BRAN

Das Geräusch war nur ein leises Klirren, als wenn Stahl über Stein scharrt. Er hob den Kopf von den Pfoten, lauschte und sog schnuppernd die Nachtluft ein.

Der Abendregen hatte hundert schlafende Gerüche geweckt und sie reifen und erstarken lassen. Gras und Dornen, Brombeeren, die auf dem Boden zerplatzt waren, Schlamm, Würmer, verrottendes Laub, eine Ratte, die durch das Gebüsch schlich. Er roch den zotteligen schwarzen Pelz seines Bruders und den scharfen kupferartigen Geruch vom Blut des Eichhörnchens, das er getötet hatte. Oben in den Ästen tummelten sich noch mehr Eichhörnchen, die nach nassem Fell und Angst rochen und mit den kleinen Füßen über die Rinde scharrten. So ähnlich hatte das Geräusch geklungen.

Und er hörte es wieder, ein Klirren und Scharren. Er erhob sich, stellte die Ohren auf und reckte den Schwanz in die Höhe. Dann heulte er, stieß einen langen, fröstelnden Schrei aus, ein Heulen, um Schlafende zu wecken, doch die Haufen des Menschensteins waren dunkel und tot. Die Nacht war noch immer nass, eine Nacht, in der die Menschen in ihrem Bau blieben. Der Regen hatte nachgelassen, dennoch verbargen sich die Menschen vor der Feuchtigkeit und saßen an Feuern in ihren Höhlen aus aufgestapelten Steinen.

Sein Bruder schlich zwischen den Bäumen hindurch und bewegte sich fast so leise wie ein anderer Bruder, an den er sich nur noch schwach erinnerte, so lange war es schon her, der Weiße mit den blutroten Augen. Die Augen dieses Bruders waren tiefe Schatten, doch sein Nackenfell war gesträubt. Auch er hatte die Geräusche gehört und wusste, dass sie Gefahr bedeuteten.

Diesmal folgte auf das Klirren und Scharren ein Rutschen und das leise Tappen von Hautfüßen auf Stein. Der Wind wehte einen schwachen Menschengeruch heran, den er nicht kannte. Fremde. Gefahr. Tod.

Er lief auf das Geräusch zu, und sein Bruder rannte neben ihm her. Die Steinhöhlen ragten vor ihnen auf, feuchte, glatte Mauern. Er fletschte die Zähne, doch der Menschenstein achtete nicht darauf. Ein Tor ragte vor ihm auf, eine schwarze eiserne Schlange wand sich um Stäbe und Pfosten. Als er sich dagegenwarf, erzitterte das Tor, und die Schlange klirrte und quietschte und hielt. Durch die Stäbe konnte er hinunter in den langen Steingraben schauen, der zwischen den Mauern zu dem steinigen Feld unten führte, doch er konnte nicht hindurch. Die Schnauze konnte er zwischen die Stäbe zwängen, mehr jedoch nicht. Oft hatte sein Bruder versucht, die schwarzen Knochen des Tores mit den Zähnen zu zermalmen, doch sie wollten nicht brechen. Sie hatten versucht, einen Gang darunter hindurchzugraben, aber darunter lagen große flache Steine, die halb von Erde und verwehtem Laub bedeckt waren.

Knurrend schritt er vor dem Tor auf und ab, dann warf er sich erneut dagegen. Es bewegte sich ein wenig und stieß ihn zurück. Verschlossen, flüsterte etwas. Mit Ketten. Die Stimme, die er nicht hören konnte, der Geruch, den er nicht riechen konnte. Die anderen Wege waren ebenfalls versperrt. Wo sich Türen in den Mauern aus Menschenstein befanden, waren sie aus dickem, starkem Holz. Es gab keinen Ausweg.

Doch, flüsterte es, und ihm war, er könne den Schatten eines großen Nadelbaumes sehen, der aus der schwarzen Erde aufragte, zehn Mal so groß wie ein Mann. Doch als er hinschaute, war er nicht da. Auf der anderen Seite des Götterhains, der Wachbaum, schnell, schnell

Durch die Dunkelheit der Nacht hallte ein erstickter Schrei, der jäh abbrach.

Rasch, rasch fuhr er herum und sprang wieder zwischen die Bäume, das nasse Laub raschelte unter seinen Pfoten, die Zweige schlugen nach ihm, als er vorbeilief. Er konnte seinen Bruder hören, der ihm folgte. Sie kamen unter dem Herzbaum heraus und umrundeten den kalten Tümpel, rannten durch die Brombeerbüsche und unter den Eichen und Eschen und dem Weißdorn hindurch zur anderen Seite des Hains … und dort war er, der Schatten, den er entdeckt hatte, ohne hingesehen zu haben, der schiefe Baum, der zu den Dächern zeigte. Wachbaum, ging ihm ein Gedanke durch den Sinn.

Er erinnerte sich, wie es war, wenn man kletterte. Überall Nadeln, die ihm das nackte Gesicht zerkratzten und ihm in den Nacken fielen, der klebrige Saft an seinen Händen, der scharfe Kieferngeruch. Für einen Jungen war der Baum leicht zu erklimmen, krumm, wie er war, und die Äste waren so dicht beieinander, dass sie fast eine Leiter bildeten, die bis hinauf zum Dach führte.

Knurrend schnüffelte er am Fuß des Baumes herum, hob das Bein und markierte den Stamm. Ein niedriger Zweig strich ihm durchs Gesicht, und er schnappte danach, zog und zerrte daran, bis das Holz brach und abriss. Sein Maul war voller Nadeln, und er hatte den Geschmack von Harz auf der Zunge. Er schüttelte den Kopf und knurrte erneut.

Sein Bruder setzte sich auf die Hinterpfoten und stieß ein wehklagendes Heulen aus, ein Lied voller Trauer. Der Weg war kein Ausweg. Sie waren keine Eichhörnchen und keine Menschenjungen, die sich mit ihren rosigen Pfoten und unbeholfenen Füßen an den Stämmen von Bäumen hochhangeln konnten. Sie waren Läufer, Jäger, Pirscher.

Draußen in der Nacht, jenseits des Steins, der sie einsperrte, erwachten die Hunde und begannen zu bellen. Erst einer, dann ein zweiter und schließlich alle. Sie witterten ihn ebenfalls, den Geruch von Feinden und Furcht.

Eine verzweifelte Wut ergriff heiß wie Hunger von ihm Besitz. Er sprang von der Mauer fort und lief mit großen Sätzen unter den Bäumen hindurch, wobei ihm die Schatten von Zweigen und Laub durch das graue Fell strichen … und dann drehte er sich um und rannte wieder zurück. Er flog dahin, warf feuchtes Laub und Kiefernnadeln hinter sich auf, und für kurze Zeit war er der Jäger, und ein Hirsch mit mächtigem Geweih floh vor ihm, und er konnte ihn sehen und wittern und setzte ihm mit aller Kraft hinterher. Der Geruch nach Angst ließ sein Herz klopfen, der Geifer rann ihm von den Lefzen, und er erreichte den Baum und warf sich am Stamm hoch und krallte sich, noch immer auf der Verfolgungsjagd, in die Rinde. Aufwärts ging es, aufwärts, zwei Sätze, drei, und er wurde kaum langsamer, bis er die unteren Äste erreicht hatte. Zweige wanden sich um seine Beine und schlugen nach seinen Augen, es regnete graugrüne Nadeln. Er wurde langsamer. Etwas schnappte nach seiner Pfote, und er riss sich knurrend los. Der Stamm unter ihm wurde schmaler, die Neigung steiler, fast aufrecht jetzt, und nass. Die Rinde zerriss wie Haut, wenn er sich daran festklammerte. Ein Drittel des Weges hatte er hinter sich, die Hälfte, und noch ein Stück, das Dach war fast erreicht … und dann spürte er, wie eine seiner Pfoten an dem nassen Holz abglitt, und plötzlich rutschte er. Voller Furcht und Zorn jaulte er auf, fiel, fiel, und drehte sich herum, während der Boden auf ihn zuraste und ihn zu zerschmettern drohte …

Und dann war Bran wieder im Bett seines einsamen Turmzimmers, umklammerte seine Decke und atmete keuchend. »Sommer«, rief er laut. »Sommer.« Seine Schulter schien zu schmerzen, als wäre er darauf gefallen, doch er wusste, dass es sich nur um den Geist dessen handelte, was der Wolf fühlte. Jojen hat die Wahrheit gesagt. Ich bin ein Tierling. Von draußen hörte er das ferne Bellen der Hunde. Das Meer ist gekommen. Es überflutet die Mauern, genau wie Jojen es gesehen hat. Bran packte die Stange über seinem Kopf, zog sich hoch und rief um Hilfe. Niemand kam, und einen Augenblick später erinnerte er sich, dass auch niemand kommen würde. Sie hatten die Wache von seiner Tür abgezogen. Ser Rodrik brauchte jeden Mann im kampffähigen Alter, und deshalb hatte Winterfell nur noch eine symbolische Besatzung.

Die anderen waren vor acht Tagen ausgezogen, sechshundert Mann aus Winterfell und den Befestigungen der Umgebung. Cley Cerwyn würde mit weiteren dreihundert unterwegs zu ihnen stoßen, und Maester Luwin hatte Raben ausgeschickt, um die Männer aus Weißwasserhafen, dem Land der Hügelgräber und sogar solchen abgelegenen Plätzen wie dem Wolfswald einzuberufen. Torrhenschanze war von einem riesigen Kriegshäuptling namens Dagmer Spaltkinn angegriffen worden. Die Alte Nan sagte, dass man ihn nicht töten könne und dass ein Gegner ihm einmal den Kopf mit einer Axt in zwei Teile gespalten habe, aber Dagmer war nur wütend geworden und hatte die beiden Hälften zusammengedrückt, bis sie verheilt waren. Könnte Dagmer gewonnen haben? Torrhenschanze war viele Tage von Winterfell entfernt, und dennoch …

Bran zog sich aus dem Bett und hangelte sich von Stange zu Stange bis zum Fenster. Er tastete ein wenig herum und stieß schließlich die Läden auf. Der Hof war leer, und alle Fenster, die er von hier aus sehen konnte, waren dunkel. Winterfell schlief. »Hodor!«, rief er nach unten, so laut er konnte. Hodor würde über dem Stall schlummern, doch vielleicht würde er Bran hören, wenn dieser nur laut genug schrie, oder jemand anders. »Hodor, komm schnell! Osha! Meera, Jojen, ist denn niemand da?« Bran legte die Hände wie einen Trichter vor den Mund. »HOOOOODOOOOOOR!«

Doch als die Tür hinter ihm krachend aufgestoßen wurde, handelte es sich bei dem Mann, der eintrat, um niemanden, den Bran kannte. Er trug ein Lederwams, das mit sich überlappenden Eisenscheiben benäht war, hielt einen Dolch in der Hand und hatte eine Axt über die Schulter geworfen. »Was willst du hier?«, wollte Bran verängstigt wissen. »Das ist mein Zimmer! Raus hier!«

Theon Graufreud trat hinter dem Mann herein. »Wir wollen dir nichts tun, Bran.«

»Theon?« Bran wurde ganz schwindlig vor Erleichterung. »Hat Robb dich geschickt? Ist er auch hier?«

»Robb ist weit fort. Er kann dir nicht helfen.«

»Mir helfen?« Er war verwirrt. »Mach mir keine Angst, Theon.«

»Prinz Theon heißt es jetzt. Wir sind beide Prinzen, Bran. Wer hätte sich das träumen lassen? Aber ich habe deine Burg eingenommen, mein Prinz.«

»Winterfell?« Bran schüttelte den Kopf. »Nein, das kannst du nicht machen.«

»Lass uns allein, Werlag.« Der Mann mit dem Dolch ging hinaus. Theon setzte sich auf das Bett. »Ich habe vier Männer mit Wurfhaken und Seilen über die Mauer geschickt, und sie haben ein Seitentor für die anderen geöffnet. Meine Männer kümmern sich gerade um deine. Ich versichere dir, Winterfell gehört mir.«

Bran verstand es nicht. »Aber du bist Vaters Mündel.«

»Und jetzt seid du und dein Bruder meine Mündel. Sobald die Kämpfe vorüber sind, werden meine Männer den Rest deiner Leute in der Großen Halle versammeln. Du und ich, wir werden zu ihnen sprechen. Du sagst ihnen, dass du Winterfell an mich übergeben hast und befiehlst ihnen, mir als ihrem neuen Lord zu dienen und zu gehorchen, wie sie es für dich getan haben.«

»Das tue ich nicht«, entgegnete Bran. »Wir werden gegen euch kämpfen und euch hinauswerfen. Ich habe mich noch nie ergeben, und du kannst mich nicht dazu zwingen.«

»Dies ist kein Spiel, Bran, also treib es nicht zu weit, das lasse ich mir nicht gefallen. Die Burg gehört mir, aber diese Menschen sind noch immer dein. Wenn der Prinz um ihre Sicherheit besorgt ist, sollte er besser tun, was man ihm sagt.« Er erhob sich und trat zur Tür. »Man wird dich anziehen und in die Große Halle tragen. Denk gut darüber nach, was du sagen wirst.«

Während er warten musste, fühlte sich Bran noch hilfloser als zuvor. Er saß auf der Fensterbank und starrte hinaus auf die dunklen Türme und Mauern, die schwarz wie Schatten waren. Einmal glaubte er, Schreie und so etwas wie das Klirren von Schwertern aus Richtung der Wachhalle zu hören, doch er besaß weder Sommers Gehör noch seine Nase. Wach bin ich noch immer ein Krüppel, aber wenn ich schlafe, wenn ich Sommer bin, kann ich laufen und kämpfen und hören und riechen.

Er hatte Hodor oder vielleicht eins der Dienstmädchen erwartet, doch als die Tür schließlich aufging, stand Maester Luwin mit einer Kerze in der Hand vor ihm. »Bran«, begann er, »Ihr … wisst Ihr, was geschehen ist? Hat man es Euch bereits berichtet?« Die Haut über seinem linken Auge war aufgeplatzt, und Blut rann über sein Gesicht.

»Theon war hier. Er hat behauptet, Winterfell würde jetzt ihm gehören.«

Der Maester stellte die Kerze ab und wischte sich das Blut von der Wange. »Sie sind durch den Burggraben geschwommen. Kletterten mit Haken und Seil die Mauern hoch. Nass und tropfend und mit Stahl in der Hand sind sie hereingekommen. « Er setzte sich auf den Stuhl an der Tür, während frisches Blut hervorquoll. »Bierbauch war am Tor, sie haben ihn auf dem Wachturm überrascht und getötet. Heukopf ist verwundet. Mir blieb noch Zeit, zwei Raben loszuschicken, ehe sie hereinplatzten. Der Vogel nach Weißwasserhafen konnte entkommen, aber den anderen haben sie abgeschossen. « Der Maester starrte in die Binsen. »Ser Rodrik hat zu viele Männer mitgenommen, doch ich muss mir selbst ebenfalls die Schuld geben. Ich habe diese Gefahr nicht kommen sehen, ich habe nie …«

Jojen hat sie gesehen, dachte Bran. »Am besten helft Ihr mir jetzt beim Anziehen.«

»Ja, das ist wohl das Beste.« In der schweren Truhe mit den Eisenbändern am Fußende von Brans Bett fand der Maester Unterwäsche, eine Hose und ein Wams. »Ihr seid der Stark in Winterfell und Robbs Erbe. Ihr müsst aussehen wie ein Prinz.« Gemeinsam kleideten sie ihn an, wie es einem Lord geziemte.

»Theon will, dass ich ihm die Burg übergebe«, sagte Bran, während der Maester den Umhang mit seiner Lieblingsbrosche schloss, dem Wolfskopf aus Silber und Jett.

»Darin liegt keine Schande. Ein Lord muss seine Untertanen beschützen. Grausame Orte bringen grausame Menschen hervor, Bran, vergesst das nicht, wenn Ihr mit diesen Eisenmännern verhandelt. Euer Hoher Vater hat getan, was er konnte, um Theon ein bisschen Sanftmut beizubringen, aber ich fürchte, es war zu wenig oder es kam zu spät.«

Der Eisenmann, der sie abholte, war ein gedrungener dicker Kerl mit einem rabenschwarzen Bart, der seine halbe Brust bedeckte. Er trug den Jungen ohne Mühe, wenngleich er über diese Aufgabe nicht glücklich zu sein schien. Rickons Zimmer lag nur eine halbe Treppe weiter unten. Der Vierjährige war quengelig, weil man ihn geweckt hatte. »Ich will zu Mutter«, sagte er, »sie soll herkommen. Und Struppi auch.«

»Eure Mutter ist weit fort, mein Prinz.« Maester Luwin zog dem Jungen einen Morgenrock an. »Aber ich bin hier, und Bran auch.« Er nahm Rickon an der Hand und führte ihn hinaus.

Unten trafen sie auf Meera und Jojen, die von einem kahlköpfigen Mann mit einem Speer, der seine eigene Körperlänge um drei Fuß übertraf, aus ihrem Zimmer getrieben wurden. Als Jojen Bran ansah, lag in seinen tiefgrünen Augen tiefe Trauer. Andere Eisenmänner hatten die Freys herbeigeschafft. »Dein Bruder hat sein Königreich verloren«, sagte der Kleine Walder zu Bran. »Jetzt bist du kein Prinz mehr, sondern nur noch eine Geisel.«

»Und ihr auch«, erwiderte Jojen, »und ich auch, wir alle.« »Mit dir hat niemand geredet, Froschfresser.«

Einer der Eisenmänner ging mit einer Fackel voraus, doch es hatte wieder angefangen zu regnen, und bald war das Licht erloschen. Während sie durch den Hof eilten, konnten sie die Schattenwölfe im Götterhain heulen hören. Hoffentlich hat sich Sommer nicht verletzt, als er vom Baum gefallen ist.

Theon Graufreud saß auf dem hohen Stuhl der Starks. Er hatte seinen Mantel abgelegt. Über einem feinen Kettenhemd trug er einen schwarzen Überwurf, der mit dem goldenen Kraken seines Hauses bestickt war. Seine Hände ruhten auf den Wolfsköpfen, die in die Enden der breiten steinernen Armlehnen gemeißelt waren. »Theon sitzt auf Robbs Stuhl«, sagte Rickon.

»Still, Rickon.« Bran spürte die Bedrohlichkeit der Situation, doch sein Bruder war noch zu jung. Man hatte ein paar Fackeln angezündet, und im großen Kamin brannte ein Feuer; der größte Teil der Halle lag jedoch im Dunkeln. Da die Bänke an der Wand gestapelt waren, konnte man sich nirgendwo hinsetzen, daher hatten sich die Bewohner der Burg in kleinen Gruppen zusammengedrängt und wagten nicht zu sprechen. Er sah die Alte Nan, deren zahnloser Mund sich ständig öffnete und schloss. Heukopf wurde von zwei anderen Wachen hereingetragen; um seinen nackten Oberkörper hatte man einen Verband gewickelt, der inzwischen blutige Flecken aufwies. Pickeltym schluchzte untröstlich, und Beth Cassel weinte vor Angst.

»Wen haben wir denn da?«, fragte Theon die Reets und die Freys.

»Dies sind Lady Catelyns Mündel, sie heißen beide Walder Frey«, erklärte Maester Luwin. »Und dies sind Jojen Reet und seine Schwester Meera, Sohn und Tochter von Holand Reet von Grauwasser Wacht, die zu uns gekommen sind, um die Treueide Winterfell gegenüber zu erneuern.«

»Man möchte meinen, sie sind zu einem ungünstigen Zeitpunkt eingetroffen«, sagte Theon, »wenn auch nicht für mich. Hier seid ihr, und hier werdet ihr bleiben.« Er erhob sich von dem hohen Stuhl. »Bring den Prinzen her, Lorren.« Der schwarzbärtige Mann setzte Bran wie einen Sack Hafer auf dem Stein ab.

Noch immer wurden Menschen mit Befehlen und Speerstößen in die Große Halle getrieben. Gage und Osha trafen aus der Küche ein, sie waren mit Mehl bedeckt, weil sie gerade das Brot fürs Frühstück gebacken hatten. Mikken fluchte, während man ihn hereinzerrte. Farlen humpelte und versuchte trotzdem, Palla zu stützen. Ihr Kleid war zerrissen; sie hielt es mit der Faust zusammen und bewegte sich, als würde ihr jeder Schritt Todesqualen bereiten. Septon Chayle wollte ihr helfen, doch einer der Eisenmänner schlug ihn zu Boden.

Der letzte Mann, der durch die Tür eintrat, war der Gefangene Stinker, dessen Geruch ihm stechend vorauseilte. Bran spürte, wie sich ihm der Magen umdrehen wollte. »Den haben wir in einer Zelle des Turms gefunden«, verkündete die Eskorte, ein bartloser junger Mann mit rötlich gelbem Haar und nassen Kleidern, ohne Zweifel einer von denen, die durch den Wassergraben geschwommen waren. »Er sagt, man würde ihn Stinker nennen.«

»Kann mir gar nicht vorstellen, warum«, antwortete Theon und lächelte. »Riechst du immer so, oder hast du es gerade mit einem Schwein getrieben?«

»Ich habe es mit niemandem mehr getrieben, M’lord, seit sie mich hergebracht haben. Heke ist mein richtiger Name. Ich habe dem Bastard von Grauenstein gedient, bis die Starks ihm als Hochzeitsgabe einen Pfeil in den Rücken schenkten.«

Theon amüsierte das. »Wen hat er denn geheiratet?«

»Die Witwe von Hornwald, M’lord.«

»Das alte Weib? War er blind? Die hatte doch Zitzen wie leere Weinschläuche, schlaff und vertrocknet.«

»Er hat sie nicht ihrer Zitzen wegen geheiratet, M’lord.«

Die Eisenmänner schlugen die hohen Türen der Halle zu. Von seinem hohen Sitz aus konnte Bran ungefähr zwanzig von ihnen sehen. Vermutlich hat er ein paar Wachen draußen am Tor und vor der Waffenkammer gelassen. Selbst dann konnten es nicht mehr als dreißig sein.

Theon hob die Hände und bat um Ruhe. »Ihr alle kennt mich …«

»Ja, wir wissen, dass Ihr ein Haufen dampfender Mist seid!«, schrie Mikken, ehe der Kahlköpfige ihm seinen Speerschaft in den Bauch stieß und ihm anschließend ins Gesicht schlug. Der Schmied ging in die Knie und spuckte einen Zahn aus.

»Mikken, sei still.« Bran versuchte, ernst und herrschaftlich zu klingen, so wie Robb, wenn er einen Befehl erteilte, doch seine Stimme ließ ihn im Stich, und die Worte kamen in einem schrillen Fistelton hervor.

»Hör lieber auf deinen kleinen Lord, Mikken«, sagte Theon. »Er hat mehr Verstand als du.«

Ein guter Lord beschützt sein Volk, rief er sich in Erinnerung. »Ich habe Winterfell an Theon übergeben.«

»Lauter, Bran. Und nenn mich Prinz.«

Er hob die Stimme. »Ich habe Winterfell an Prinz Theon übergeben. Jeder von euch sollte tun, was er befiehlt.«

»Verdammt will ich sein, wenn ich das tue!«, brüllte Mikken.

Theon ignorierte ihn. »Mein Vater hat die uralte Krone des Salzes und Felsens aufgesetzt und sich zum König der Eiseninseln ernannt. Er beansprucht durch das Recht der Eroberung auch den Norden für sich. Ihr alle seid seine Untertanen. «

»Fickt Euch.« Mikken wischte sich das Blut vom Mund. »Ich diene den Starks, nicht irgendeinem verräterischen Tintenfisch von – aaah.« Der Speerschaft traf Mikken erneut, und diesmal schmetterte er ihn mit dem Gesicht nach unten auf den Steinboden.

»Schmiede haben starke Arme und schwache Köpfe«, merkte Theon an. »Aber wenn ihr anderen mir ebenso treu dient, wie ihr Ned Stark gedient habt, werdet ihr mich als großzügigen Lord kennenlernen.«

Mikken stemmte sich auf Händen und Knien hoch und spuckte Blut. Bitte nicht, flehte Bran innerlich, doch der Schmied rief: »Wenn Ihr denkt, Ihr könntet mit Eurem armseligen Haufen den Norden halten …«

Der Kahlköpfige stieß Mikken die Speerspitze in den Nacken. Stahl glitt durch Fleisch und trat in einer Flut von Blut aus der Kehle wieder hervor. Eine Frau schrie auf, und Meera schloss Rickon in die Arme. In Blut ist er ertrunken, dachte Bran benommen. In seinem eigenen Blut.

»Wer hat sonst noch etwas zu sagen?«, fragte Theon Graufreud.

»Hodor hodor hodor hodor«, rief Hodor mit weit aufgerissenen Augen.

»Bringt vielleicht jemand freundlicherweise diesen Schwachsinnigen zum Schweigen?«

Zwei Eisenmänner prügelten mit ihren Speerschäften auf Hodor ein. Der Stallbursche warf sich zu Boden und versuchte sich mit den Händen zu schützen.

»Ich werde ein ebenso guter Lord sein wie seinerzeit Eddard Stark.« Theon hob die Stimme, damit man ihn über das Klatschen der Schläge hinweg verstehen konnte. »Doch wer mich hintergeht, wird sich bald wünschen, er hätte es nicht gewagt. Und glaubt nicht, die Männer, die ihr hier seht, seien meine ganze Streitmacht. Torrhenschanze und Tiefwald Motte werden uns ebenfalls bald gehören, und mein Onkel segelt den Salzspeer hinauf, um Maidengraben zu belagern. Falls Robb Stark sich gegen die Lennisters durchsetzt, mag er als König vom Trident herrschen, aber das Haus Graufreud hält von nun an den Norden.«

»Starks Lords werden gegen Euch kämpfen«, rief Stinker. »Zum einen dieses fette Schwein von Weißwasserhafen, und außerdem die Umbers und die Karstarks. Ihr braucht Männer. Befreit mich, und ich gehöre Euch.«

Theon wog das Angebot kurz ab. »Du denkst besser, als du riechst, aber deinen Gestank könnte ich nicht ertragen.«

»Nun«, sagte Stinker, »ich könnte mich waschen, wenn ich frei wäre.«

»Einer der seltenen Männer mit wachem Verstand.« Theon lächelte. »Beuge dein Knie.«

Einer der Eisenmänner reichte Stinker ein Schwert, das er Theon zu Füßen legte und dem Hause Graufreud und König Balon Gehorsam schwor. Bran konnte nicht hinsehen. Der grüne Traum erfüllte sich.

»M’lord Graufreud!« Osha trat an Mikkens Leiche vorbei nach vorn. »Ich wurde ebenfalls als Gefangene hergebracht. Ihr wart damals dabei.«

Ich habe gedacht, du wärst eine Freundin, dachte Bran verletzt.

»Ich brauche Krieger«, verkündete Theon, »keine Küchenschlampen. «

»Robb Stark war es, der mich in die Küche geschickt hat. Seit fast einem Jahr schrubbe ich schon Töpfe, kehre Dreck zusammen und wärme dem da die Strohmatratze.« Sie warf Gage einen Blick zu. »Davon habe ich genug. Gebt mir wieder einen Speer in die Hand.«

»Ich habe hier einen Speer für dich«, sagte der Kahle, der Mikken getötet hatte. Er griff sich in den Schritt und grinste.

Osha stieß ihm ihr knochiges Knie zwischen die Beine. »Behalt dein weiches Ding.« Sie riss ihm den Speer aus den Händen und stieß ihn mit dem Schaft zu Boden. »Ich bediene mich lieber mit Holz und Eisen.« Der Kahlköpfige krümmte sich auf dem Boden, während die anderen Eisenmänner schallend lachten.

Theon lachte mit ihnen. »Nicht schlecht«, sagte er. »Behalte den Speer; Stygg kann sich einen anderen suchen. Und jetzt beuge dein Knie und schwöre.«

Da niemand anders vortrat, um Theon die Treue zu schwören, wurden alle entlassen, wobei ihnen die Warnung mit auf den Weg gegeben wurde, ihre Arbeit zu erledigen und niemandem Schwierigkeiten zu bereiten. Hodor erhielt den Auftrag, Bran zurück ins Bett zu bringen. Sein Gesicht war von den Schlägen verunstaltet, die Nase formlos, ein Auge zugeschwollen. »Hodor«, schluchzte er mit aufgesprungenen Lippen, während er Bran mit starken Armen und blutigen Händen aufhob und ihn hinaus in den Regen trug.

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