THEON

Der Himmel hing voll düsterer Wolken, die Wälder lagen tot und gefroren da. Wurzeln griffen nach Theons Füßen, während er rannte, kahle Zweige schlugen ihm ins Gesicht und hinterließen dünne Blutstreifen auf seinen Wangen. Atemlos stürzte er durch die Sträucher, und Eiszapfen brachen von Ästen. Gnade, schluchzte er. Hinter sich hörte er ein schauderhaftes Heulen, das ihm das Blut gerinnen ließ. Gnade, Gnade. Als er über die Schulter blickte, sah er sie kommen, riesige Wölfe, so groß wie Pferde, mit den Köpfen kleiner Kinder. Oh, Gnade, Gnade. Blut, schwarz wie Pech, tropfte aus ihren Schnauzen und brannte Löcher in den Schnee, wo es hinfiel. Mit jedem Schritt kamen sie näher. Theon versuchte schneller zu rennen, doch seine Beine gehorchten ihm nicht. Alle Bäume hatten Gesichter, und sie lachten ihn aus, lachten, und dann war da wieder das Heulen. Er konnte den heißen Atem der Tiere hinter sich riechen, den Gestank nach Schwefel und Fäulnis. Sie sind tot, tot, ich habe mit angesehen, wie sie umgebracht wurden, wollte er schreien, ich habe gesehen, wie man ihre Köpfe in Teer getaucht hat, doch als er den Mund öffnete, brachte er nur ein Stöhnen hervor, dann berührte ihn etwas, und er fuhr herum und brüllte …

… und griff nach dem Dolch, den er neben seinem Bett aufbewahrte, stieß ihn jedoch lediglich zu Boden. Wex sprang zurück. Stinker stand hinter dem Stummen, sein Gesicht wurde von der Kerze erhellt, die er in der Hand hielt. »Was?«, rief Theon. Gnade. »Was willst du? Warum bist du in meinem Schlafzimmer? Warum?«

»Mylord Prinz«, sagte Stinker, »Eure Schwester ist nach Winterfell gekommen. Ihr habt angeordnet, dass man es Euch unverzüglich mitteilt, wenn sie eintrifft.«

»Das wurde auch Zeit«, murmelte Theon und strich sich mit den Fingern durchs Haar. Er hatte schon angefangen zu fürchten, Asha wolle ihn seinem Schicksal überlassen. Gnade. Er blickte aus dem Fenster, wo das erste schwache Licht der Dämmerung die Türme von Winterfell berührte. »Wo ist sie?«

»Lorren hat sie und ihre Männer zum Frühstück in die Große Halle geführt. Werdet Ihr sie jetzt begrüßen?«

»Ja.« Theon warf die Decke zurück. Das Feuer war herabgebrannt. »Wex, heißes Wasser.« Er konnte Asha nicht so zerzaust und durchgeschwitzt gegenübertreten. Wölfe mit Kindergesichtern … Er schauderte. »Schließt die Fensterläden. « Im Zimmer war es so kalt wie in dem Wald aus seinem Traum.

In letzter Zeit waren alle seine Träume kalt, und einer scheußlicher als der andere. Gestern Nacht war er wieder in der Mühle gewesen, hatte auf den Knien gelegen und die Toten angezogen. Ihre Glieder wurden bereits steif, sie schienen Widerstand zu leisten, während er mit halberfrorenen Fingern an ihnen herumfummelte, Hosen hochzog und Bänder verschnürte, pelzbesetzte Stiefel über die unbeweglichen Füße stülpte, einen nietenbesetzten Ledergürtel um eine Taille schnallte, die er mit den Händen hätte umfassen können. »Das habe ich nie gewollt«, erklärte er ihnen. »Aber sie haben mir keine Wahl gelassen.« Die Leichen gaben keine Antwort, wurden nur kälter und schwerer.

In der Nacht davor war es die Müllersfrau gewesen. Theon hatte ihren Namen vergessen, erinnerte sich jedoch noch an ihren Körper, die großen, weichen Brüste und die Schwangerschaftsstreifen auf ihrem Bauch, daran, wie sie seinen Rücken zerkratzt hatte, während er sie nahm. Letzte Nacht war er im Traum abermals zu ihr ins Bett gestiegen, doch diesmal hatte sie oben und unten Zähne gehabt, und sie riss ihm die Kehle heraus, während sie seine Männlichkeit abbiss. Der reinste Wahnsinn. Auch ihren Tod hatte er mit angesehen. Gelmarr hatte sie mit einem Axthieb niedergestreckt, während sie Theon um Gnade angefleht hatte. Lass mich in Ruhe, Weib. Er hat dich getötet, nicht ich. Und er ist auch tot. Wenigstens Gelmarr spukte nicht durch Theons Schlaf.

Der Traum war fast vergessen, als Wex mit dem Wasser zurückkehrte. Theon wusch sich Schweiß und Schlaf vom Körper und ließ sich Zeit beim Ankleiden. Asha hatte ihn lange genug warten lassen; jetzt war die Reihe an ihm. Er wählte ein Seidengewand mit schwarzen und goldenen Streifen und ein Lederwams mit Silbernieten … erst da fiel ihm wieder ein, dass seine verdammte Schwester mehr Wert auf Klingen als auf Schönheit legte. Fluchend zog er sich aus und erneut an: in dichte schwarze Wolle und ein Kettenhemd. Um die Hüfte schnallte er den Gurt mit Schwert und Dolch und dachte an den Abend zurück, an dem sie ihn an der Tafel seines eigenen Vaters gedemütigt hatte. Ihr süßes kleines Kind, ja. Nun, ich habe auch ein Messer und weiß, wie man damit umgeht.

Zuletzt setzte er seine Krone auf, einen kalten, fingerstarken Eisenreif, der mit dicken schwarzen Diamanten und Goldklümpchen besetzt war. An der hässlichen Form konnte er nichts ändern. Mikken war tot, und der neue Schmied brachte kaum Nägel und Hufeisen zu Stande. Theon tröstete sich mit dem Gedanken, dass es nur die Krone eines Prinzen war. Sobald man ihn zum König krönte, würde er eine hübschere bekommen.

Vor der Tür wartete Stinker mit Urzen und Kromm. Theon ging mit ihnen hinunter. In den letzten Tagen ließ er sich überallhin von Wachen begleiten, selbst auf den Abtritt. Winterfell wollte seinen Tod. In der Nacht, in der er vom Ahornwasser zurückkehrte, war Gelmarr der Grimmige auf einer Treppe gestolpert und hatte sich das Genick gebrochen. Am nächsten Tag hatte man Aggar die Kehle von einem Ohr zum anderen durchgeschnitten. Gynir Rotnase wurde überaus vorsichtig, trank keinen Wein mehr, schlief in Halsberge, Harnisch und Helm, und holte sich den lautesten Hund aus den Zwingern, damit der ihn warnte, falls sich jemand an seinen Schlafplatz heranschlich. Trotzdem erwachte die Burg eines Nachts vom Gebell des kleinen Kläffers. Der Hund rannte im Kreis um den Brunnen herum, in dem Rotnase trieb – ertrunken.

Diese Morde durfte er nicht ungestraft lassen. Farlen war ebenso verdächtig wie jeder andere, daher saß Theon zu Gericht, erklärte ihn für schuldig und verurteilte ihn zum Tode. Selbst das ging schief. Während er vor dem Richtblock kniete, sagte der Hundemeister: »M’lord Eddard hat seine Urteile immer selbst vollstreckt.« Theon musste die Axt nehmen, oder er hätte wie ein Feigling ausgesehen. Seine Hände schwitzten, deshalb drehte sich der Axtstiel in seinem Griff, und der erste Schlag landete zwischen Farlens Schultern. Drei weitere Hiebe brauchte er, bis er sich durch Knochen und Muskeln gehauen und den Kopf vom Rumpf getrennt hatte, und anschließend wurde ihm übel, als er daran dachte, wie oft er mit Farlen bei einem Becher Met über die Jagd und über Hunde gesprochen hatte. Was sollte ich denn sonst tun?, wollte er die Leiche anbrüllen. Die Eisenmänner können keine Geheimnisse bewahren, sie mussten sterben, und irgendwem musste ich die Schuld geben. Theon wünschte nur, er hätte ihn sauberer getötet. Ned Stark hatte immer nur einen einzigen Hieb benötigt, um einem Mann den Kopf abzuschlagen.

Nach Farlens Tod hatten auch die Morde ein Ende, doch selbst das hellte die düstere Stimmung seiner Männer nicht auf. »In der offenen Schlacht fürchten sie keinen Gegner«, erklärte ihm der Schwarze Lorren, »aber es ist etwas anderes, unter Feinden zu leben und nicht zu wissen, ob die Waschfrau dich küssen oder töten will, ob der Dienstjunge dir Bier oder Gift einschenkt. Am besten sollten wir diesen Ort verlassen. «

»Ich bin der Prinz von Winterfell!«, hatte Theon geschrien. »Hier ist mein Sitz, und kein Mann wird mich von hier vertreiben. Und auch keine Frau!«

Asha. Das ist ihr Werk. Das Werk meiner eigenen Schwester, mögen die Anderen sie mit einem Schwert ficken. Sie wollte seinen Tod, damit sie ihm seinen Platz in der Thronfolge stehlen konnte. Deshalb hatte sie ihn hier warten lassen und die dringenden Befehle missachtet, die er ihr geschickt hatte.

Sie saß auf dem hohen Stuhl der Starks und zerriss gerade einen Kapaun mit den Fingern. Die Halle war von den Stimmen ihrer Männer erfüllt, die mit Theons Leuten tranken und sich Geschichten erzählten. Sie machten einen solchen Lärm, dass man sein Eintreten nicht bemerkte. »Wo sind die anderen?«, wollte er von Stinker wissen. An den Tischen saßen kaum fünfzig Männer, die meisten davon gehörten ihm. In Winterfells großer Halle hätten leicht zehn Mal so viele Platz gefunden.

»Das sind alle, M’lord Prinz.«

»Alle? Wie viele Männer hat sie mitgebracht?«

»Zwanzig, wenn ich richtig gezählt habe.«

Theon Graufreud schritt zu seiner Schwester hinüber, die sich auf dem Stuhl flegelte. Asha lachte gerade über eine Geschichte, die einer ihrer Männer zum Besten gegeben hatte, verstummte jedoch, als er sich näherte. »Seht nur, der Prinz von Winterfell.« Sie warf den Hunden, die in der Halle herumschnüffelten, einen Knochen hin. Unter der Hakennase verzog sich der breite Mund zu einem spöttischen Grinsen. »Oder ist es der Prinz der Narren?«

»Neid steht einer Maid schlecht.«

Asha leckte sich das Fett von den Fingern. Eine schwarze Locke fiel ihr in die Augen. Ihre Männer riefen nach Brot und Speck. Wenn sie auch nur wenige waren, veranstalteten sie einen ziemlichen Lärm. »Neid, Theon?«

»Wie würdest du es sonst nennen? Mit dreißig Mann habe ich Winterfell in einer Nacht erobert. Du hast tausend und einen ganzen Mond gebraucht, um Tiefwald Motte einzunehmen. «

»Also bin ich wohl nicht so ein großer Krieger wie du.« Sie leerte ein Horn Bier und wischte sich den Mund mit dem Handrücken ab. »Über deinen Toren habe ich Köpfe gesehen. Sag mir, welcher hat sich den erbittertsten Kampf mit dir geliefert, der Krüppel oder der Säugling?«

Das Blut schoss Theon ins Gesicht. Diese Köpfe bereiteten ihm keine Freude, und es war auch kein Vergnügen gewesen, die enthaupteten Leiber der Kinder vor den Insassen der Burg zur Schau zu stellen. Die Alte Nan hatte dagestanden und den zahnlosen Mund geöffnet und geschlossen, ohne dass ein Laut herauskam, und Farlen hatte sich auf Theon geworfen und dabei geknurrt wie einer seiner Hunde. Urzen und Cadwyl hatten ihn mit ihren Speerschäften bewusstlos geschlagen. Wie konnte das alles nur geschehen?, hatte er sich gefragt, während er über den von Fliegen umschwärmten Leichen stand.

Lediglich Maester Luwin hatte den Mut aufgebracht, näher zu treten. Mit versteinertem Gesicht hatte der kleine graue Mann ihn um die Erlaubnis angefleht, den Jungen die Köpfe wieder anzunähen, damit man sie unten in der Gruft zu den anderen toten Starks legen konnte.

»Nein«, hatte Theon ihm erwidert. »Nicht in die Gruft.«

»Aber warum denn nicht, Mylord? Gewiss können sie Euch dort keinen Schaden zufügen. Das ist ihr angestammter Platz. Alle Gebeine der Starks …«

»Ich habe Nein gesagt.« Er brauchte die Köpfe für die Mauer, die enthaupteten Leiber hatte er jedoch noch am gleichen Tag verbrennen lassen, zusammen mit ihren Kleidern. Hinterher hatte er sich in die Knochen und die Asche gekniet und ein Klümpchen aus geschmolzenem Silber und gesprungenem Jett herausgesucht; das war alles, was von Brans Wolfskopfbrosche geblieben war. Dieses Stück besaß er noch immer.

»Ich habe Bran und Rickon großzügig behandelt«, erklärte er seiner Schwester. »An ihrem Schicksal tragen sie selbst die Schuld.«

»Das gilt für uns alle, kleiner Bruder.«

Er war mit seiner Geduld am Ende. »Wie soll ich eigentlich Winterfell halten, wenn du mir nur zwanzig Männer bringst?«

»Zehn«, berichtigte Asha ihn. »Die anderen kehren mit mir zurück. Du willst doch deine geliebte Schwester nicht ohne Eskorte den Gefahren des Waldes aussetzen, oder? Da drin gibt es Schattenwölfe, die durch die Dunkelheit schleichen.« Sie richtete sich auf und erhob sich von dem großen Steinsessel. »Komm, suchen wir uns ein Plätzchen, an dem wir uns unter vier Augen unterhalten können.«

Sie hat Recht, das wusste er, obwohl es ihn ärgerte, dass sie diese Entscheidung getroffen hatte. Ich hätte niemals in die Halle kommen sollen, erkannte er zu spät. Ich hätte sie zu mir rufen sollen.

Doch dafür war es nun zu spät. Theon blieb keine andere Wahl, als Asha in Ned Starks Solar zu führen. Dort platzte er vor der Asche im Kamin heraus: »Dagmer hat den Kampf bei Torrhenschanze verloren …«

»Der alte Kastellan hat seinen Schildwall durchbrochen, ja«, erwiderte Asha ruhig. »Was hast du denn erwartet? Dieser Ser Rodrik kennt das Land ganz genau, Spaltkinn dagegen nicht, und viele der Nordmannen waren beritten. Den Eisenmännern fehlt die Disziplin, um einem Angriff gepanzerter Reiterei standzuhalten. Dagmer ist nicht gefallen, und dafür solltest du dankbar sein. Er hat die Überlebenden zur Steinigen Küste zurückgeführt.«

Sie weiß mehr als ich, begriff Theon. Das fachte seinen Zorn nur noch mehr an. »Der Sieg hat Leobald Tallhart genug Mut gemacht, sich aus den Mauern zu wagen und sich zu Ser Rodrik zu gesellen. Den Berichten zufolge hat Lord Manderly ein Dutzend Boote mit Rittern, Streitrössern und Belagerungsmaschinen flussaufwärts geschickt. Die Umbers versammeln sich ebenfalls jenseits des Letzten Flusses. Noch vor der Mondwende wird eine Armee vor meinen Toren stehen, und du bringst mir nur zehn Mann?«

»Ich hätte dir gar keine bringen müssen.«

»Ich habe dir befohlen …«

»Vater hat mir befohlen, Tiefwald Motte einzunehmen«, fauchte sie ihn an. »Er hat nichts davon gesagt, meinen kleinen Bruder zu retten.«

»Vergiss Tiefwald«, sagte er. »Das ist ein hölzerner Pisspott auf einem Hügel. Winterfell ist das Herz des Landes, also wie soll ich es ohne Truppen halten?«

»Darüber hättest du dir vielleicht Gedanken machen sollen, bevor du es erobert hast. O ja, du hast es sehr klug angestellt, das will ich nicht bestreiten. Aber wenn du nur etwas Verstand gehabt hättest, hättest du die Burg dem Erdboden gleichgemacht und die beiden Prinzen als Geiseln nach Peik gebracht. Dann hättest du den Krieg mit einem Streich gewonnen. «

»Das hätte dir gefallen, ja? Meine Beute in Schutt und Asche zu sehen?«

»Deine Beute wird dein Verhängnis werden. Kraken erheben sich aus dem Meer, Theon, oder hast du das während deiner Jahre unter den Wölfen vergessen? Unsere Stärke sind unsere Langschiffe. Mein hölzerner Pisspott steht nahe genug am Meer, dass ich Nachschub und frische Männer bekommen kann, wann immer es notwendig ist. Aber Winterfell befindet sich Hunderte von Meilen im Inneren des Landes, es ist von Wäldern, Bergen und feindlichen Festungen und Burgen umgeben. Jetzt ist jeder Mann innerhalb eines Umkreises von tausend Meilen dein Feind, vergiss das nicht. Spätestens, seit du dein Torhaus mit diesen Köpfen verziert hast.« Asha schüttelte den Kopf. »Wie konntest du bloß so ein verdammter Narr sein? Kinder …«

»Sie haben sich mir widersetzt!«, schrie er ihr ins Gesicht. »Und außerdem war es Blut um Blut; zwei Söhne musste Eddard Stark für Rodrik und Maron bezahlen.« Die Worte sprudelten aus ihm hervor, und sein Vater würde sie gutheißen, dessen war er sicher. »Ich habe den Geistern meiner Brüder Frieden gegeben.«

»Unserer Brüder«, erinnerte ihn Asha und lächelte schief; anscheinend nahm sie sein Gerede über Rache nicht ernst. »Hast du ihre Geister von Peik mitgebracht, Bruder? Und ich dachte immer, sie würden nur Vater heimsuchen.«

»Wann hat ein Mädchen je den Durst eines Mannes nach Rache verstanden?« Selbst wenn seinem Vater das Geschenk, das Theon ihm mit Winterfell machte, nicht gefiel, so musste Theons Rache für seine Brüder seine Zustimmung finden!

Asha lachte schnaubend. »Dieser Ser Rodrik wird vermutlich den gleichen männlichen Durst verspüren, hast du daran auch schon einmal gedacht? Du bist Blut von meinem Blut, Theon, gleichgültig, was du sonst bist. Um der Mutter willen, die uns geboren hat, kehre mit mir nach Tiefwald Motte zurück. Brenne Winterfell nieder und ziehe dich zurück, solange du noch kannst.«

»Nein.« Theon rückte seine Krone zurecht. »Ich habe diese Burg eingenommen, und ich beabsichtige, sie zu halten.«

Seine Schwester sah ihn eine Zeit lang an. »Dann magst du sie halten«, sagte sie, »bis zum Ende deines Lebens.« Sie seufzte. »Es riecht nach Torheit, aber was versteht ein schüchternes Mädchen schon von solchen Dingen?« An der Tür schenkte sie ihm noch ein letztes spöttisches Lächeln. »Du sollst nur eins wissen: Das ist die hässlichste Krone, die ich je zu Gesicht bekommen habe. Hast du die selbst geschmiedet? «

Sie ließ ihn rauchend vor Zorn stehen und blieb nicht länger, als notwendig war, um die Pferde zu tränken und zu füttern. Die Hälfte der Männer, die mit ihr eingetroffen waren, nahm sie wie angedroht wieder mit, und sie ritt zum Jägertor hinaus, dem gleichen Tor, durch das Bran und Rickon geflohen waren.

Theon beobachtete sie von der Mauer aus. Während seine Schwester im Nebel des Wolfswaldes verschwand, fragte er sich, warum er nicht auf sie gehört hatte und mit ihr gegangen war.

»Ist sie fort?« Stinker stand neben ihm.

Theon hatte sein Kommen nicht gehört und ihn auch nicht gerochen. Es gab kaum jemanden, der ihm jetzt hätte ungelegener kommen können. Er hatte ein unbehagliches Gefühl dabei, wenn er diesen Mann lebend herumlaufen sah, angesichts dessen, was der Kerl wusste. Ich hätte ihn töten lassen sollen, nachdem er die anderen erledigt hat, schoss es ihm durch den Kopf, doch dieser Gedanke machte ihn nervös. Wenn es auch unwahrscheinlich erschien, Stinker konnte lesen und schreiben, und er war verschlagen genug, dass er vermutlich seine Taten irgendwo schriftlich niedergelegt hatte.

»M’lord Prinz, wenn Ihr verzeiht, aber es ist nicht recht, dass sie Euch im Stich lässt. Und zehn Männer werden nicht genügen. Bei weitem nicht genügen.«

»Dessen bin ich mir bewusst«, sagte Theon. Und Asha ebenfalls.

»Nun, ich könnte Euch vielleicht helfen«, sagte Stinker. »Gebt mir ein Pferd und einen Beutel Münzen, dann suche ich ein paar gute Kerle für Euch.«

Theon kniff die Augen zusammen. »Wie viele?«

»Hundert vielleicht. Möglicherweise zweihundert und mehr.« Er lächelte, dabei leuchteten seine hellen Augen. »Ich wurde nördlich von hier geboren und kenne viele Männer, und viele Männer kennen Stinker.«

Zweihundert Mann waren keine Armee, doch man brauchte keine Tausende, um eine so starke Burg wie Winterfell zu verteidigen. Solange sie wussten, mit welchem Ende des Speers man einen Mann tötete, würden sie vielleicht das Zünglein an der Waage sein. »Tu, was du sagst, und ich werde mich erkenntlich zeigen. Dann darfst du dir deine Belohnung selbst aussuchen.«

»Nun, M’lord, ich habe keine Frau mehr gehabt, seit ich bei Lord Ramsay war«, sagte Stinker. »Ich habe ein Auge auf diese Palla geworfen, und ich höre, dass sie auch nicht mehr unschuldig ist, da …«

Er war mit Stinker zu weit gegangen, um jetzt einen Rückzieher zu machen. »Zweihundert Mann, und sie gehört dir. Aber ein Mann weniger, und du kannst es weiter mit den Schweinen treiben.«

Stinker brach noch vor Sonnenuntergang auf und nahm einen Beutel Silber der Starks und Theons letzte Hoffnung mit sich. Wahrscheinlich werde ich den Kerl nie wiedersehen, dachte er verbittert, nichtsdestotrotz musste er nach diesem Strohhalm greifen.

In dieser Nacht träumte er von dem Fest, das Ned Stark gegeben hatte, als König Robert Winterfell besucht hatte. Die Halle war von Musik und Lachen erfüllt, obwohl sich draußen die kalten Winde erhoben. Zuerst gab es Wein und gebratenes Fleisch, und Theon machte Scherze, zwinkerte den Mägden zu und genoss die Feier … bis er bemerkte, dass es im Raum immer dunkler wurde. Die Musik war plötzlich nicht mehr so fröhlich; er hörte Disharmonien und eigenartige Stille, und die Töne hingen blutend in der Luft. Dann wurde der Wein in seinem Mund sauer, und als er von seinem Becher aufsah, sah er, dass er mit Toten speiste.

König Roberts Bauch war aufgeschlitzt und seine Eingeweide quollen auf den Tisch, und Lord Eddard saß ohne Kopf neben ihm. Leichen hockten auf den Bänken, graubraunes Fleisch fiel ihnen von den Knochen, wenn sie die Becher zum Trinkspruch hoben, Würmer krochen aus den Löchern, wo sich ihre Augen befunden hatten. Er kannte sie, jeden von ihnen; Jory Cassel und den Dicken Tom, Porther und Cayn und Hallen, den Pferdemeister, und alle die übrigen, die mit in den Süden nach Königsmund geritten und niemals zurückgekehrt waren. Mikken und Chayle saßen nebeneinander, der eine tropfnass von Blut, der andere von Wasser. Benfred Tallhart und seine Wilden Hasen besetzten den größten Teil eines Tisches. Das Müllerweib war ebenfalls da, und Farlen, und sogar der Wildling, den Theon an dem Tag im Wolfswald getötet hatte, an dem er Bran gerettet hatte.

Und da waren noch viele andere, die er niemals kennengelernt hatte, Gesichter, die er nur in Stein gemeißelt gesehen hatte. Das schlanke, traurige Mädchen mit der Krone aus hellblauen Rosen und dem weißen Kleid, das über und über mit Blut besudelt war, konnte nur Lyanna sein. Ihr Bruder Brandon stand neben ihr, und Lord Rickard hinter ihnen. Entlang der Wände zogen Gestalten halb sichtbar durch die Schatten, bleiche Schemen mit langen, grimmigen Gesichtern. Ihr Anblick ließ Theon in kalter Furcht erschauern. Dann öffneten sich die hohen Türen mit einem Krachen, und ein eisiger Sturmwind wehte durch die Halle, und Robb kam aus der Nacht herein. Grauwind trottete mit grell leuchtenden Augen neben ihm her, und Mann und Wolf bluteten aus hundert schrecklichen Wunden.

Theon erwachte mit einem Schrei und erschreckte Wex so sehr, dass der Junge nackt aus dem Zimmer rannte. Die Wachen platzten mit gezogenen Schwertern herein, und Theon befahl ihnen, den Maester zu holen. Als Luwin zerzaust und verschlafen eintraf, hatte Theon das Zittern seiner Hände mit einem Becher Wein beruhigt, und seine Angst war ihm peinlich. »Ein Traum«, murmelte er, »es war nur ein Traum. Das hat nichts zu bedeuten.«

»Nichts«, stimmte Luwin ernst zu. Er ließ ihm einen Schlaftrunk da, doch Theon goss ihn in den Abtritt, nachdem der Maester gegangen war. Luwin war schließlich nicht nur Maester, sondern auch ein Mann, und dieser Mann konnte ihn nicht lieben. Er will, dass ich schlafe, ja … und nie wieder aufwache. Das würde ihm genauso gut gefallen wie Asha.

Er ließ Kyra holen, stieß die Tür mit dem Fuß zu, bestieg das Mädchen und nahm es mit einer Wut, die er nie in sich vermutet hätte. Als er fertig war, schluchzte sie, ihr Hals und ihre Brüste waren mit blauen Flecken und Bissstellen übersät. Theon stieß sie aus dem Bett und warf ihr eine Decke zu. »Raus mit dir.«

Trotzdem konnte er noch immer nicht schlafen.

Im Morgengrauen zog er sich an, verließ sein Zimmer und ging auf der äußeren Mauer auf und ab. Ein frischer Herbstwind wehte durch die Zinnen, rötete seine Wangen und brannte in seinen Augen. Theon beobachtete, wie der Wald sich allmählich von Grau in Grün verwandelte, während es langsam hell wurde. Zur Linken sah er die Turmspitzen auf der inneren Mauer, deren Dächer von der aufgehenden Sonne vergoldet wurden. Die roten Blätter des Wehrholzes leuchteten flammend im Grün. Ned Starks Baum, dachte er, und Starks Wald. Starks Burg, Starks Schwert, Starks Götter. Dieser Ort gehört ihnen, nicht mir. Ich bin ein Graufreud von Peik, der geboren wurde, um einen Kraken auf seinen Schild zu malen und über das große Salzmeer zu segeln. Ich hätte mit Asha gehen sollen.

Auf den Eisendornen des Torhauses warteten die Köpfe.

Theon betrachtete sie, während der Wind mit geisterhafter Hand an seinem Mantel zerrte. Die Müllerjungen waren in Brans und Rickons Alter gewesen, hatten etwa die gleiche Größe und Haarfarbe gehabt, und nachdem Stinker ihnen die Haut vom Gesicht gezogen und ihre Köpfe in Pech getaucht hatte, war es leicht, in den verunstalteten Klumpen verwesenden Fleisches ähnliche Züge zu sehen. Die Menschen waren solche Narren. Wenn wir behauptet hätten, es seien Schafsköpfe, hätten sie Hörner gesehen.

Загрузка...