dann jemals hierher zurückkehren? Wohin werde ich gehen, wenn ich sterbe?

»Wartet«, sagte Osha, als sie an der steinernen Wendeltreppe ankamen, die nach unten zu den tieferen Ebenen mit den Königen noch älterer Zeit auf ihren dunklen Thronen und nach oben an die Oberfläche führte. Sie reichte Meera die Fackel. »Ich taste mich hinauf.« Eine Zeit lang hörten sie ihre Schritte, die immer leiser und leiser wurden, dann war es still. »Hodor«, sagte Hodor nervös.

Bran hatte sich hundert Mal eingeredet, wie sehr er es hasste, sich hier unten in der Dunkelheit zu verstecken, wie sehr er sich nach der Sonne sehnte, danach, mit seinem Pferd durch Wind und Regen zu reiten. Doch jetzt, wo es so weit war, fürchtete er sich plötzlich. In der Finsternis hatte er sich sicher gefühlt; wenn man nicht einmal die Hand vor Augen sehen konnte, war es leicht zu glauben, dass einen auch kein Feind finden würde. Und die steinernen Lords hatten ihm Mut eingeflößt. Obwohl er sie nicht hatte erkennen können, wusste er doch stets, dass sie da waren.

Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis sie wieder etwas hörten. Bran hatte schon Angst, Osha sei etwas zugestoßen. Sein Bruder wurde quengelig. »Ich will nach Hause!«, sagte er laut. Hodor nickte und sagte: »Hodor!« Dann hörten sie endlich Schritte, und kurz darauf trat Osha ins Licht und zeigte eine grimmige Miene. »Irgendetwas blockiert die Tür. Ich kann sie nicht bewegen.«

»Hodor kann alles bewegen«, meinte Bran.

Osha musterte den riesigen Stallburschen abschätzend. »Könnte sein, dass du Recht hast. Lasst uns weitergehen.«

Die Stufen waren schmal, daher mussten sie einzeln hintereinander hinaufsteigen. Osha ging voran. Hinter ihr kam Hodor, und Bran zog den Kopf ein, damit er nicht an die Decke stieß. Meera folgte mit der Fackel, Jojen bildete den Schluss und führte Rickon an der Hand. Im Kreis ging es und immer im Kreis und nach oben, immer nach oben. Bran glaubte, Rauch zu riechen, doch der stammte vielleicht von der Fackel.

Die Tür zur Gruft war aus Eisenholz gemacht. Sie war alt und sehr schwer und schräg eingebaut. Nur eine Person konnte jeweils an sie heran. Osha versuchte es erneut, als sie sie erreichte, doch Bran sah, dass sich die Tür nicht rührte. »Hodor soll es versuchen.«

Zunächst mussten sie Bran aus dem Korb nehmen, damit er nicht zerquetscht würde. Meera setzte sich neben ihn auf die Stufen und legte ihm schützend einen Arm um die Schultern, während Osha und Hodor die Plätze tauschten. »Mach die Tür auf, Hodor«, befahl Bran dem Stallburschen.

Der Riese legte die Hände flach dagegen, drückte und grunzte. »Hodor?« Er schlug mit der Faust gegen das Holz, das sich immer noch nicht bewegte. »Hodor.«

»Lehn dich mit dem Rücken dagegen«, drängte ihn Bran. »Und drück mit den Beinen.«

Hodor drehte sich um und schob. Noch einmal. Und noch einmal. »Hodor!« Er setzte einen Fuß eine Stufe höher, sodass er gebückt unter der geneigten Tür stand, und versuchte, sich aufzurichten. Diesmal ächzte und stöhnte das Holz. »Hodor!« Der andere Fuß kam auf die gleiche Stufe, Hodor spreizte die Beine, holte tief Luft und richtete sich auf. Sein Gesicht lief rot an, und die Adern an seinem Hals traten hervor.

»Hodor hodor hodor hodor hodor hodor HODOR!« Von oben war ein dumpfes Rumpeln zu hören. Dann plötzlich ruckte die Tür nach oben, ein wenig Tageslicht fiel durch den Spalt und blendete Bran einen Augenblick lang. Auf ein erneutes Schieben folgte ein Geräusch, als würden Steine verrutschen, und dann war der Weg frei. Osha schob ihren Speer durch die Öffnung und schlüpfte hinaus, und Rickon zwängte sich zwischen Meeras Beinen hindurch und folgte ihr. Hodor drückte die Tür ganz auf und stieg nach oben. Die Reets mussten Bran die letzten Stufen hinauftragen.

Der Himmel war hellgrau, und überall um sie herum war Rauch. Sie standen im Schatten des Ersten Frieds oder dessen, was davon übrig geblieben war. Eine ganze Seite des Bauwerks war eingestürzt. Mauersteine und Steinfiguren lagen überall über den Hof verstreut. Sie sind genau da gefallen, wo ich abgestürzt bin, dachte Bran, als er es sah. Einige der Steinfiguren waren in so viele Stücke zerbrochen, dass er sich fragte, wie er seinen Sturz damals überhaupt hatte überleben können. In der Nähe pickten Krähen an einem Leichnam herum, der von Steinen zermalmt worden war, doch er lag mit dem Gesicht nach unten, und Bran konnte nicht erkennen, wer es war.

Der Erste Fried war seit vielen hundert Jahren nicht mehr benutzt worden, doch jetzt standen kaum mehr seine Grundmauern. Die Decken im Inneren waren verbrannt und mit ihnen alle Balken. Wo die Wand eingestürzt war, konnte man in die Zimmer blicken, sogar in den Abtritt. Dahinter jedoch stand die Turmruine noch immer und war nicht mehr zerstört als zuvor. Jojen Reet hustete wegen des Rauchs. »Bringt mich nach Hause!«, verlangte Rickon. »Ich will nach Hause!« Hodor stampfte im Kreis herum. »Hodor«, wimmerte er leise. Inmitten von Ruinen und Tod drängten sie sich aneinander.

»Wir haben genug Lärm gemacht, um einen Drachen zu wecken«, sagte Osha, »und trotzdem kommt niemand. Die Burg ist tot und ausgebrannt, genauso, wie Bran es geträumt hat, aber wir sollten lieber …« Plötzlich verstummte sie, weil sie hinter sich etwas gehört hatte, und wirbelte herum.

Zwei schlanke dunkle Schemen kamen hinter der Turmruine hervor und tappten langsam durch den Schutt. Rickon rief glücklich: »Struppi!«, und der schwarze Schattenwolf rannte auf ihn zu. Sommer näherte sich langsamer, rieb den Kopf an Brans Arm und leckte sein Gesicht.

»Wir sollten hier verschwinden«, sagte Jojen. »So viele Tote werden noch andere Wölfe außer Sommer und Struppel anlocken, und nicht alle von ihnen werden auf vier Beinen laufen.«

»Ja, so bald wie möglich«, stimmte Osha zu, »aber wir brauchen Vorräte, und vielleicht finden wir hier noch welche. Bleibt zusammen. Meera, nimm deinen Schild und deck uns den Rücken.«

Es dauerte den ganzen Morgen, bis sie den Rundgang durch die Burg hinter sich gebracht hatten. Die großen Granitmauern standen noch; sie waren hier und da vom Feuer verkohlt, ansonsten jedoch unversehrt. Im Innern hingegen gab es nur Tod und Zerstörung. Die Türen der Großen Halle waren verbrannt und rauchten, die Sparren der Decke hatten nachgegeben, und das ganze Dach war eingestürzt. Die grünen und gelben Scheiben des Glasgartens lagen in Scherben, die Bäume und Früchte und Blumen waren zerfetzt oder entwurzelt. Von den Stallungen, gebaut aus Holz und Stroh, waren nur Asche und Balken und tote Pferde geblieben. Bran dachte an seine Tänzerin und hätte am liebsten geweint. Neben dem Bibliotheksturm dampfte ein kleiner Teich, und heißes Wasser lief aus einem Spalt an der Seite des Turms. Die Brücke zwischen Glockenturm und Rabenschlag war in den Hof gestürzt, und Maester Luwins Türmchen war verschwunden. Durch die schmalen Kellerfenster unter dem Großen Fried sahen sie schwachen roten Schein, und in einem der Lagerhäuser brannte es ebenfalls noch.

Osha rief immer wieder leise in den Rauch hinein, während sie ihre Runde drehten, doch niemand antwortete. Dann sahen sie einen Hund, der sich an einer Leiche zu schaffen machte und davonlief, als er die Schattenwölfe witterte; der Rest der Hunde war in den Zwingern umgekommen. Die Raben des Maesters erwiesen einigen der Toten ebenfalls die Ehre, während sich die Krähen von der Turmruine um die anderen bemühten. Bran erkannte Pickeltym, obwohl ihn ein Axthieb mitten ins Gesicht getroffen hatte. Ein verkohlter Leichnam vor den Überresten von Mutters Septe saß aufrecht da und hatte die schwarzen Fäuste geballt, als wolle er jeden, der ihm zu nahe kam, schlagen. »Wenn die Götter gut sind«, sagte Osha voller Zorn mit leiser Stimme, »werden die Anderen diejenigen holen, deren Werk dies ist.«

»Das war Theon«, erwiderte Bran düster.

»Nein. Sieh nur.« Sie deutete mit dem Speer über den Hof. »Da liegt einer seiner Eisenmänner. Und dort. Das ist Graufreuds Schlachtross, oder? Das Schwarze, in dem die Pfeile stecken.« Sie ging unter den Toten umher und runzelte die Stirn. »Hier, der Schwarze Lorren.« Er hatte so viele Wunden davongetragen, dass sein Bart jetzt rötlich braun wirkte. »Der hat ein paar in die Hölle mitgenommen, ohne Zweifel. « Osha drehte eine der anderen Leichen mit dem Fuß um. »Hier ist ein Wappen. Ein kleiner Mann, ganz in Rot.«

»Der gehäutete Mann von Grauenstein«, sagte Bran.

Sommer heulte und schoss davon.

»Der Götterhain.« Meera Reet rannte dem Schattenwolf nach, wobei sie ihren Schild und ihren Froschspeer bereithielt. Die anderen folgten ihr und suchten sich einen Weg durch Rauch und Schutt. Unter den Bäumen war die Luft besser. Ein paar Kiefern am Rand des Wäldchens waren versengt, doch die feuchte Erde und das grüne Holz im Inneren hatten sich dem Feuer verweigert. »Lebendem Holz wohnt eine Kraft inne«, erklärte Jojen Reet, fast, als wisse er, dass Bran gerade darüber nachdachte, »eine Kraft, die ebenso stark ist wie Feuer.«

Neben dem schwarzen Tümpel, im Schutze des Herzbaums lag Maester Luwin auf dem Bauch am Boden. Eine Blutspur zog sich durch das feuchte Laub zu ihm. Sommer stand vor ihm, und im ersten Moment dachte Bran, der Mann sei tot, doch als Meera seinen Hals berührte, stöhnte der Maester. »Hodor?«, fragte Hodor traurig. »Hodor?«

Sachte drehten sie den Maester auf den Rücken. Er hatte graue Augen und graues Haar, und früher war auch seine Robe grau gewesen, inzwischen war sie allerdings dort, wo das Blut hineingesickert war, schwarz. »Bran«, sagte er leise, als er ihn auf Hodors Rücken sitzen sah. »Und auch Rickon.« Er lächelte. »Die Götter sind gut. Ich wusste es …«

»Was wusstet Ihr?«, fragte Bran unsicher.

»Die Beine, ich habe es geahnt … die Kleider haben gepasst, aber die Muskeln der Beine … armer Junge.« Er hustete, und Blut trat ihm über die Lippen. »Ihr seid … im Wald verschwunden … wie denn?«

»Wir sind gar nicht weggegangen«, erzählte Bran. »Nun ja, nur bis zum Waldrand, dann sind wir umgekehrt. Ich habe die Wölfe losgeschickt, damit sie eine Spur legen, und wir haben uns in Vaters Grab versteckt.«

»In der Gruft.« Luwin lachte leise, und blutiger Schaum bildete sich vor seinem Mund. Als der Maester versuchte, sich zu bewegen, keuchte er heftig vor Schmerz.

Tränen traten Bran in die Augen. Wenn jemand verletzt war, brachte man ihn zum Maester, doch was tat man, wenn der Maester verletzt war?

»Wir müssen eine Bahre bauen, damit wir ihn tragen können«, sagte Osha.

»Das wäre sinnlos«, erwiderte Luwin. »Ich sterbe, Weib.«

»Das dürft Ihr nicht«, widersprach Rickon zornig. »Nein, Ihr dürft nicht.« Neben ihm fletschte Struppi die Zähne und knurrte.

Der Maester lächelte. »Still, Kind, ich bin viel älter als Ihr. Ich darf … sterben, wann ich will.«

»Hodor, runter«, befahl Bran. Hodor kniete neben dem Maester nieder.

»Hör zu«, wandte sich Luwin an Osha. »Die Prinzen … Robbs Erben. Nicht … nicht zusammen … verstehst du?«

Die Wildlingsfrau stützte sich auf ihren Speer. »Ja. Sicherer, wenn sie getrennt sind. Aber wohin sollen wir sie bringen? Ich dachte an die Cerwyns …«

Maester Luwin schüttelte den Kopf, und es war deutlich zu erkennen, wie viel Anstrengung ihn das kostete. »Cerwyns Junge ist tot. Ser Rodrik, Leobald Tallhart, Lady Hornwald … alle ermordet. Tiefwald ist gefallen, Maidengraben auch, und bald auch Torrhenschanze. Eisenmänner an der Steinigen Küste. Und im Osten der Bastard von Bolton.«

»Wohin also?«, fragte Osha.

»Weißwasserhafen … die Umbers … ich weiß nicht … überall Krieg … jeder kämpft gegen seinen Nachbarn, und der Winter naht … solche Torheit, solch finsterer Wahnsinn …« Maester Luwin streckte die Hand aus, ergriff Brans Unterarm, und seine Finger packten mit der Kraft der Verzweiflung zu. »Ihr müsst jetzt stark sein. Stark.«

»Das werde ich«, antwortete Bran, obwohl es ihm schwerfiel. Ser Rodrik und Maester Luwin getötet, alle, alle ermordet …

»Gut«, sagte der Maester. »Guter Junge. Ganz Eures Vaters Sohn, Bran. Jetzt geht.«

Osha blickte zum Wehrholzbaum hinauf, zu dem roten Gesicht, das in den hellen Stamm geschnitzt war. »Und Euch überlassen wir den Göttern?«

»Ich bitte nur …« Der Maester schluckte. »… um … um etwas Wasser, und … einen zweiten Gefallen. Wenn du vielleicht …«

»Ja.« Sie wandte sich an Meera. »Nimm die Jungen mit.«

Jojen und Meera führten Rickon zwischen sich aus dem Götterhain. Hodor folgte ihnen. Niedrige Äste schlugen Bran ins Gesicht, und die Blätter wischten ihm die Tränen fort. Osha gesellte sich kurze Zeit später im Hof zu ihnen. Über Maester Luwin sagte sie nichts. »Hodor muss bei Bran bleiben, um ihn zu tragen«, sagte die Wildlingsfrau barsch. »Ich nehme Rickon mit.«

»Wir bleiben bei Bran«, meinte Jojen Reet.

»Ja, das habe ich mir schon gedacht.« Osha nickte. »Ich denke, ich werd’s mal mit dem Osttor versuchen und ein Stück dem Königsweg folgen.«

»Dann gehen wir durchs Jägertor«, schlug Meera vor.

»Hodor«, sagte Hodor.

Zunächst machten sie jedoch bei der Küche Halt. Osha fand einige Laibe Brot, die noch essbar waren, und sogar ein kaltes gebratenes Huhn, das sie in zwei Hälften teilte. Meera entdeckte einen Topf Honig und einen großen Sack Äpfel. Draußen verabschiedeten sie sich voneinander. Rickon schluchzte und klammerte sich an Hodors Bein, bis Osha ihm einen Klaps mit ihrem Speer versetzte. Dann folgte er ihr sofort. Struppel schlich hinter den beiden her. Das Letzte, was Bran von ihnen sah, war der Schwanz des Schattenwolfs, der hinter der Turmruine verschwand.

Das eiserne Fallgitter des Jägertores hatte sich in der Hitze verzogen und ließ sich nur wenig hochziehen. Sie mussten sich einer nach dem anderen unter den Spitzen hindurchzwängen.

»Gehen wir zu eurem Hohen Vater?«, fragte Bran, während sie die Zugbrücke zwischen den Mauern überquerten. »Nach Grauwasser Wacht?«

Meera sah ihren Bruder erwartungsvoll an. »Unser Weg führt nach Norden«, verkündete Jojen.

Am Rande des Wolfswaldes drehte sich Bran in seinem Korb ein letztes Mal nach der Burg um, in der er sein gesamtes bisheriges Leben verbracht hatte. Ein paar Rauchschleier stiegen noch immer in den grauen Himmel, jedoch nicht mehr, als an einem kalten Herbstnachmittag aus den Schornsteinen Winterfells aufgestiegen wären. An manchen Schießscharten bemerkte er Rußflecke, und an der Außenmauer fehlte die eine oder andere Zinne, doch aus der Ferne sah der Schaden unbedeutend aus. Hinter den Mauern ragten wie seit Hunderten von Jahren die Friede und Türme auf, und man konnte kaum sehen, dass die Burg geplündert und ausgebrannt war. Der Stein ist stark, sagte sich Bran. Die Wurzeln der Bäume reichen tief, und unter der Erde sitzen die Könige des Winters auf ihren Thronen. Solange sie existierten, würde Winterfell weiterbestehen. Es war nicht tot, sondern nur gefallen. So wie ich, dachte er. Ich bin auch nicht tot.

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