Maester Luwin kam zu ihm, als vor den Mauern die ersten Kundschafter auftauchten. »Mylord Prinz«, sagte er, »Ihr müsst Euch ergeben.«
Theon starrte auf den Teller mit Haferkuchen, Honig und Blutwurst, den man ihm zum Frühstück gebracht hatte. Nach einer weiteren schlaflosen Nacht lagen seine Nerven blank, und schon beim Anblick des Essens wurde ihm übel. »Von meinem Onkel ist keine Antwort eingetroffen?«
»Nein«, erwiderte der Maester. »Und auch nicht von Eurem Vater auf Peik.«
»Schickt weitere Vögel.«
»Das wird nichts nutzen. Bis die Vögel am Ziel ankommen …«
»Schickt sie!« Er schleuderte den Teller von sich, warf die Decken zurück und erhob sich nackt und wütend aus Ned Starks Bett. »Oder wollt Ihr meinen Tod? Ist es das, Luwin? Sagt die Wahrheit.«
Der kleine graue Mann zeigte keine Furcht. »Mein Orden dient.«
»Ja, aber wem?«
»Dem Reich«, sagte Maester Luwin, »und Winterfell. Theon, einst habe ich Euch Rechnen und Schreiben, Geschichte und Kriegskunst gelehrt. Und ich hätte Euch noch mehr beigebracht, wenn Ihr nur hättet lernen wollen. Keineswegs will ich behaupten, dass ich große Liebe für Euch hege, nein, doch ich hasse Euch auch nicht. Selbst wenn ich es täte, solange Ihr Winterfell besetzt, bin ich durch meinen Eid verpflichtet, Euch mit Rat zur Seite zu stehen. Und deshalb rate ich Euch nun, Euch zu ergeben.«
Theon bückte sich, um seinen fleckigen Mantel vom Boden aufzuheben, schüttelte die Binsen ab und hängte ihn sich um die Schultern. Ein Feuer, ich will ein Feuer, und saubere Kleider. Wo ist Wex? Ich werde nicht in schmutzigen Gewändern in den Tod gehen.
»Ihr habt keine Hoffnung, Euch hier behaupten zu können«, fuhr der Maester fort. »Wenn Euer Hoher Vater beabsichtigte, Euch Hilfe zu schicken, wäre sie längst eingetroffen. Sein Augenmerk gilt mehr der Eng. Die Schlacht um den Norden wird in den Ruinen von Maidengraben ausgetragen.«
»Das mag sein«, sagte Theon, »und solange ich Winterfell halte, können Ser Rodrik und Starks Vasallen nicht nach Süden marschieren, um meinem Onkel in den Rücken zu fallen. « Ich bin in der Kriegskunst durchaus nicht so unbewandert, wie Ihr denkt, alter Mann. »Ich habe genug Vorräte, um ein Jahr Belagerung zu überstehen, wenn es sein muss.«
»Es wird keine Belagerung geben. Vielleicht brauchen sie ein oder zwei Tage, um Leitern zu bauen und Haken an Seile zu knoten. Dann aber werden sie an hundert Stellen gleichzeitig über die Mauern kommen. Möglicherweise könnt Ihr den Fried eine Weile halten, die Burg selbst wird in einer Stunde fallen. Daher wäre es das Beste, die Tore zu öffnen und um …«
»Um Gnade zu bitten? Ich kenne die Gnade, die sie für mich bereithalten.«
»Es wäre eine Möglichkeit.«
»Ich bin ein Eisenmann«, erinnerte Theon ihn. »Der hat nur eine Möglichkeit. Welche Wahl haben sie mir denn gelassen? Nein, antwortet nicht, ich habe genug von Euren Ratschlägen. Geht und schickt die Vögel aus, wie ich Euch befohlen habe, und sagt Lorren, ich will ihn sehen. Und Wex auch. Mein Kettenhemd muss saubergescheuert werden, und meine Männer sollen sich im Hof versammeln.«
Einen Augenblick lang dachte er, der Maester würde ihm widersprechen. Schließlich jedoch verneigte sich Luwin steif. »Wie Ihr befehlt.«
Es war eine Mitleid erregend kleine Truppe; die Eisenmänner waren nur wenige, und der Hof war groß. »Die Nordmannen werden uns noch vor Einbruch der Nacht erreicht haben«, teilte er ihnen mit. »Ser Rodrik Cassel und alle Lords, die seinem Ruf gefolgt sind. Ich werde nicht vor ihnen davonlaufen. Ich habe diese Burg eingenommen und ich beabsichtige, sie zu halten und als Prinz von Winterfell zu leben oder zu sterben. Aber ich werde keinem Mann befehlen, mit mir in den Tod zu gehen. Wenn ihr jetzt geht, ehe Ser Rodriks Truppen eingetroffen sind, habt ihr eine Chance durchzukommen. « Mit dem Langschwert zog er eine Linie in den Boden. »Die bleiben und kämpfen wollen, sollen vortreten.«
Niemand sagte etwas. Die Männer standen in Kettenhemden und Fellen und gehärtetem Leder so starr wie Steine da. Einige wechselten Blicke. Urzen scharrte mit den Füßen. Dykk Harlau räusperte sich und spuckte aus. Ein Windstoß zerzauste Endehars langes blondes Haar.
Theon fühlte sich, als würde er ertrinken. Warum überrascht es mich?, dachte er kalt. Sein Vater hatte ihn im Stich gelassen, sein Onkel, seine Schwester, sogar diese elende Kreatur Stinker. Warum sollten seine Männer ihm mehr Treue entgegenbringen? Es gab nichts zu sagen, nichts zu tun. Er konnte nur dastehen, hier unter der großen grauen Mauer und dem harten weißen Himmel, und mit dem Schwert in der Hand warten, warten …
Wex war der Erste, der die Linie überschritt. Drei rasche Schritte, und er stand mit hängenden Schultern auf Theons Seite. Von dem Jungen beschämt, folgte der Schwarze Lorren mit finsterer Miene. »Wer noch?«, fragte er. Der Rote Rolf trat vor. Kromm und Werlag. Tymor und seine Brüder. Ulf der Üble. Harrag Schafdieb. Vier Harlaus und zwei Botlins. Kenned der Wal war der Letzte. Siebzehn Mann insgesamt.
Urzen gehörte zu denen, die sich nicht rührten, ebenso Stygg und alle von den Zehn, die Asha aus Tiefwald Motte mitgebracht hatte. »Dann geht«, sagte Theon zu ihnen. »Lauft zu meiner Schwester. Sie wird euch herzlich willkommen heißen, daran zweifle ich nicht.«
Stygg hatte wenigstens den Anstand, verlegen auszusehen. Der Rest ging ohne ein Wort. Theon wandte sich an die siebzehn, die blieben. »Zurück auf die Mauer. Wenn die Götter uns verschonen, werde ich keinen von euch vergessen.«
Der Schwarze Lorren verweilte noch, nachdem die anderen sich aufgemacht hatten. »Die Burgbewohner werden sich gegen uns wenden, sobald der Kampf beginnt.«
»Ich weiß. Was würdest du dagegen unternehmen?«
»Werft sie raus«, sagte Lorren. »Alle.«
Theon schüttelte den Kopf. »Ist die Schlinge fertig?«
»Ja. Wollt Ihr sie benutzen?«
»Weißt du eine bessere Möglichkeit?«
»Ja. Ich nehme meine Axt und stelle mich auf die Zugbrücke, dann sollen sie sich doch an mich heranwagen. Einer nach dem anderen oder zwei, drei, vier, das spielt keine Rolle. Solange ich atme, wird niemand den Graben überqueren. «
Er will den Tod, dachte Theon. Er ist nicht auf den Sieg aus, sondern auf ein Ende, das eines Liedes wert ist. »Wir werden die Schlinge benutzen.«
»Wie Ihr sagt«, erwiderte Lorren. In seinen Augen lag Verachtung.
Wex half ihm, sich für die Schlacht zu kleiden. Unter einem schwarzen Überwurf und einem goldenen Mantel trug er ein gut geöltes Kettenhemd, und darunter gehärtetes Leder. Nachdem er Rüstung und Waffen angelegt hatte, stieg Theon in den Wachturm an der Ecke von Ost- und Südmauer hinauf, um sich sein heranziehendes Verhängnis anzuschauen. Die Nordmänner schwärmten aus und umzingelten die Burg. Ihre Zahl zu schätzen war schwierig. Mindestens tausend; vielleicht doppelt so viele. Gegen siebzehn. Sie hatten Katapulte und Skorpione mitgebracht. Belagerungstürme rumpelten nicht über den Königsweg hinauf, doch im Wolfswald gab es genug Holz, um so viele wie nötig zu bauen.
Theon betrachtete die Banner durch Maester Luwins Linsenfernrohr aus Myr. Wo er auch hinsah, überall flatterte die Streitaxt der Cerwyns tapfer im Wind, dazu die Bäume der Tallhart und der Wassermann von Weißwasserhafen. Weniger häufig waren die Wappen von Flint und Karstark. Hier und dort war sogar der Elch der Hornwalds zu sehen. Aber keine Glauers, um die hat sich Asha gekümmert, keine Boltons von Grauenstein, keine Umbers, die aus dem Schatten der Mauer in den Süden gezogen waren. Nicht, dass sie nötig gewesen wären. Bald darauf erschien der junge Cley Cerwyn mit dem Banner des Waffenstillstandes an einem langen Stab vor den Toren und verkündete, dass Ser Rodrik Cassel mit Theon dem Abtrünnigen verhandeln wollte.
Der Abtrünnige. Der Name war bitter wie Galle. Er war nach Peik gegangen, um seines Vaters Langschiffe nach Lennishort zu führen, erinnerte er sich. »Ich werde in Kürze herauskommen«, rief er nach unten. »Allein.«
Dem Schwarzen Lorren gefiel das nicht. »Nur Blut kann Blut wegwaschen«, sagte er. »Ritter halten ihren Frieden vielleicht mit anderen Rittern, aber jenen gegenüber, die sie für Gesetzlose halten, sind sie nicht so sehr auf ihre Ehre bedacht. «
Theon reagierte ungehalten. »Ich bin der Prinz von Winterfell und Erbe der Eiseninseln. Jetzt hol das Mädchen und tu, was ich dir aufgetragen habe.«
Der Schwarze Lorren warf ihm einen vernichtenden Blick zu. »Aye, Prinz.«
Auch er hat sich gegen mich gewendet, erkannte Theon. In letzter Zeit erschien es ihm, als lehnten sich selbst die Steine von Winterfell gegen ihn auf. Wenn ich sterbe, dann ohne Freunde und verlassen. Was blieb ihm also übrig, als zu überleben?
Er ritt zum Torhaus, mit seiner Krone auf dem Kopf. Eine Frau holte Wasser aus dem Brunnen, und Gage der Koch stand in der Küchentür. Sie verbargen ihren Hass hinter mürrischen Mienen und leeren Gesichtern, trotzdem konnte er ihn spüren.
Als die Zugbrücke herabgelassen wurde, pfiff ein kühler Wind über den Graben, und Theon fröstelte. Das ist nur die Kälte, mehr nicht, redete er sich ein, ein Schauder, kein Zittern. Sogar tapfere Männer schaudern in der Kälte. In diesen Wind hinein ritt er unter dem Fallgitter hindurch und dann über die Zugbrücke. Die äußeren Tore schwangen auf und ließen ihn passieren. Während er aus der Burg ritt, spürte er, wie ihn die Jungen aus den leeren Höhlen beobachteten, in denen früher ihre Augen gesessen hatten.
Ser Rodrik wartete am Marktplatz auf seinem grauen Hengst. Neben ihm wehte der Schattenwolf der Starks an einem Stab, den der junge Cley Cerwyn trug. Sie waren allein auf dem Platz, wenngleich Theon auf den Dächern der umgebenden Häuser Bogenschützen sah, Speerträger zu seiner Rechten und zu seiner Linken eine Reihe Ritter auf Pferden unter dem Wassermann-und-Dreizack-Banner des Hauses Manderly. Sie alle miteinander wollen meinen Tod. Manche von ihnen waren Jungen, mit denen er getrunken, gewürfelt und sogar gehurt hatte, bloß würde ihn das nicht retten, wenn er ihnen in die Hände fiel.
»Ser Rodrik.« Theon zügelte das Pferd. »Es dauert mich, dass wir uns hier als Feinde gegenüberstehen.«
»Ich bedaure lediglich, dass ich noch eine Weile warten muss, bis ich Euch hängen kann.« Der alte Ritter spuckte auf den matschigen Boden. »Theon der Abtrünnige.«
»Ich bin ein Graufreud von Peik«, erinnerte Theon ihn. »Der Mantel, in den mein Vater mich gehüllt hat, trug einen Kraken, keinen Schattenwolf.«
»Zehn Jahre lang wart Ihr das Mündel der Starks.«
»Ihre Geisel und ihr Gefangener, würde ich es nennen.«
»Dann hätte Lord Eddard Euch besser an die Wand eines Kerkers ketten sollen. Stattdessen zog er Euch zusammen mit seinen eigenen Söhnen auf, jenen lieben Jungen, die Ihr ermordet habt, und zu meiner unauslöschlichen Schande habe ich Euch selbst in der Kriegskunst unterrichtet. Hätte ich Euch das Schwert nur in den Leib gestoßen, statt es Euch in die Hand zu drücken.«
»Ich bin zu einer Unterhandlung gekommen, nicht um Beleidigungen über mich ergehen zu lassen. Sagt, was Ihr zu sagen habt, alter Mann. Was wollt Ihr von mir?«
»Zwei Dinge«, antwortete der alte Mann. »Winterfell und Euer Leben. Befehlt Euren Männern, die Tore zu öffnen und die Waffen niederzulegen. Jene, die keine Kinder ermordet haben, sollen freies Geleit erhalten, aber Ihr werdet gefangen gesetzt, bis König Robb Recht über Euch sprechen wird. Mögen die Götter Euch gnädig sein, wenn er zurückkehrt.«
»Robb wird Winterfell nicht wiedersehen«, versprach Theon ihm. »Er wird am Maidengraben untergehen wie jede andere Armee aus dem Süden in den letzten zehntausend Jahren. Der Norden ist jetzt unser, Ser.«
»Ihr habt drei Burgen«, entgegnete Ser Rodrik, »und diese werde ich mir zurückholen, Abtrünniger.«
Theon ignorierte das. »Hier sind meine Bedingungen. Ihr habt Zeit bis zum Abend, um abzuziehen. Wer Balon Graufreud als seinem König und mir als Prinz von Winterfell die Treue schwört, soll seine Rechte und seine Ländereien behalten und kein Leid erdulden müssen. Wer sich uns entgegenstellt, wird zermalmt.«
Der junge Cerwyn starrte ihn ungläubig an. »Seid Ihr wahnsinnig, Graufreud?«
Ser Rodrik schüttelte den Kopf. »Nur eitel, Junge. Theon hatte schon immer eine hohe Meinung von sich, fürchte ich.« Der alte Mann deutete mit dem Finger auf ihn. »Glaubt nicht, dass ich warten müsste, bis Robb sich seinen Weg die Eng hinauf freigekämpft hat, um sich mit Euch zu befassen. Ich habe fast zweitausend Mann bei mir … und wenn die Geschichten stimmen, habt Ihr keine fünfzig.«
Siebzehn in Wahrheit. Theon zwang sich zu lächeln. »Ich habe etwas Besseres als Männer.« Damit hob er die Faust über den Kopf und gab so das Signal für den Schwarzen Lorren.
Die Mauern von Winterfell waren hinter ihm, doch Ser Rodrik hatte sie genau vor Augen und musste es demnach sehen. Theon beobachtete sein Gesicht. Als das Kinn unter dem steifen weißen Schnurrbart zu zittern begann, wusste Theon, was der alte Mann erblickte. Überrascht ist er nicht, dachte er traurig, aber er hat Angst.
»Das ist feige«, sagte Ser Rodrik. »Ein Kind so zu missbrauchen … abscheulich.«
»Oh, ich weiß«, erwiderte Theon. »Ich weiß es nur zu gut, oder habt Ihr das schon vergessen? Ich war zehn, als ich aus dem Hause meines Vaters entführt wurde, um sicherzustellen, dass er nie wieder rebellieren würde.«
»Das ist nicht das Gleiche!«
Theons Gesicht zeigte keine Regung. »Die Schlinge, die um meinen Hals lag, war nicht aus Hanf geflochten, das stimmt, trotzdem habe ich sie gespürt. Und sie scheuerte, Ser Rodrik. Sie scheuerte mich blutig.« Bis zu diesem Moment war ihm das nicht klar gewesen, doch während die Worte aus ihm heraussprudelten, erkannte er ihre Wahrheit.
»Euch ist nie ein Leid zugefügt worden.«
»Und Eurer Beth wird ebenfalls kein Leid geschehen, wenn Ihr …«
Ser Rodrik ließ ihm keine Chance, den Satz zu beenden. »Vipernbrut«, rief der Ritter mit vor Wut gerötetem Gesicht. »Ich habe Euch Gelegenheit gegeben, Eure Männer zu retten und mit einem Hauch von Ehre zu sterben, Abtrünniger. Ich hätte wissen müssen, dass selbst das von einem Kindermörder zu viel verlangt ist.« Er legte die Hand auf den Griff seines Schwertes. »Ich sollte Euch hier an Ort und Stelle niedermachen und Euren Lügen und Listen ein Ende bereiten. Bei den Göttern, das sollte ich tun.«
Theon fürchtete sich nicht vor einem zitternden alten Mann, die Ritter und Bogenschützen waren allerdings eine andere Sache. Falls die Schwerter gezogen wurden, waren seine Chancen, die Burg lebend zu erreichen, verschwindend gering. »Brecht Euren Eid und ermordet mich, dann werdet Ihr zusehen können, wie Eure kleine Beth in dieser Schlinge stirbt.«
Ser Rodrik umklammerte sein Schwert so fest, dass seine Knöchel weiß wurden, doch schließlich ließ er die Waffe los. »Wahrlich, ich habe schon zu lange gelebt.«
»Dem will ich nicht widersprechen, Ser. Nehmt Ihr meine Bedingungen an?«
»Ich habe Pflichten gegenüber Lady Catelyn und dem Hause Stark.«
»Und Euer eigenes Haus? Beth ist die Letzte von Eurem Blute.«
Der alte Ritter richtete sich auf. »Ich biete mich an Stelle meiner Tochter an. Lasst sie frei und nehmt mich als Geisel. Der Kastellan von Winterfell ist sicherlich mehr wert als ein Kind.«
»Mir nicht.« Eine noble Geste, alter Mann, doch ein so großer Narr bin ich auch nicht. »Und auch nicht für Lord Manderly oder Leobald Tallhart, möchte ich wetten.« Eure armselige alte Haut ist denen nicht mehr wert als die jedes anderen Mannes. »Nein, ich behalte das Mädchen … sie ist in Sicherheit, solange Ihr meinen Befehlen Folge leistet. Ihr Leben liegt in Euren Händen.«
»Bei den guten Göttern, Theon, wie könnt Ihr das tun? Ihr wisst, dass ich angreifen muss, ich habe geschworen …«
»Wenn dieses Heer bei Sonnenuntergang noch vor meinen Toren steht, wird Beth hängen«, sagte Theon. »Beim Morgengrauen wird die nächste Geisel an der Reihe sein, und dann wieder eine bei Sonnenuntergang. Jeden Morgen und jeden Abend wird jemand sterben, bis Ihr abgezogen seid. Mir mangelt es nicht an Geiseln.« Er wartete die Antwort nicht ab, sondern wendete Lächler und ritt zurück zur Burg, zuerst gemächlich, dann ließ ihn jedoch der Gedanke an die Bogenschützen hinter ihm einen leichten Galopp einschlagen. Die kleinen Köpfe beobachteten ihn von ihren Spießen, ihre geteerten und gehäuteten Gesichter wurden mit jedem Meter größer; zwischen ihnen stand die kleine Beth Cassel weinend mit der Schlinge um den Hals. Theon gab Lächler die Sporen und trieb ihn zu vollem Galopp an. Lächlers Hufschlag dröhnte auf der Brücke wie Trommeln.
Im Hof stieg er ab und reichte Wex die Zügel. »Das wird sie vielleicht zurückhalten«, sagte er zu dem Schwarzen Lorren. »Bei Sonnenuntergang werden wir es genau wissen. Hol das Mädchen herein und pass auf sie auf.« Unter dem Leder, dem Stahl und der Wolle war er schweißnass. »Ich brauche einen Becher Wein. Ein Bottich Wein wäre noch besser.«
In Ned Starks Schlafgemach brannte ein Feuer. Theon saß neben dem Kamin und füllte sich einen Becher mit einem schweren Roten aus dem Keller der Burg, einem Wein, der so sauer war wie seine Stimmung. Sie werden angreifen, dachte er verbittert. Ser Rodrik liebt seine Tochter, aber er ist der Kastellan und vor allem ein Ritter. Hätte Theon dort mit einer Schlinge um den Hals gestanden und Lord Balon die Armee draußen befehligt, wären die Schlachthörner längst zum Angriff geblasen worden, daran zweifelte er nicht. Er sollte den Göttern dafür danken, dass Ser Rodrik kein Eisenmann war. Die Männer der Grünen Lande waren aus weicherem Holz geschnitzt, obwohl Theon nicht sicher war, ob es sich als weich genug erweisen würde.
Wenn nicht, wenn der alte Mann den Befehl gab, die Burg zu stürmen, würde Winterfell fallen; in dieser Hinsicht machte sich Theon keine Illusionen. Seine Siebzehn würden jeder drei, vier oder fünf Mann töten, am Ende würden sie jedoch überwältigt werden.
Über den Rand seines Bechers starrte Theon in die Flammen und grübelte darüber nach, wie ungerecht das alles war. »Ich bin neben Robb Stark in den Wisperwald geritten«, murmelte er. In jener Nacht hatte er Angst gehabt, jedoch nicht so wie jetzt. Es war eine Sache, inmitten von Freunden in die Schlacht zu ziehen, und eine ganz andere, einsam und verlassen seinem Untergang entgegenzusehen. Gnade, dachte er elendig.
Da der Wein keinen Trost spendete, schickte er Wex, seinen Bogen zu holen, und ging hinunter in den alten Innenhof. Dort stand er und schoss Pfeil um Pfeil auf die Zielscheiben ab, hielt nur inne, um die Pfeile für die nächste Runde wieder herauszuziehen, bis seine Schultern schmerzten und seine Finger blutig waren. Mit diesem Bogen habe ich Bran das Leben gerettet, erinnerte er sich. Ich wünschte, ich könnte nun meins retten. Frauen kamen zum Brunnen, verweilten dort jedoch nicht; was sie auf Theons Gesicht sahen, vertrieb sie rasch wieder.
Hinter ihm ragte der eingestürzte Turm auf, dessen Spitze gezackt war wie eine Krone, nachdem ein Feuer die oberen Stockwerke vor langer Zeit hatte zusammenbrechen lassen. Mit der Sonne bewegte sich auch der Schatten des Turms, wurde länger und griff wie ein schwarzer Arm nach Theon Graufreud. Als die Sonne schließlich die Mauer berührte, hatte der Schatten ihn gepackt. Wenn ich das Mädchen hänge, werden die Nordmänner sofort angreifen, dachte er, während er einen Pfeil fliegen ließ. Lasse ich sie nicht hängen, wissen sie, dass ich nur leere Drohungen ausstoße. Er legte einen weiteren Pfeil ein. Es gibt keinen Ausweg, keinen.
»Wenn Ihr hundert Bogenschützen hättet, die so gut wären wie Ihr, hättet Ihr eine Chance, die Burg zu halten«, sagte eine Stimme leise hinter ihm.
Als er sich umdrehte, stand Maester Luwin hinter ihm. »Lasst mich in Ruhe«, befahl Theon ihm. »Ich habe genug von Eurem Rat.«
»Und Leben? Habt Ihr davon auch genug, Mylord Prinz?«
Er hob den Bogen. »Ein Wort noch, und dieser Pfeil durchbohrt Euer Herz.«
»Das würdet Ihr nicht tun.«
Theon zog die grauen Gänsefedern am Schaft bis an die Wange. »Wollt Ihr darüber eine Wette abschließen?«
»Ich bin Eure letzte Hoffnung, Theon.«
Ich habe keine Hoffnung, dachte er. Dennoch senkte er den Bogen etwas. »Davonrennen werde ich nicht.«
»Von Flucht spreche ich nicht. Legt das Schwarz an.«
»Die Nachtwache?« Theon nahm langsam die Spannung aus dem Bogen und richtete die Pfeilspitze auf den Boden.
»Ser Rodrik hat sein ganzes Leben dem Hause Stark gedient, und das Haus Stark war stets ein Freund der Nachtwache. Er würde Euch diesen Wunsch nicht versagen. Öffnet die Tore, legt die Waffen nieder, akzeptiert die Bedingungen, und er muss Euch erlauben, das Schwarz anzulegen.«
Ein Bruder der Nachtwache. Keine Krone, keine Söhne, keine Ehefrau … aber er würde leben, und zwar ehrenhaft. Ned Starks eigener Bruder hatte die Nachtwache gewählt, und Jon Schnee ebenfalls.
Schwarze Kleidung habe ich genug, ich brauche nur die Kraken abzureißen. Sogar mein Pferd ist schwarz. In der Nachtwache könnte ich es weit bringen – Oberster Grenzer, vielleicht sogar Lord Kommandant. Soll Asha doch die verdammten Inseln behalten, sie sind genauso öde wie sie selbst. Wenn ich in Ostwacht diene, kann ich vielleicht mein eigenes Schiff befehligen, und jenseits der Mauer kann man wunderbar jagen. Und was die Weiber betrifft, welche Wildlingsfrau würde sich nicht gern mit einem Prinzen einlassen? Langsam breitete sich ein Lächeln auf seinem Gesicht aus. Ein Mann in Schwarz ist kein Abtrünniger. Ich wäre so gut wie jeder andere Mann …
»PRINZ THEON!« Der Schrei riss ihn aus seinem Tagtraum. Kromm kam über den Hof gelaufen. »Die Nordmänner …«
Plötzlich packte ihn das Entsetzen. »Greifen sie an?«
Maester Luwin ergriff seinen Arm. »Noch ist Zeit. Hisst das Banner des Friedens …«
»Sie kämpfen«, stieß Kromm hervor. »Es sind noch mehr Soldaten eingetroffen, Hunderte, und zuerst sah es aus, als würden sie zu den anderen stoßen. Dann sind sie über die Leute des Kastellans hergefallen.«
»Ist es Asha?« War sie am Ende doch noch gekommen, um ihn zu retten?
Doch Kromm schüttelte den Kopf. »Nein. Es sind Nordmänner, sage ich Euch. Mit einem blutigen Mann als Banner. «
Der gehäutete Mann von Grauenstein. Stinker hatte vor seiner Gefangennahme zum Bastard von Bolton gehört, erinnerte sich Theon. Es war kaum zu glauben, dass ein so abscheulicher Kerl die Boltons dazu bringen konnte, ein Bündnis zu brechen, doch alles andere ergab keinen Sinn. »Das muss ich mir selbst ansehen«, sagte Theon.
Maester Luwin folgte ihm. Als sie auf dem Wehrgang ankamen, war der Marktplatz bereits mit toten Männern und sterbenden Pferden übersät. Theon sah keinerlei Schlachtreihen, nur ein wildes Durcheinander von Bannern und Klingen. Rufe und Schreie hallten durch die kalte Herbstluft herüber. Ser Rodriks Männer waren an Zahl überlegen, die Männer von Grauenstein hingegen wurden besser geführt und hatten die anderen überrascht. Theon beobachtete ihre Angriffe, die kurzen Rückzüge und erneuten Angriffe, mit denen sie die größere Streitmacht jedes Mal aufs Neue auseinandertrieben, wenn diese sich zwischen den Häusern formieren wollte. Er hörte das Krachen, mit dem eiserne Äxte auf Eichenschilde niedergingen, und das schrille Wiehern verstümmelter Pferde. Das Gasthaus brannte.
Der Schwarze Lorren trat schweigend zu ihm. Die Sonne stand tief im Westen und überzog die Felder und Häuser mit glühendem Rot. Ein dünner, zitternder Schmerzensschrei gellte über die Mauern, und ein Schlachthorn ertönte jenseits der brennenden Häuser. Theon beobachtete einen Verwundeten, der sich unter Schmerzen über den Boden schleppte und sein Herzblut im Dreck vergoss, während er den Brunnen in der Mitte des Marktplatzes zu erreichen suchte. Er starb, bevor er dort ankam. Er trug ein Lederwams und einen kegelförmigen Helm, doch kein Abzeichen, das gezeigt hätte, auf welcher Seite er gekämpft hatte.
Die Krähen erschienen in der blauen Dämmerung mit den ersten Sternen. »Die Dothraki glauben, die Sterne seien die Geister der tapferen Toten«, sagte Theon. Maester Luwin hatte ihm das vor langer Zeit erzählt.
»Dothraki?«
»Die Pferdeleute jenseits der Meerenge.«
»Ach, die.« Der Schwarze Lorren runzelte die Stirn. »Wilde glauben an alles Mögliche.«
Der Rauch breitete sich immer mehr aus, und außerdem wurde es dunkler, sodass es immer schwieriger wurde, das Geschehen unten zu verfolgen, doch schließlich endete das Klirren des Stahls, und die Rufe und Hörner machten Stöhnen und Mitleid erregendem Klagen Platz. Dann tauchte eine Kolonne Berittener aus dem dahintreibenden Rauch auf. An ihrer Spitze befand sich ein Ritter in dunkler Rüstung. Sein runder Helm leuchtete rot, und ein heller, rosafarbener Mantel hing ihm von den Schultern. Vor dem Haupttor zügelte er sein Pferd, und einer seiner Männer verlangte, man solle ihnen öffnen.
»Freund oder Feind?«, rief der Schwarze Lorren hinunter.
»Würde Euch ein Feind solche Geschenke bringen?« Der Rote Helm gab ein Zeichen, und vor dem Tor wurden drei Leichen abgeworfen. Jemand hielt eine Fackel darüber, damit die Verteidiger auf der Mauer die Gesichter der Toten erkennen konnten.
»Der alte Kastellan«, sagte der Schwarze Lorren.
»Mit Leobald Tallhart und Cley Cerwyn.« Den jungen Lord hatte ein Pfeil ins Auge getroffen, und Ser Rodrik hatte den linken Arm bis zum Ellbogen eingebüßt. Maester Luwin stieß einen wortlosen Schreckensschrei aus, wandte sich von den Zinnen ab und fiel vor Übelkeit auf die Knie.
»Dieses große Schwein Manderly war zu feige, Weißwasserhafen zu verlassen, sonst hätten wir ihn Euch ebenfalls gebracht«, rief der Rote Helm.
Ich bin gerettet, dachte Theon. Doch weshalb fühlte er sich so leer? Dies war ein Sieg, ein süßer Sieg, die Erlösung, für die er gebetet hatte. Er blickte zu Maester Luwin hinüber. Wenn ich bedenke, dass ich beinahe aufgegeben und das Schwarz angelegt hätte …
»Öffne das Tor für unsere Freunde.« Vielleicht würde Theon heute Nacht ohne Furcht vor seinen Träumen schlafen.
Die Grauenstein-Männer überquerten den Burggraben und ritten durch die inneren Tore. Theon stieg mit dem Schwarzen Lorren und Maester Luwin zu ihnen hinunter in den Hof. Helle rote Wimpel hingen von den Enden einiger Lanzen, doch die meisten Männer trugen Streitäxte und Großschwerter und Schilde, die halb in Stücke gehackt waren. »Wie viele Männer habt Ihr verloren?«, fragte Theon den Roten Helm, als dieser abstieg.
»Zwanzig oder dreißig.« Im Licht der Fackeln leuchtete die angeschlagene Emaille auf seinem Visier. Helm und Halsberge waren wie Gesicht und Schultern eines Mannes gestaltet, hautlos und blutig, den Mund zu einem quälenden Schrei aufgerissen.
»Ser Rodrik war Euch fünf zu eins überlegen.«
»Ja, doch er hielt uns für Freunde. Ein häufiger Fehler. Als mir der alte Narr die Hand reichte, habe ich stattdessen seinen halben Arm genommen. Dann habe ich ihm mein Gesicht gezeigt.« Der Mann legte beide Hände an den Helm, nahm ihn vom Kopf und klemmte ihn unter den Arm.
»Stinker«, entfuhr es Theon beunruhigt. Woher hat ein Dienstmann eine solche Rüstung?
Der Mann lachte. »Stinker ist tot.« Er trat näher. »Daran ist das Mädchen schuld. Wäre sie nicht so weit gelaufen, hätte sein Pferd nicht gelahmt, dann hätten wir fliehen können. Ich habe ihm meins gegeben, als ich die Reiter über den Berg kommen sah. Zu dem Zeitpunkt war ich schon mit ihr fertig, und Stinker mochte es gern, sie zu nehmen, solange sie noch warm waren. Ich musste ihn regelrecht von ihr herunterzerren und habe ihm meine Kleider in die Hände gedrückt – Kalbslederstiefel und mein Samtwams, den silberbeschlagenen Schwertgurt und sogar meinen Zobelmantel. Reite nach Grauenstein, befahl ich ihm, und hol Hilfe. Nimm mein Pferd, es ist schneller, und hier, trag den Ring, den mir mein Vater geschenkt hat, damit sie wissen, dass ich dich geschickt habe. Er hatte inzwischen gelernt, mir keine Fragen zu stellen. Als sie ihm schließlich den Pfeil in den Rücken schossen, hatte ich mich schon mit dem Kot des Mädchens eingeschmiert und ihre Lumpen angezogen. Trotzdem hätten sie mich aufhängen können, aber ein anderer Ausweg fiel mir nicht ein.« Er rieb sich den Mund mit dem Handrücken. »Und jetzt, mein süßer Prinz, wo ist die Frau, die Ihr mir versprochen habt, wenn ich zweihundert Mann brächte? Nun, ich habe die dreifache Zahl hier, und keine grünen Jungen oder Feldarbeiter, sondern die Garnison meines Vaters.«
Theon hatte sein Wort gegeben. Dies war nicht der rechte Zeitpunkt, sich dem zu entziehen. Bezahl ihn mit dem Fleisch, das er verlangt, und rechne später mit ihm ab. »Harrag«, sagte er, »geh zu den Zwingern und hol Palla für …«
»Ramsay.« Seine wulstigen Lippen lächelten, doch nicht die hellen, hellen Augen. »Schnee hat mich mein Weib genannt, bevor sie ihre eigenen Finger gefressen hat, aber ich sage Bolton.« Das Lächeln erstarrte. »Ihr bietet mir also ein Hundemädchen für die Dienste an, die ich für Euch geleistet habe?«
In seiner Stimme schwang ein Unterton mit, der Theon nicht gefiel, genauso wenig wie die anmaßende Weise, in der ihn die Grauenstein-Männer anstarrten. »Sie ist das, was ich Euch versprochen habe.«
»Sie riecht nach Hundescheiße. Von Gestank habe ich die Nase voll. Ich denke, ich werde mir lieber von Eurem Mädchen das Bett wärmen lassen. Wie nennt Ihr sie? Kyra?«
»Seid Ihr verrückt?«, fuhr Theon verärgert auf. »Ich lasse Euch …«
Der Bastard schlug ihm die Hand ins Gesicht, und Theons Wangenknochen wurde mit einem abstoßenden Krachen von dem gepanzerten Handschuh zerschmettert. Die Welt verschwand hinter dem brüllenden Rot des Schmerzes.
Einige Zeit später erwachte Theon auf dem Boden. Er wälzte sich auf den Bauch und schluckte das Blut in seinem Mund herunter. Schließt die Tore!, versuchte er zu rufen, doch es war zu spät. Die Grauenstein-Männer hatten den Roten Rolf und Kenned niedergemacht und drängten herein, ein Strom aus Kettenhemden und scharfen Klingen. In seinen Ohren dröhnte es, und um ihn herum erblickte er nur nacktes Grauen. Der Schwarze Lorren hatte das Schwert gezogen, wurde jedoch von vier Mann bedrängt. Er sah Ulf fallen, als er zur Großen Halle rannte und von einem Armbrustbolzen in den Bauch getroffen wurde. Maester Luwin wollte zu Theon, doch ein Ritter auf einem Schlachtross stieß ihm einen Speer zwischen die Schultern und ritt ihn nieder. Ein anderer Mann wirbelte eine Fackel um den Kopf und schleuderte sie auf das strohgedeckte Dach der Stallungen. »Verschont mir die Freys«, rief der Bastard, während die Flammen aufloderten, »und brennt den Rest nieder. Brennt alles nieder. Alles!«
Das Letzte, was Theon Graufreud sah, war Lächler, der aus dem brennenden Stall flüchtete; seine Mähne stand in Flammen, und er schrie, bäumte sich auf …