ARYA

Die Köpfe waren in Teer getaucht worden, damit sie langsamer verfaulten. Jeden Morgen, wenn Arya zum Brunnen ging, um frisches Wasser für Roose Boltons Waschbecken zu holen, musste sie an ihnen vorbei. Die Gesichter waren nach draußen gewandt, daher konnte sie sie nicht sehen, doch zu gern stellte sie sich vor, einer von ihnen sei Joffrey. Dann versuchte sie sich vorzustellen, wie sein hübsches Gesicht aussähe, wenn man es in Teer tauchte. Wäre ich eine Krähe, würde ich hinfliegen und ihm die dummen, fetten, schmollenden Lippen wegpicken.

Den Köpfen mangelte es nie an Aufmerksamkeit. Die Aaskrähen kreisten ausgelassen und respektlos über dem Wehrgang und stritten sich um jedes Auge, kreischten und krächzten einander an und flatterten auf, wenn die Wachtposten vorbeischlenderten. Manchmal gesellten sich auch die Raben des Maesters zu dem Festmahl, flatterten auf breiten schwarzen Schwingen von ihrem Schlag herab. Sobald die Raben auftauchten, stoben die Krähen davon und kehrten erst zurück, nachdem die größeren Vögel wieder verschwunden waren.

Erinnern sich die Raben an Maester Tothmure?, fragte sich Arya. Sind sie traurig wegen ihm? Wundern sie sich, warum er nicht antwortet, wenn sie nach ihm rufen? Vielleicht konnten die Toten in einer geheimen Sprache mit ihnen sprechen, welche die Lebenden nicht hörten.

Tothmure war mit der Axt hingerichtet worden, weil er in der Nacht, in der Harrenhal gefallen war, Vögel nach Casterlystein und Königsmund geschickt hatte, Lucan der Waffenschmied war tot, weil er Schwerter für die Lennisters gefertigt hatte, Gevatterin Harra, weil sie Lady Whents Haushalt gezwungen hatte, Lord Tywin zu dienen, und der Haushofmeister, weil er Lord Tywin den Schlüssel zur Schatzkammer übergeben hatte. Der Koch war verschont worden (mancher behauptete, weil er die Wieselsuppe gekocht hatte), doch für die hübsche Pia und die anderen Frauen, die sich mit Lennisters Soldaten eingelassen hatten, waren Pranger gezimmert worden. Nackt und kahl geschoren wurden sie im mittleren Hof neben der Bärengrube festgebunden, wo jeder Mann, der wollte, sich ihrer bedienen durfte.

Drei Frey-Soldaten vergnügten sich an diesem Morgen gerade mit ihnen, als Arya zum Brunnen ging. Sie wandte den Blick ab, hörte allerdings trotzdem das Lachen der Männer. Der Eimer war schwer, wenn er voll war. Sie drehte sich um und wollte gerade zum Königsbrandturm zurück, da packte Gevatterin Amabel sie am Arm. Das Wasser schwappte über und ergoss sich über Amabels Beine. »Das hast du absichtlich gemacht«, kreischte die Frau.

»Was willst du?« Arya wand sich in ihrem Griff. Amabel war halb verrückt, seit man Harra den Kopf abgeschlagen hatte.

»Siehst du das da?« Amabel zeigte auf Pia. »Wenn dieser Nordmann abzieht, wirst du ihren Platz einnehmen.«

»Lass mich los.« Sie wollte sich losreißen, doch Amabel packte nur fester zu.

»Er wird ebenfalls fallen, Harrenhal vernichtet sie am Ende alle. Lord Tywin hat jetzt gewonnen; er wird mit seinem ganzen Heer zurückkommen, und dann werden die Untreuen bestraft. Glaub bloß nicht, dass er nicht erfahren wird, was du getan hast!« Die alte Frau lachte. »Vielleicht werde ich mir dich vornehmen. Harra hatte einen alten Besen, den werde ich für dich aufheben. Der Griff ist abgebrochen und hübsch zersplittert …«

Arya schwang den Eimer. Durch das Gewicht des Wassers drehte er sich in ihren Händen, daher traf sie Amabels Kopf nicht, wie sie gewollt hatte, wenigstens jedoch ließ die Frau los, als sich das Wasser über sie ergoss. »Fass mich nie wieder an«, schrie Arya, »oder ich bringe dich um. Geh weg!«

Tropfend zeigte Gevatterin Amabel mit dem dünnen Zeigefinger auf den gehäuteten Mann vorn auf Aryas Kittel. »Du glaubst, mit diesem blutigen Männchen auf deinen Titten wärst du in Sicherheit, was, aber das bist du nicht! Die Lennisters kommen! Wart nur ab, wie es dir dann ergehen wird.«

Der Eimer war jetzt zu drei Vierteln wieder leer, also musste Arya zum Brunnen zurückkehren. Wenn ich Lord Bolton erzählen würde, was sie gesagt hat, würde ihr Kopf noch vor Sonnenuntergang neben dem von Harra stecken, dachte sie, während sie den Eimer erneut aus dem Brunnen hochzog. Trotzdem würde sie es nicht tun.

Einmal, als es noch halb so viele gewesen waren, hatte Gendry sie dabei ertappt, wie sie die Köpfe ansah. »Bewunderst du dein Werk?«, hatte er gefragt.

Er war noch immer wütend, weil er Lucan gemocht hatte, das wusste sie, und dennoch war es ungerecht. »Das ist das Werk von Stahlbein Walton«, verteidigte sie sich, »und vom Blutigen Mummenschanz und Lord Bolton.«

»Und wer hat uns alle ihnen ausgeliefert? Du und deine Wieselsuppe.«

Arya boxte ihm gegen den Arm. »Es war nur heiße Brühe. Du hast Ser Amory auch gehasst.«

»Diesen Haufen hier hasse ich viel mehr. Ser Amory hat für seinen Lord gekämpft, aber der Mummenschanz besteht aus Söldnern und Abtrünnigen. Die Hälfte von denen spricht nicht einmal die Gemeine Zunge. Septon Utt mag kleine Jungen, Qyburn übt schwarze Magie aus, und dein Freund Beißer isst Menschenfleisch.«

Das Schlimmste war, dass sie ihn nicht einmal Lügen strafen konnte. Die Tapferen Kameraden trieben den größten Teil der Vorräte für Harrenhal ein, und Roose Bolton hatte ihnen befohlen, die Lennisters auszumerzen. Vargo Hoat hatte sie in vier Gruppen eingeteilt, die so viele Dörfer wie möglich aufsuchen sollten. Er selbst führte den größten Trupp an und übergab den Befehl über die anderen seinen vertrauenswürdigsten Hauptmännern. Arya hatte Rorge über Lord Vargos Methode, Verräter zu finden, lachen gehört. Er kehrte einfach zu den Orten zurück, die er zuvor unter Lord Tywins Banner heimgesucht hatte und nahm alle gefangen, die ihm damals geholfen hatten. Viele waren mit Lennister-Silber bestochen worden, und deshalb kam der Mummenschanz oft mit Beuteln voller Münzen und Körben voller Köpfe zurück. »Ein Rätsel!«, rief Shagwell dann immer hämisch. »Wenn Lord Boltons Ziege die Männer frisst, die Lord Lennisters Ziege gefüttert haben, wie viele Ziegen gibt es dann?«

»Eine«, antwortete Arya, als er sie fragte.

»Also, das Wiesel ist genauso klug wie eine Ziege!«, kicherte der Narr.

Rorge und Beißer standen den anderen in nichts nach. Jedes Mal, wenn Lord Bolton mit seinen Soldaten speiste, sah Arya sie bei den anderen sitzen. Beißer stank wie verdorbener Käse, daher setzten ihn die Tapferen Kameraden ans Ende des Tisches, wo er grunzen und zischen und sein Fleisch mit Fingern und Zähnen auseinanderreißen konnte. Er schnaubte immer, wenn Arya vorbeikam, trotzdem flößte ihr Rorge mehr Furcht ein. Er saß beim Treuen Ursywck, dennoch spürte sie die Blicke, die er ihr zuwarf, während sie ihren Pflichten nachging.

Manchmal wünschte sie, sie wäre mit Jaqen H’ghar über die Meerenge fortgegangen. Noch immer hatte sie die dumme Münze, die er ihr geschenkt hatte, ein Stück Eisen, kaum größer als ein Penny, mit verrostetem Rand. Auf einer Seite stand etwas geschrieben, das sie nicht lesen konnte. Die andere zeigte den Kopf eines Mannes, dessen Gesichtszüge jedoch längst abgerieben waren. Er hat gesagt, sie sei sehr wertvoll, aber das war wahrscheinlich auch eine Lüge, genau wie sein Name und sogar sein Gesicht. Das machte sie so wütend, dass sie die Münze wegwarf, doch nach einer Stunde bekam sie ein ungutes Gefühl und ging zurück, suchte und fand sie wieder, obwohl sie überhaupt nichts wert war.

Sie dachte über die Münze nach, während sie den Fließsteinhof überquerte und sich mit dem schweren Wassereimer abmühte. »Nan«, rief eine Stimme. »Stell den Eimer ab und hilf mir.«

Elmar Frey war nicht älter als sie und außerdem noch klein für sein Alter. Er hatte ein Fass mit Sand über den unebenen Steinboden gerollt, und sein Gesicht war vor Anstrengung gerötet. Arya ging hin und half ihm. Zusammen schoben sie das Fass bis zur Mauer und wieder zurück, dann stellten sie es aufrecht hin. Sie konnte den Sand hören, der im Inneren herumrutschte, dann öffnete Elmar den Deckel und zog ein Kettenhemd heraus. »Glaubst du, es ist sauber genug?« Da er Roose Boltons Knappe war, oblag ihm die Aufgabe, die Rüstung seines Herrn stets glänzend zu halten.

»Du musst den Sand rausschütteln. Da sind noch Rostflecke. Siehst du?« Sie zeigte darauf. »Am besten machst du es noch einmal.«

»Mach du das.« Elmar konnte sehr freundlich sein, wenn er Hilfe brauchte, anschließend pflegte er sich jedoch daran zu erinnern, dass er der Knappe war und sie nur das Zimmermädchen. Er war der Sohn des Lords vom Kreuzweg, und damit prahlte er nur zu gern, dass er kein Neffe oder Bastard oder Enkel war, nein, ein richtiger Sohn, und deshalb würde er einmal eine Prinzessin heiraten.

Arya war seine kostbare Prinzessin gleichgültig, doch gefiel ihr nicht, wenn er ihr Befehle erteilte. »Ich muss Mylord das Wasser für sein Waschbecken bringen. Er ist in seinem Zimmer und hat die Blutegel aufgesetzt. Nicht die normalen schwarzen, sondern die großen hellen.«

Elmars Augen wurden so groß wie gekochte Eier. Vor Blutegeln hatte er Angst, insbesondere vor den großen hellen, die wie Gelee aussahen, bis sie sich mit Blut füllten. »Ich habe ganz vergessen, dass du sowieso zu mager bist, um ein so schweres Fass zu rollen.«

»Ich habe ganz vergessen, dass du blöd bist.« Arya nahm ihren Eimer. »Vielleicht sollte ich dich auch mit Blutegeln behandeln. In der Eng gibt es Blutegel, die sind so groß wie Schweine.« Sie ließ ihn mit seinem Fass stehen.

Das Schlafzimmer des Lords war voller Menschen, als sie eintrat. Qyburn war da, und der finstere Walton in seinem Kettenhemd und seinen Beinschienen, außerdem ein Dutzend Freys, alle Brüder, Halbbrüder oder Vettern. Roose Bolton lag nackt im Bett. An der Innenseite seiner Arme und Beine und auf seiner blassen Brust saßen Blutegel, lange durchscheinende Würmer, die ein leuchtendes Rosa annahmen, während sie sich vollsogen. Bolton zollte ihnen nicht mehr Beachtung als Arya.

»Wir dürfen Lord Tywin nicht erlauben, uns hier in Harrenhal festzusetzen«, meinte Ser Aenys Frey, während Arya das Waschbecken füllte. Er war ein grauer, gebeugter Riese von einem Mann, mit wässrigen roten Augen und großen knorrigen Händen, und er hatte fünfzehnhundert Frey-Soldaten nach Harrenhal geführt, obwohl er oft den Anschein erweckte, er könne nicht einmal seinen Brüdern Befehle erteilen. »Die Burg ist so groß, dass man eine Armee braucht, um sie zu halten, und wenn wir erst einmal umzingelt sind, können wir keine Armee mehr ernähren. Ausreichende Vorräte werden wir ebenfalls nicht anlegen können. Das Land liegt in Schutt und Asche, die Dörfer gehören den Wölfen, die Ernte ist verbrannt oder gestohlen. Der Herbst ist da, trotzdem sind die Speicher leer und nirgends wird neu gesät. Wir müssen uns ständig um Nachschub kümmern, und wenn die Lennisters uns das unmöglich machen, werden wir innerhalb eines Mondes Ratten und Schuhleder essen.«

»Ich beabsichtige nicht, mich hier belagern zu lassen.« Roose Bolton sprach mit leiser Stimme, und die Männer mussten die Ohren spitzen, um ihn zu verstehen, deshalb war es in seinem Zimmer auch immer so eigenartig leise.

»Was dann?«, wollte Ser Jared Frey wissen, ein dünner, kahlköpfiger Mann mit Pockennarben. »Ist Edmure Tully so trunken von seinem Sieg, dass er mit dem Gedanken spielt, Lord Tywin eine offene Feldschlacht zu liefern?«

Wenn er das tut, wird er sie schlagen, dachte Arya. Er wird sie schlagen wie am Roten Arm. Unbemerkt stellte sie sich hinter Qyburn.

»Lord Tywin ist viele Meilen von hier entfernt«, erwiderte Bolton ruhig. »Er hat in Königsmund eine Menge zu klären. In nächster Zeit wird er nicht wieder nach Harrenhal marschieren. «

Ser Aenys schüttelte stur den Kopf. »Ihr kennt die Lennisters nicht so gut wie wir, Mylord. König Stannis hat auch geglaubt, Lord Tywin sei tausend Meilen entfernt, und das war sein Untergang.«

Der blasse Mann im Bett lächelte schwach, während die Egel an seinem Blut saugten. »Ich bin kein Mann, der untergeht, Ser.«

»Selbst wenn Schnellwasser seine ganze Streitmacht schickt und der Junge Wolf siegreich aus dem Westen zurückkehrt, wie können wir hoffen, die Stärke zu erreichen, die Lord Tywin gegen uns ins Feld führen kann? Wenn er kommt, wird er ein wesentlich größeres Heer führen als am Grünen Arm. Rosengarten hat sich Joffreys Sache angeschlossen, darf ich Euch daran erinnern?«

»Das hatte ich nicht vergessen.«

»Ich war einmal Lord Tywins Gefangener«, ergriff Ser Hosteen das Wort, ein stämmiger Kerl mit eckigem Gesicht, dem man nachsagte, der Stärkste der Freys zu sein. »Ein zweites Mal möchte ich die Gastfreundschaft der Lennisters nicht genießen. «

Ser Harys Heckenfeld, der mütterlicherseits zu den Freys gehörte, nickte heftig. »Wenn Lord Tywin einen erfahrenen Krieger wie Stannis Baratheon besiegen kann, welche Chancen hat dann unser Knabenkönig gegen ihn?« Er blickte Unterstützung heischend in die Runde seiner Brüder und Vettern, und einige von ihnen stimmten murmelnd zu.

»Irgendjemand muss doch den Mut haben, es offen auszusprechen«, sagte Ser Hosteen. »Der Krieg ist verloren. König Robb muss das einsehen.«

Roose Bolton musterte ihn mit hellen Augen. »Seine Gnaden hat die Lennisters besiegt, wann immer er gegen sie in die Schlacht gezogen ist.«

»Er hat den Norden verloren«, beharrte Hosteen Frey. »Er hat sogar Winterfell verloren! Seine Brüder sind tot …«

Einen Augenblick lang stockte Arya der Atem. Tot? Bran und Rickon, tot? Was meint er damit? Wie meint er das mit Winterfell? Joffrey hätte Winterfell niemals einnehmen können, niemals. Robb hätte das nicht zugelassen. Dann erinnerte sie sich. Robb war nicht in Winterfell. Er war weit weg im Westen, Bran war verkrüppelt und Rickon erst vier. Sie musste ihre ganze Selbstbeherrschung aufbringen, um still zu bleiben, so wie Syrio Forel es sie gelehrt hatte, einfach dazustehen wie ein Möbelstück. Die Tränen sammelten sich in ihren Augen, doch sie drängte sie zurück. Das stimmt alles nicht, das kann nicht wahr sein, das ist alles nur eine Lüge der Lennisters.

»Hätte Stannis gewonnen, sähe die Lage ganz anders aus«, meinte Ronel Strom wehmütig. Er war einer von Lord Walders Bastarden.

»Stannis hat verloren«, sagte Ser Hosteen. »Da können wir uns das Gegenteil wünschen, solange wir wollen, es ändert nichts. König Robb muss mit den Lennisters Frieden schließen. Er muss seine Krone ablegen und das Knie beugen, so wenig ihm das auch gefallen mag.«

»Und wer wird ihm das erklären?« Roose Bolton lächelte. »Schön, wenn man in solchen Zeiten so viele kühne Brüder hat. Ich werde über das nachdenken, was Ihr gesagt habt.«

Mit seinem Lächeln entließ er sie gleichzeitig. Die Freys verabschiedeten sich und schlurften hinaus, nur Qyburn, Stahlbein Walton und Arya blieben zurück. Lord Bolton winkte Arya zu sich. »Ich habe genug geblutet. Nan, nimm die Egel ab.«

»Sofort, Mylord.« Es war am besten, Roose Boltons Befehlen gleich nachzukommen. Arya wollte ihn fragen, was Ser Hosteen mit Winterfell gemeint hatte, doch sie getraute sich nicht. Ich werde Elmar fragen, tröstete sie sich. Elmar wird es mir erzählen. Die Egel, die sie vorsichtig vom Körper des Lords pflückte, zappelten träge in ihren Fingern und waren feucht und aufgebläht vom Blut. Es sind doch nur Egel, rief sie sich in Erinnerung. Wenn ich meine Hand zur Faust balle, würde ich sie zwischen den Fingern zerquetschen.

»Von Eurer Hohen Gemahlin ist ein Brief eingetroffen.« Qyburn zog eine Pergamentrolle aus dem Ärmel. Obwohl er die Robe eines Maesters trug, hing keine Kette um seinen Hals; es wurde getuschelt, er habe sie verloren, weil er sich mit Nekromantie beschäftigt habe.

»Lest ihn bitte vor«, sagte Bolton.

Lady Walda schrieb jeden Tag von den Zwillingen, doch ihre Briefe lauteten alle gleich. »Ich bete morgens, mittags, und abends für Euch, mein geliebter Lord«, schrieb sie, »und zähle die Tage, bis Ihr mein Bett wieder teilt. Kehrt bald zu mir zurück, und ich werde Euch viele Söhne schenken, die an die Stelle Eures teuren Domeric treten können und Grauenstein nach Euch regieren werden.« Arya stellte sich einen dicken rosafarbenen Säugling in einer Wiege vor, der mit dicken rosafarbenen Blutegeln bedeckt war.

Sie brachte Lord Bolton ein feuchtes Tuch, damit er seinen weichen, haarlosen Körper abwischen konnte. »Ich werde selbst einen Brief schreiben«, teilte er dem einstigen Maester mit.

»An Lady Walda?«

»An Ser Helman Tallhart.«

Vor zwei Tagen war ein Reiter von Ser Helman eingetroffen. Tallharts Männer hatten nach kurzer Belagerung die Burg der Darrys eingenommen und die Kapitulation der Lennister-Soldaten entgegengenommen.

»Schreibt ihm, er solle die Gefangenen töten und die Burg niederbrennen, und zwar auf Befehl des Königs. Dann soll er sich zu Robett Glauer gesellen und nach Osten gegen Dämmertal ziehen. Das Land dort ist reich und von den Kämpfen kaum berührt worden. Es ist Zeit, dass die Menschen dort den Krieg kennenlernen. Glauer hat eine Burg verloren und Tallhart einen Sohn. Mögen sie ihre Rache an Dämmertal nehmen.«

»Ich werde den Brief für Euer Siegel vorbereiten, Mylord. «

Arya freute sich, dass die Burg der Darrys abgebrannt werden sollte. Dorthin hatte man sie gebracht, als man sie nach ihrem Kampf mit Joffrey eingefangen hatte, und dort hatte die Königin ihren Vater gezwungen, Sansas Wolf zu töten. Die Burg hat es verdient niederzubrennen. Sie wünschte nur, Robett Glauer und Ser Helman würden trotzdem nach Harrenhal zurückkehren; sie waren zu früh aufgebrochen, noch ehe sie entschieden hatte, ob sie ihnen ihr Geheimnis anvertrauen konnte oder nicht.

»Heute werde ich jagen«, verkündete Roose Bolton, dem Qyburn in ein gestepptes Wams half.

»Ist das nicht gefährlich, Mylord?«, fragte Qyburn. »Erst vor drei Tagen wurden Septon Utts Männer von Wölfen angegriffen. Die Bestien sind bis in sein Lager gekommen, fast bis ans Feuer, und haben zwei Pferde getötet.«

»Gerade Wölfe will ich jagen. Wegen des Geheuls in der Nacht kann ich kaum noch schlafen.« Bolton schnallte sich das Gehänge um und rückte Schwert und Dolch zurecht. »Es heißt, die Schattenwölfe wären früher in großen Rudeln zu hundert Tieren oder mehr durch den Norden gestreift und hätten weder Mensch noch Mammut gefürchtet, aber das war vor langer Zeit in einem anderen Land. Trotzdem ist es seltsam, wenn die gewöhnlichen Wölfe im Süden so dreist werden.«

»Schreckliche Zeiten bringen schreckliche Dinge hervor, Mylord.«

Bolton fletschte die Zähne zu einer Miene, die man durchaus als Lächeln betrachten konnte. »Sind diese Zeiten wirklich so schrecklich, Maester?«

»Der Sommer ist vorbei, und das Reich hat vier Könige.«

»Ein König kann vielleicht schrecklich sein, aber vier?« Er zuckte die Achseln. »Nan, meinen Pelzumhang.« Sie reichte ihn ihm. »Bei meiner Rückkehr ist meine Kammer sauber und aufgeräumt«, sagte er zu ihr, während sie den Umhang vorn verschloss. »Und kümmere dich um Lady Waldas Brief.«

»Wie Ihr wünscht, Mylord.«

Der Lord und der Maester eilten hinaus und würdigten sie keines zweiten Blickes. Nachdem sie gegangen waren, nahm Arya den Brief, trug ihn zum Kamin, stocherte in der Glut und warf das Pergament hinein. Sie sah zu, wie es sich wellte, schwarz wurde und Feuer fing. Wenn die Lennisters Bran und Rickon ein Leid zugefügt haben, wird Robb sie einen nach dem anderen töten. Er wird niemals, nie, nie, niemals das Knie beugen. Vor denen hat er keine Angst. Aschestücke stiegen in den Schornstein auf. Arya hockte sich neben das Feuer und beobachtete die Ascheflocken durch einen Tränenschleier. Wenn Winterfell verloren ist, ist das hier dann mein neues Zuhause? Bin ich noch immer Arya, oder nur noch Nan, das Dienstmädchen, für immer und ewig und immer und ewig?

In den folgenden Stunden beschäftigte sie sich mit den Gemächern des Lords. Sie fegte die alten Binsen hinaus und verstreute neue, frisch duftende, sie zündete neues Feuer im Kamin an, wechselte die Bettwäsche und schüttelte das Federbett auf, sie leerte den Nachttopf und schrubbte ihn aus, trug einen Arm voll schmutziger Kleidung zu den Waschweibern, und holte eine Schale mit knackigen Herbstbirnen aus der Küche. Nachdem sie mit dem Schlafzimmer fertig war, ging sie eine halbe Treppe nach unten in das große Solar, einen zugigen Raum, der so groß war wie die Halle einer kleineren Burg, wo sie ebenfalls sauber machte. Die Kerzen waren zu Stümpfen herabgebrannt, also tauschte Arya sie gegen neue aus. Unter den Fenstern stand ein riesiger Eichentisch, an dem der Lord seine Briefe schrieb. Sie stapelte die Bücher ordentlich auf, setzte auch hier neue Kerzen in die Halter und sortierte Federn und Tinte und Siegelwachs.

Eine große, ausgefranste Schafshaut lag über den Papieren. Arya wollte sie schon zusammenrollen, da fielen ihr die Farben auf: das Blau von Seen und Flüssen, die roten Punkte von Burgen und Städten und das Grün von Wäldern. Sie breitete die Karte aus. DIE LÄNDER AM TRIDENT stand mit verzierten Buchstaben unter der Zeichnung. Die Karte zeigte die Gebiete von der Eng bis zum Schwarzwasser. Das da ist Harrenhal an der Spitze des großen Sees, erkannte sie, aber wo ist Schnellwasser? Dann entdeckte sie es. Schnellwasser ist gar nicht so weit entfernt …

Der Nachmittag war noch jung, doch da Arya ihre Arbeit bereits erledigt hatte, ging sie in den Götterhain. Ihre Arbeit als Lord Boltons Mundschenk war nicht so schwer wie die unter Wies oder Triefauge, obwohl sie sich wie ein Page kleiden und öfter waschen musste, als ihr lieb war. Die Jagdgesellschaft würde erst Stunden später zurückkehren, und so blieb ihr noch viel Zeit für ihre Nadelarbeiten.

Sie zerschlug Birkenblätter, bis die Spitze ihres abgebrochenen Besenstiels grün und feucht war. »Ser Gregor«, flüsterte sie. »Dunsen, Polliver, Raff der Liebling.« Sie drehte sich, sprang und balancierte auf den Fußballen, lief hierhin und dorthin und zerschmetterte Tannenzapfen. »Der Kitzler« nannte sie den einen, »den Bluthund« einen anderen. »Ser Ilyn, Ser Meryn, Königin Cersei.« Der Stamm einer Eiche ragte vor ihr auf, und Arya machte einen Ausfallschritt, spießte sie mit der Spitze auf und grunzte dabei: »Joffrey, Joffrey, Joffrey.« Arme und Beine waren vom Sonnenlicht und den Schatten der Blätter gesprenkelt. Schweiß bedeckte ihre Haut, als sie schließlich innehielt. Die Ferse ihres rechten Fußes blutete, wo sie sich gestoßen hatte, und so stand sie auf einem Bein vor dem Herzbaum und hob das Schwert zum Salut. »Valar morghulis«, sagte sie zu den alten Göttern des Nordens. Der Klang der Worte gefiel ihr.

Auf dem Weg zum Badehaus erspähte sie einen Raben, der über dem Schlag kreiste, und fragte sich, wo er wohl herkam und was für Nachrichten er brachte. Die Nachricht könnte von Robb sein und erklären, dass das mit Bran und Rickon nicht wahr ist. Wenn ich Flügel hätte, würde ich nach Winterfell fliegen und selbst nachschauen. Und wenn es doch wahr wäre, würde ich wegfliegen bis hinauf zum Mond und den leuchtenden Sternen, und all die Dinge sehen, von denen die Alte Nan erzählt hat, die Drachen und Seeungeheuer und den Titan von Braavos, und vielleicht würde ich nie wieder zurückfliegen, oder erst, wenn ich Lust dazu hätte.

Die Jagdgesellschaft kehrte am frühen Abend mit neun toten Wölfen heim. Sieben Tiere waren ausgewachsene große graubraune Bestien, wild und kräftig; im Tode hatten sie die Lefzen über die langen gelben Zähne zurückgezogen. Die anderen beiden jedoch waren noch Welpen gewesen. Lord Bolton gab Befehl, aus den Fellen eine Decke für sein Bett zu nähen. »Welpen haben noch ein weiches Fell, Mylord«, meinte einer seiner Männer. »Daraus könntet Ihr Euch ein hübsches Paar warmer Handschuhe machen lassen.«

Bolton sah hinauf zu den Bannern, die über dem Torhaus im Wind wehten. »Wie uns die Starks stets erinnern, der Winter naht. Kümmert Euch darum.« Als er Arya bemerkte, die ihn noch immer anstarrte, sagte er: »Nan, ich möchte einen Krug heißen gewürzten Wein. Im Wald war es frostig. Und sorg dafür, dass er nicht kalt wird. Ich werde heute Abend allein speisen. Haferbrot, Butter und Wildschwein.«

»Sofort, Mylord.« Das zu sagen war immer das Beste.

Heiße Pastete buk gerade Haferkekse, als sie in die Küche kam. Drei andere Köche entgräteten Fisch, während ein Küchenjunge ein Wildschwein über dem Feuer drehte. »Mylord wünscht sein Abendbrot und heißen gewürzten Wein, um es hinunterzuspülen«, verkündete Arya, »und er soll gefälligst warm sein.« Einer der Köche wusch sich die Hände, nahm einen Kessel und füllte süßen Rotwein hinein. Heiße Pastete wurde aufgetragen, die Gewürze zu mahlen, während der Wein heiß wurde. Arya ging zu ihm hinüber und half ihm.

»Ich kann das schon allein«, sagte er mürrisch. »Du brauchst mir nicht zu zeigen, wie man Wein würzt.«

Entweder hasst er mich auch, oder er hat Angst vor mir. Sie wich zurück, eher traurig als verärgert. Schließlich war das Essen fertig, und die Köche deckten es mit einem silbernen Deckel zu und wickelten ein dickes Tuch um den Krug, damit der Wein warm blieb. Draußen dämmerte es. Auf den Mauern hockten die Krähen um die Köpfe herum wie der Hofstaat um einen König. Die Wache am Königsbrandturm hielt ihr die Tür auf. »Hoffentlich ist das keine Wieselsuppe«, scherzte der Mann.

Als sie eintrat, saß Roose Bolton am Kamin und las in einem dicken, in Leder gebundenen Buch. »Zünde die Kerzen an«, befahl er und blätterte um. »Es wird langsam dunkel. «

Sie stellte das Essen auf den Tisch neben ihn und tat dann, was er ihr aufgetragen hatte; kurz darauf wurde der Raum von flackerndem Licht durchflutet und vom Geruch der Gewürznelken erfüllt. Bolton blätterte noch einige Male um, dann schlug er das Buch zu und legte es vorsichtig ins Feuer. Er sah zu, wie die Flammen es verzehrten, und seine hellen Augen leuchteten im Licht. Das alte trockene Leder fing mit einem Wusch Feuer, und die gelben Seiten bewegten sich, während sie brannten, als würde ein Geist sie lesen. »Heute Abend brauche ich dich nicht mehr«, sagte er, ohne sie anzublicken.

Sie hätte gehen sollen, leise wie eine Maus, doch der Leichtsinn hatte wohl Besitz von ihr ergriffen. »Mylord«, fragte sie, »werdet Ihr mich mitnehmen, wenn Ihr Harrenhal verlasst?«

Er drehte sich zu ihr um, starrte sie an, und seiner Miene zufolge war es so, als habe sein Essen gerade zu ihm gesprochen. »Habe ich dir die Erlaubnis erteilt, mir eine Frage zu stellen, Nan?«

»Nein, Mylord.« Sie senkte den Blick.

»Also hättest du nichts sagen sollen, nicht wahr?«

»Nein, Mylord.«

Einen Moment lang wirkte er vergnügt. »Ich werde dir die Frage trotzdem beantworten. Ich werde Harrenhal an Lord Vargo übergeben, wenn ich in den Norden zurückkehre. Du wirst hier bei ihm bleiben.«

»Aber ich …«, begann sie.

Er schnitt ihr das Wort ab. »Es ist nicht meine Gewohnheit, mich von Dienstboten ausfragen zu lassen, Nan. Muss ich dir erst die Zunge rausreißen?«

Das würde er genauso leicht tun, wie ein anderer Mann einen Hund trat, das wusste sie. »Nein, Mylord.«

»Dann werde ich nichts weiter von dir hören?«

»Nein, Mylord.«

»Dann geh. Ich werde deine Anmaßung vergessen.«

Arya ging, jedoch nicht in ihr Bett. Als sie hinaus in den dunklen Hof trat, nickte die Wache an der Tür ihr zu und sagte: »Es wird Sturm geben. Riechst du das, die Luft?« Der Wind war böig, die Flammen der Fackeln neben den Köpfen auf der Mauer flackerten. Auf dem Weg zum Götterhain kam sie am Klageturm vorbei, wo sie früher in Angst vor Wies gehaust hatte. Die Freys hatten den Turm für sich beschlagnahmt, nachdem Harrenhal gefallen war. Sie konnte wütende Stimmen aus einem Fenster hören, viele Männer stritten da. Elmar saß allein draußen auf den Stufen.

»Was ist denn los?«, fragte Arya ihn, als sie die Tränen sah, die auf seinen Wangen glänzten.

»Meine Prinzessin«, schluchzte er. »Wir sind entehrt worden, sagt Aenys. Von den Zwillingen ist ein Vogel eingetroffen. Mein Hoher Vater sagt, ich werde jetzt jemand anders heiraten oder Septon werden.«

Eine blöde Prinzessin, dachte sie, das ist doch kein Grund zum Heulen. »Meine Brüder sind vielleicht tot«, vertraute sie ihm an.

Elmar warf ihr einen geringschätzigen Blick zu. »Niemanden interessieren die Brüder eines Zimmermädchens.«

Es war schwer, ihn für diese Worte nicht zu verprügeln. »Hoffentlich stirbt deine Prinzessin«, sagte sie und rannte davon, ehe er nach ihr greifen konnte.

Im Götterhain holte sie ihr Besenstielschwert aus dem Versteck und trug es zum Herzbaum. Dort kniete sie nieder. Rotes Laub raschelte. Rote Augen starrten tief in ihr Inneres. Die Augen der Götter. »Sagt mir, was ich tun soll, ihr Götter«, betete sie.

Eine Weile lang hörte sie nichts außer dem Wind und dem Wasser und dem Knarren des Astwerks und der Blätter. Dann heulte in weiter, weiter Ferne, jenseits des Götterhains und der gespenstischen Türme und riesigen Mauern von Harrenhal, dort draußen irgendwo in der Welt ein einsamer Wolf. Arya bekam eine Gänsehaut, und einen Augenblick schwindelte es ihr. Plötzlich meinte sie leise, ganz leise, die Stimme ihres Vaters zu hören. »Wenn der Schnee fällt und der weiße Wind bläst, stirbt der einsame Wolf, doch das Rudel überlebt«, sagte er.

»Aber es gibt kein Rudel«, flüsterte sie dem Wehrbaum zu. Bran und Rickon waren tot, die Lennisters hatten Sansa, Jon war zur Mauer gegangen. »Ich bin nicht einmal mehr ich selbst, ich bin Nan.«

»Du bist Arya von Winterfell, Tochter des Nordens. Du hast mir gesagt, du seist stark. In dir fließt das Blut des Wolfes.«

»Das Wolfsblut.« Jetzt erinnerte sich Arya. »Ich werde so stark sein wie Robb. Ich habe es versprochen.« Sie holte tief Luft, fasste den Besenstiel mit beiden Händen und legte ihn über ihre Knie. Mit lautem Krachen brach er, und sie warf die Stücke zur Seite. Ich bin ein Schattenwolf und brauche keine Holzzähne mehr.

In dieser Nacht lag sie in ihrem schmalen Bett auf dem kratzigen Stroh und lauschte den Stimmen der Lebenden und der Toten, die miteinander tuschelten und stritten, während sie auf den Mondaufgang wartete. Das waren die einzigen Stimmen, denen sie noch traute. Ihren eigenen Atem hörte sie, und auch die Wölfe, jetzt ein großes Rudel. Sie sind näher als der eine, den ich im Götterhain gehört habe. Und sie rufen nach mir.

Schließlich schlüpfte sie aus dem Bett, zog sich ein Hemd über und tappte barfuß die Treppe hinunter. Roose Bolton war ein vorsichtiger Mann, und der Eingang zum Königsbrandturm wurde Tag und Nacht bewacht, daher musste sie durch ein schmales Kellerfenster hinausschlüpfen. Der Hof war still, die große Burg lag in Spukträumen da. Über ihr pfiff der Wind durch den Klageturm.

In der Schmiede brannte kein Feuer, und die Türen waren verriegelt und verrammelt. Sie kletterte durch ein Fenster hinein, wie sie es schon einmal getan hatte. Gendry teilte sich eine Matratze mit zwei anderen Lehrlingen. Sie kauerte lange da, bis sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten und sie sicher war, dass derjenige am Ende wirklich Gendry war. Dann legte sie ihm eine Hand über den Mund und kniff ihn. Er schlug die Augen auf. Sehr tief konnte er nicht geschlafen haben. »Bitte«, flüsterte sie. Sie nahm die Hand von seinem Mund und zeigte nach draußen.

Einen Moment lang glaubte sie, er habe nicht verstanden, schließlich kam er unter der Decke hervor. Nackt tappte er durch den Raum, zog sich ein weites langes Wollhemd über und kletterte hinter ihr von dem Zwischenboden herunter, auf dem er geschlafen hatte. Die anderen rührten sich nicht. »Was willst du?«, fragte Gendry leise und wütend.

»Ein Schwert.«

»Schwarzdaumen hält die Klingen alle unter Verschluss, das habe ich dir schon hundert Mal gesagt. Ist es für Lord Egel?«

»Für mich. Mach das Schloss mit dem Hammer auf.«

»Dafür brechen sie mir die Hand«, knurrte er, »oder Schlimmeres.«

»Nicht, wenn du mit mir wegläufst.«

»Wenn du wegläufst, fangen sie dich und bringen dich um.«

»Dir werden sie etwas Schlimmeres antun. Lord Bolton überlässt Harrenhal dem Blutigen Mummenschanz, das hat er mir gesagt.«

Gendry strich sich das schwarze Haar aus den Augen. »Und?«

Sie blickte ihn furchtlos an. »Wenn Vargo Hoat der Lord ist, wird er allen Dienern die Füße abhacken, damit sie nicht mehr fliehen können. Den Schmieden auch.«

»Das ist doch nur ein Märchen«, höhnte er.

»Nein, es stimmt, ich habe es von ihm selbst gehört«, log sie. »Er wird allen einen Fuß abhauen. Den linken. Geh in die Küche und weck Heiße Pastete, er wird tun, was du ihm sagst. Wir brauchen Brot oder Haferkekse oder so etwas. Du holst die Schwerter, und ich kümmere mich um die Pferde. Wir treffen uns am Seitentor in der Ostmauer, hinter dem Geisterturm. Dort ist nie jemand.«

»Ich kenne das Tor. Es wird bewacht, genau wie alle anderen. «

»Und? Du wirst die Schwerter doch nicht vergessen?«

»Ich habe nicht gesagt, dass ich mitkomme.«

»Nein, aber wenn du mitkommst, wirst du doch die Schwerter nicht vergessen, oder?«

Er runzelte die Stirn. »Nein«, sagte er endlich, »ich glaube, nicht.«

Arya schlich auf dem gleichen Weg in den Königsbrandturm zurück, auf dem sie ihn verlassen hatte, stahl sich die Wendeltreppe hinauf und lauschte auf Schritte. In ihrer Kammer zog sie sich aus und danach sorgfältig wieder an: Zwei Schichten Unterwäsche, warme Strümpfe, ihr sauberstes Wams. Es war Lord Boltons Livree. Auf der Brust war sein Wappen aufgenäht, der gehäutete Mann von Grauenstein. Sie band sich die Schuhe zu, warf einen Wollmantel um ihre hageren Schultern und knotete ihn unter dem Kinn zu. Leise wie ein Schatten stieg sie die Treppe wieder hinunter. Vor dem Solar des Lord hielt sie inne, lauschte an der Tür und schob sie sachte auf, als sie nichts hörte.

Die Karte aus Schafshaut lag noch auf dem Tisch, neben den Resten von Lord Boltons Abendessen. Arya rollte sie eng zusammen und steckte sie in ihren Gürtel. Der Lord hatte auch seinen Dolch auf dem Tisch liegen lassen, und den nahm sie ebenfalls, nur für den Fall, dass Gendry der Mut verließ.

Ein Pferd wieherte leise, als sie in den dunklen Stall schlüpfte. Die Burschen schliefen. Sie stieß einen mit dem Fuß an, bis er sich benommen aufrichtete und fragte: »Hö? Was?«

»Lord Bolton braucht drei gesattelte Pferde.«

Der Junge erhob sich und zupfte Stroh aus seinem Haar. »Was, um diese Zeit? Pferde, sagst du?« Blinzelnd betrachtete er das Wappen auf ihrem Wams. »Wofür braucht er denn im Dunkeln Pferde?«

»Lord Bolton ist es nicht gewöhnt, sich von seinen Dienern Fragen stellen zu lassen.« Sie verschränkte die Arme.

Der Stallbursche starrte auf den gehäuteten Mann. Er wusste, was dieser bedeutete. »Drei, sagst du?«

»Eins, zwei, drei. Jagdpferde. Schnell und trittsicher.« Arya half ihm beim Satteln, damit er keinen der anderen wecken musste. Sie hoffte, er würde hinterher nicht allzu streng bestraft werden, aber sie wusste, dass das unwahrscheinlich war.

Die Pferde durch die Burg zu führen, war der schwierigste Teil. Wann immer es möglich war, hielt sie sich im Schatten der großen Mauer, wo die Wachen auf den Wehrgängen steil nach unten schauen mussten, um sie zu bemerken. Und wenn schon? Ich bin der Mundschenk des Lords. Es war eine kalte Herbstnacht. Wolken trieben aus dem Westen heran und verbargen die Sterne, und der Klageturm schrie bei jedem Windstoß traurig auf. Es riecht nach Regen. Arya wusste nicht, ob das gut oder schlecht für ihre Flucht war.

Niemand sah sie, sie selbst sah auch niemanden, nur eine grauweiße Katze, die an der Mauer des Götterhains entlanglief. Das Tier fauchte sie an und weckte Erinnerungen an den Roten Bergfried und ihren Vater und Syrio Forel. »Ich könnte dich fangen, wenn ich wollte«, sagte sie, »aber ich muss gehen, Katze.« Die Katze fauchte erneut und lief davon.

Der Geisterturm war der verfallenste von Harrenhals fünf riesigen Türmen. Dunkel und verlassen stand er hinter den Ruinen einer eingestürzten Septe, wo seit fast dreihundert Jahren nur mehr Ratten beteten. Dort wartete sie auf Gendry und Heiße Pastete. Es schien, als wartete sie eine lange Zeit. Die Pferde knabberten an dem Unkraut, das zwischen den Steinen wuchs, während die Wolken die letzten Sterne verschluckten. Arya zog den Dolch und wetzte ihn, nur um sich zu beschäftigen. Mit langen, sanften Streichen, wie Syrio es ihr beigebracht hatte. Das leise Scharren beruhigte sie.

Sie hörte sie, lange bevor sie zu sehen waren. Heiße Pastete keuchte, einmal stolperte er in der Dunkelheit, stieß sich das Schienbein an und fluchte laut genug, um halb Harrenhal zu wecken. Gendry war leiser, doch die Schwerter, die er trug, klirrten bei jeder Bewegung. »Hier bin ich.« Sie erhob sich. »Seid leise, sonst wird man euch hören.«

Die Jungen stiegen über die verstreuten Steine. Gendry trug ein geöltes Kettenhemd unter seinem Mantel, und seinen Schmiedehammer hatte er über die Schulter gelegt. Heiße Pastetes rotes Gesicht lugte aus einer Kapuze hervor. In der rechten Hand trug er einen Sack Brot, unter den linken Arm hatte er ein großes Käserad geklemmt. »An dem Seitentor steht eine Wache«, flüsterte Gendry. »Ich habe es dir doch gesagt.«

»Ihr bleibt mit den Pferden hier«, erwiderte Arya, »und ich kümmere mich darum. Kommt schnell, wenn ich rufe.«

Gendry nickte. Heiße Pastete meinte: »Schrei wie eine Eule, wenn wir kommen sollen.«

»Ich bin keine Eule«, sagte Arya. »Ich bin ein Wolf. Ich werde heulen.«

Allein schlich sie durch den Schatten des Geisterturms. Sie beeilte sich, damit sie ihrer Angst vorauslief, und sie fühlte sich, als ginge Syrio Forel neben ihr, und Yoren und Jaqen H’ghar und Jon Schnee. Sie hatte das Schwert nicht mitgenommen, das Gendry für sie mitgebracht hatte, noch nicht. Für das hier war der Dolch besser geeignet. Er war gut gearbeitet und scharf. Das Seitentor war das unwichtigste von allen Toren Harrenhals, eine schmale Tür aus starken Eichenbohlen, die mit Eisennägeln beschlagen war und in einer Nische zwischen der Mauer und einem kleinen Turm saß. Nur ein Mann hielt dort Wache, doch sie wusste, oben im Turm würden weitere sein, und andere patrouillierten in der Nähe auf der Mauer. Was auch immer geschah, sie musste still wie ein Schatten sein. Er darf nicht schreien. Die ersten Regentropfen fielen. Einer landete auf ihrer Stirn und rann langsam ihre Nase hinunter.

Sie versuchte gar nicht erst, sich verborgen zu halten, sondern trat offen auf die Wache zu, als habe Lord Bolton persönlich sie geschickt. Er blickte ihr neugierig entgegen; was führte zu dieser Stunde einen Pagen hierher? Als sie näher kam, sah sie, dass er ein Nordmann war, dünn und sehr groß und in einen ausgefransten Fellmantel gehüllt. Das war schlecht. Einen Frey oder einen Tapferen Kameraden hätte sie überlisten können, die Grauenstein-Männer dagegen hatten Roose Bolton ihr ganzes Leben lang gedient und kannten ihn besser als sie. Und wenn ich ihm sage, ich sei Arya Stark, und er soll mich durchlassen … Nein, das wagte sie nicht. Er war ein Nordmann, doch nicht aus Winterfell. Er gehörte zu Roose Bolton.

Sie schob ihren Mantel zurück, damit er den gehäuteten Mann auf ihrer Brust sehen konnte. »Lord Bolton schickt mich.«

»Um diese Zeit? Weshalb?«

Unter dem Fell bemerkte sie das Glitzern von Stahl, und sie hatte keine Ahnung, ob sie kräftig genug war, den Dolch durch ein Kettenhemd zu bohren. Die Kehle, ich muss die Kehle nehmen, aber er ist so groß, ich werde nie drankommen. Einen Augenblick lang fehlten ihr die Worte. Und für einen Moment war sie wieder ein kleines Mädchen, und der Regen, der ihr übers Gesicht rann, fühlte sich wie Tränen an.

»Er hat mir gesagt, ich solle allen Wachen ein Silberstück geben für ihre guten Dienste.« Die Worte waren plötzlich einfach da.

»Silber, sagst du?« Er glaubte ihr nicht, wünschte sich aber, dass es wahr wäre; Silber war schließlich Silber. »Dann gib mal her.«

Sie steckte die Hand in ihr Gewand und holte die Münze hervor, die Jaqen ihr geschenkt hatte. Im Dunkeln mochte das Eisen wie angelaufenes Silber aussehen. Sie hielt sie ihm hin … und ließ sie durch die Finger gleiten.

Er verfluchte sie leise, ging auf die Knie und wollte die Münze vom Boden aufheben. Jetzt hatte sie seinen Hals genau vor sich. Arya zog den Dolch und fuhr damit quer über seine Kehle, die weich war wie Sommerseide. Blut traf ihre Hände mit heißem Strahl. Der Mann versuchte zu schreien, doch auch sein Mund war voll Blut.

»Valar morghulis«, flüsterte sie, während er starb.

Als er sich nicht mehr rührte, hob sie die Münze auf. Draußen vor den Mauern von Harrenhal heulte ein Wolf lange und laut. Sie hob den Riegel, schob ihn zur Seite und öffnete die schwere Eichentür. Als Heiße Pastete und Gendry mit den Pferden kamen, regnete es bereits heftig. »Du hast ihn umgebracht!«, stieß Heiße Pastete hervor.

»Was hast du denn geglaubt, was ich tun würde?« Das Blut an ihren Fingern war klebrig, und der Geruch machte ihre Stute nervös. Es macht nichts, dachte sie und schwang sich in den Sattel. Der Regen wird sie wieder sauber waschen.

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