JON

Der Hügel ragte einsam aus dem dichten Wald auf, und die windumtoste Anhöhe war meilenweit zu sehen. Die Wildlinge nannten ihn die Faust der Ersten Menschen, sagten die Grenzer. Und er erinnerte wirklich an eine Faust, dachte Jon, an eine Faust, die sich durch Erde und Wälder in den Himmel reckte, die kahlen braunen Hänge mit Knöcheln aus Felsbrocken bedeckt.

Zusammen mit Lord Mormont und den anderen Offizieren ritt er zur Spitze hinauf. Geist ließ er unten zwischen den Bäumen zurück. Der Schattenwolf war während des Aufstiegs drei Mal davongelaufen und zwei Mal auf Jons Pfiff hin nur widerwillig zurückgekehrt. Beim dritten Mal verlor der Lord Kommandant die Geduld und fauchte: »Lass ihn laufen, Junge. Ich will die Spitze vor Einbruch der Dämmerung erreichen. Such den Wolf später.«

Der Weg war steinig und steil, die Spitze von einer brusthohen Mauer aus Felsen gekrönt. Sie mussten an dieser entlang eine Weile nach Westen weiterziehen, ehe sie eine Lücke fanden, durch die die Pferde hindurchpassten. »Das ist eine gute Stelle, Thoren«, verkündete der Alte Bär, als sie schließlich oben angekommen waren. »Eine bessere dürfen wir uns kaum erhoffen. Wir schlagen hier das Lager auf und warten auf Halbhand.« Der Lord Kommandant schwang sich aus dem Sattel und scheuchte den Raben von seiner Schulter. Der Vogel beschwerte sich laut und erhob sich in die Luft.

Die Aussicht von hier oben war atemberaubend, doch die Ringmauer interessierte Jon noch mehr, die verwitterten grauen Steine mit ihren Flecken aus weißen Flechten und den Bärten aus grünem Moos. Wie es hieß, war die Faust im Zeitalter der Dämmerung eine Rundfeste der Ersten Menschen gewesen. »Dieser Ort ist alt, und mächtig dazu«, sagte Thoren Kleinwald.

»Alt«, kreischte Mormonts Rabe, der laut flatternd über ihren Köpfen kreiste. »Alt, alt, alt.«

»Ruhe«, knurrte Mormont den Vogel an. Der Alte Bär war zu stolz, um Schwäche zuzugeben, doch Jon ließ sich nicht täuschen. Die Anstrengung, mit den jüngeren Männern mitzuhalten, forderte ihren Tribut.

»Dieser Berg ist leicht zu verteidigen, falls es notwendig wird«, meinte Thoren und ließ sein Pferd an dem Steinring entlanggehen, wobei sein mit Zobel gesäumter Mantel im Wind wehte.

»Ja, dies ist ein guter Lagerplatz.« Der Alte Bär hielt eine Hand in den Wind, und der Rabe landete auf dem Unterarm und krallte sich in das Kettenhemd.

»Was ist mit Wasser, Mylord?«, erkundigte sich Jon.

»Am Fuß des Hügels haben wir einen Bach überquert.«

»Ziemlich viel Kletterei für etwas zu trinken«, sagte Jon, »und zudem außerhalb des Steinrings.«

»Bist du zu faul, um einen Hügel hinaufzusteigen, Junge? «, fragte Thoren.

Daraufhin fügte Lord Mormont hinzu: »Wir werden keinen besseren Platz finden. Wir tragen das Wasser herauf, und zwar einen ausreichenden Vorrat.« Jon wusste, dass es keinen Zweck hatte zu widersprechen. Der Befehl wurde erteilt, und die Brüder der Nachtwache errichteten ihr Lager in dem mächtigen Steinring, den die Ersten Menschen gebaut hatten. Schwarze Zelte sprossen wie Pilze nach einem Regen aus der Erde, und überall auf dem kahlen Boden lagen Decken. Die Pferde wurden in langen Reihen angepflockt, gefüttert und getränkt. Die Waldläufer nahmen ihre Äxte und schlugen im bleichen Licht des Nachmittags genug Holz für die Nacht. Eine Gruppe Baumeister entfernte Buschwerk, grub Latrinen und packte die zugespitzten feuergehärteten Pfähle aus. »Jede Öffnung in der Ringmauer muss bis Einbruch der Dunkelheit mit einer Palisade und einem Graben gesichert sein«, hatte der Alte Bär befohlen.

Nachdem Jon Schnee das Zelt des Lord Kommandanten aufgebaut und sich um ihre Pferde gekümmert hatte, stieg er den Hügel hinunter und suchte nach Geist. Der Schattenwolf kam sofort angeschlichen. Eben schritt Jon noch pfeifend und rufend zwischen den Bäumen hindurch über Tannenzapfen und Laub; im nächsten Augenblick lief der große, weiße Schattenwolf bleich wie der Morgennebel neben ihm.

Doch als sie die Rundfeste erreichten, wollte Geist abermals nicht folgen. Er tappte wachsam zu einer Lücke in den Steinen, schnüffelte und wich zurück. Was er roch, schien ihm nicht zu gefallen. Jon wollte ihn am Nackenfell packen und ihn in den Ring zerren, was jedoch keine leichte Aufgabe war; der Wolf wog ebenso viel wie er selbst, und er war bei weitem kräftiger. »Geist, was hast du denn?« Diese Ängstlichkeit sah ihm gar nicht ähnlich. »Wie du willst«, sagte er, »dann geh jagen.« Die roten Augen beobachteten ihn, während er durch die moosigen Steine zurückging.

Hier sollten sie eigentlich sicher sein. Der Hügel bot einen guten Ausblick, die Hänge im Norden und Westen waren sehr steil, und die im Osten nur wenig flacher. Doch als die Dämmerung unter den Bäumen von der Dunkelheit verdrängt wurde, nahm Jons Gefühl, dass Unheil drohte, noch zu. Dies ist der Verfluchte Wald, sagte er sich. Vielleicht gibt es Gespenster hier, die Geister der Ersten Menschen. Einst hat dieser Ort ihnen gehört.

»Hör auf, dich wie ein kleiner Junge zu benehmen«, wies er sich selbst zurecht. Er kletterte auf die Mauer und schaute zur untergehenden Sonne. Das Licht glänzte wie gehämmertes Gold auf dem Wasser des Milchwasser, der sich nach Süden schlängelte. Stromaufwärts war das Land zerklüfteter, der dichte Wald wich einer Reihe kahler felsiger Hügel, die im Norden und Westen hoch aufragten. Gegen den Horizont zeichneten sich die Berge mit klarer Silhouette ab, und Höhenzug um Höhenzug verloren sie sich in der blaugrauen Ferne; die rauen Gipfel waren in ewigen Schnee gehüllt. Sogar aus dieser Entfernung wirkten sie riesig, kalt und unwirtlich.

Im Vordergrund dagegen herrschten die Bäume. Nach Süden und Osten setzte sich der Wald fort, so weit Jon sehen konnte, ein riesiges Gewirr aus Wurzeln und Ästen in tausend verschiedenen Grüntönen, und nur hier und dort stach das rote Laub eines Wehrholzbaumes oder das Gelb eines herbstwelken Breitblattes aus den Kiefern und Wachbäumen hervor. Im Wind konnte er das Ächzen und Stöhnen von Ästen hören, die weit älter waren als er. Tausend Blätter raschelten, und einen Augenblick war der Wald ein tiefgrünes, ewiges Meer, das sich sturmumtost und unendlich fremd hob und senkte.

Geist war dort unten bestimmt nicht allein, dachte er. Alles Mögliche konnte in diesem Meer leben und von den Bäumen verborgen durch die Dunkelheit des Waldes auf die Rundfeste zuschleichen. Alles Mögliche. Wie sollten sie das jemals erfahren? Lange stand er da, während die Sonne hinter den Sägezähnen der Berge versank und die Finsternis durch den Wald herankroch.

»Jon?«, rief Samwell Tarly zu ihm hinauf. »Dachte ich mir doch, dass du es bist. Alles in Ordnung?«

»Ganz gut, ja.« Jon sprang hinunter. »Wie ist es dir heute ergangen?«

»Gut. Ich habe mich wacker geschlagen. Wirklich.«

Jon wollte dem Freund seine Unruhe nicht aufbürden, nicht, wenn Samwell Tarly gerade endlich etwas Mut fasste. »Der Alte Bär will hier auf Qhorin Halbhand und die Männer vom Schattenturm warten.«

»Scheint ein gut befestigter Ort zu sein«, antwortete Sam. »Eine Rundfeste der Ersten Menschen. Glaubst du, hier wurden Schlachten geschlagen?«

»Bestimmt. Am besten machst du einen Vogel fertig. Mormont wird eine Nachricht nach Hause schicken wollen.«

»Ich wünschte, ich könnte sie alle freilassen. Sie hassen es, im Käfig zu sitzen.«

»Das würdest du auch tun, wenn du fliegen könntest.«

»Wenn ich fliegen könnte, wäre ich längst wieder in der Schwarzen Festung und würde Schweinepastete essen«, sagte Sam.

Jon klopfte ihm mit seiner verbrannten Hand auf die Schulter. Gemeinsam gingen sie hinüber ins Lager. Überall wurden Feuer angezündet. Über ihnen kamen die Sterne zum Vorschein. Der lange rote Schweif von Mormonts Fackel leuchtete heller als der Mond. Jon hörte die Raben, lange bevor er sie sehen konnte. Manche riefen seinen Namen. Die Vögel waren nicht faul, wenn es darum ging, Lärm zu machen.

Sie fühlen es ebenfalls. »Ich sollte wohl mal nach dem Alten Bären schauen«, sagte er. »Der wird auch immer laut, wenn ich ihn nicht rechtzeitig füttere.«

Er ging zu Mormont, der sich mit Thoren Kleinwald und einem halben Dutzend anderer Offiziere unterhielt. »Da bist du ja«, sagte der alte Mann barsch. »Bring uns ein bisschen heißen Wein, ja? Die Nacht ist kalt.«

»Ja, Mylord.« Jon zündete ein Kochfeuer an, holte ein kleines Fässchen von Mormonts Lieblingswein, einem kräftigen Roten, aus den Vorräten, und goss ihn in einen Kessel. Diesen hängte er über die Flammen und suchte den Rest der Zutaten zusammen. Der Alte Bär nahm es mit seinem heißen, gewürzten Wein sehr genau. So und so viel Zimt, so und so viel Muskat, so und so viel Honig und kein bisschen mehr. Rosinen und Nüsse und getrocknete Beeren, jedoch keine Zitronen, das war die übelste Form südlicher Ketzerei – was eigentlich seltsam war, da Mormont sein Morgenbier mit Zitrone zu verfeinern pflegte. Das Getränk musste heiß genug sein, damit man sich daran wärmen konnte, doch der Lord Kommandant bestand darauf, dass es niemals kochen durfte. Jon behielt den Topf sorgsam im Auge.

Unterdessen hörte er die Stimmen aus dem Zelt. Jarman Bockwell sagte: »Am einfachsten gelangt man zu den Frostfängen, wenn man dem Milchwasser bis zu seiner Quelle folgt. Falls wir jedoch diesen Weg einschlagen, wird Manke Rayder uns mit Sicherheit bemerken.«

»Wir könnten die Treppe des Riesen nehmen«, schlug Ser Mallador Locke vor. »Oder den Klagenden Pass, falls er frei ist.«

Der Wein dampfte. Jon nahm den Topf vom Feuer, füllte acht Becher und trug sie ins Zelt. Der Alte Bär betrachtete die grobe Karte, die Sam ihm in Crasters Bergfried gezeichnet hatte. Er nahm einen Becher von Jons Tablett, nippte am Wein und nickte beifällig. Der Rabe hüpfte seinen Arm hinunter.

»Korn«, krächzte er, »Korn. Korn.«

Ser Ottyn Wyters lehnte den Wein mit einer Handbewegung ab. »Ich würde überhaupt nicht in die Berge gehen«, sagte er mit dünner, müder Stimme. »Die Frostfänge sind schon im Sommer kein Vergnügen, aber jetzt … wenn uns dort ein Sturm überrascht …«

»Ich werde dieses Risiko nur eingehen, falls es unbedingt sein muss«, erwiderte Mormont. »Wildlinge können genauso wenig von Schnee und Steinen leben wie wir. Sie werden bald aus den Bergen herunterkommen, und für ein Heer, gleich welcher Größe, stellt der Milchwasser den einzigen Weg dar. Insofern haben wir hier einen guten Platz gefunden. Sie können nicht hoffen, sich an uns vorbeischleichen zu können.«

»Vielleicht wollen sie das gar nicht. Sie sind Tausende, und wir sind höchstens dreihundert, wenn Halbhand uns erreicht. « Ser Mallador nahm einen Becher von Jon entgegen.

»Sollte es zur Schlacht kommen, kann ich mir keinen besseren Ort vorstellen als diesen«, verkündete Mormont. »Wir werden die Verteidigungsanlagen verstärken. Palisaden aus Gruben und Pfählen, Fußangeln auf den Hängen, jede Bresche wird wieder in Stand gesetzt. Jarman, Eure Männer mit den besten Augen sollen Ausschau halten. Postiert sie im Kreis um uns herum und entlang dem Fluss, damit sich uns niemand unentdeckt nähern kann. Versteckt sie in den Bäumen. Und wir sollten auch Wasser heranholen, mehr als wir brauchen. Wir graben Zisternen. Erstens haben die Männer dann etwas zu tun, und zweitens kann das später vielleicht sehr nützlich sein.«

»Meine Grenzer …«, setzte Thoren Kleinwald an.

»Eure Grenzer werden nur auf dieser Seite des Flusses ausschwärmen, bis Halbhand uns erreicht hat. Danach sehen wir weiter. Ich will nicht noch mehr Männer verlieren.«

»Manke Rayder könnte sein Heer einen Tagesritt von hier entfernt versammeln, und wir würden es nie erfahren«, wandte Kleinwald ein.

»Wir wissen, wo die Wildlinge sich versammeln«, entgegnete Mormont. »Craster hat es uns erzählt. Der Mann gefällt mir zwar nicht, aber ich glaube, er hat uns nicht belogen.«

»Wie Ihr meint.« Kleinwald verließ grußlos die Runde. Die anderen tranken ihren Wein aus und verabschiedeten sich ein wenig höflicher.

»Soll ich Euch das Abendessen bringen, Mylord?«, fragte Jon.

»Korn«, rief der Rabe. Mormont antwortete nicht sofort. Schließlich wollte er wissen: »Hat dein Wolf heute Wild gefunden? «

»Er ist noch nicht zurück.«

»Frisches Fleisch könnten wir gut gebrauchen.« Mormont griff in einen kleinen Sack und bot seinem Raben eine Hand voll Korn an. »Glaubst du, es ist falsch, die Grenzer in der Nähe zu behalten?«

»Eine Antwort darauf steht mir nicht zu, Mylord.«

»Wenn ich dich frage, schon.«

»Solange die Grenzer in Sichtweite der Faust bleiben, kann ich mir nicht vorstellen, wie sie meinen Onkel finden sollen«, räumte Jon ein.

»Das werden sie wohl auch nicht tun.« Der Rabe pickte das Getreide aus der Hand des Alten Bären. »Zweihundert Mann oder zehntausend, dieses Land ist zu groß.« Nachdem das Korn verspeist war, drehte Mormont die Hand um.

»Ihr wollt die Suche doch trotzdem nicht aufgeben?«

»Maester Aemon hält dich für einen klugen Jungen.« Mormont setzte den Raben auf seine Schulter. Der Vogel neigte den Kopf zur Seite, die kleinen Augen funkelten.

Die Antwort war klar. »Es … Es erscheint mir leichter möglich, dass ein Mann zweihundert findet als zweihundert Mann einen.«

Der Rabe kreischte keckernd, doch der Alte Bär verzog den grauen Bart zu einem Lächeln. »So viele Männer hinterlassen eine Spur, der selbst Aemon folgen könnte. Von diesem Berg aus sollten unsere Feuer bis in die Ausläufer der Frostfänge zu sehen sein. Falls Ben Stark noch lebt und frei ist, wird er ohne Zweifel zu uns kommen.«

»Ja«, erwiderte Jon, »aber … was ist, wenn …«

»… wenn er tot ist?«, fragte Mormont nicht unfreundlich.

Jon nickte widerwillig.

»Tot«, krächzte der Rabe, »tot. Tot.«

»Dann könnte er trotzdem zu uns kommen«, sagte der Alte Bär. »So wie Othor und Jafer Blumen. Davor habe ich nicht weniger große Angst als du, Jon, doch wir müssen diese Möglichkeit in Betracht ziehen.«

»Tot«, schrie der Rabe und sträubte das Gefieder. Seine Stimme wurde lauter und schriller. »Tot.«

Mormont strich dem Vogel über die schwarzen Federn und verbarg ein Gähnen hinter vorgehaltener Hand. »Ich verzichte heute aufs Essen, glaube ich. Schlaf wäre besser für mich. Weck mich beim ersten Tageslicht.«

»Schlaft gut, Mylord.« Jon sammelte die leeren Becher ein und trat nach draußen. Aus einiger Entfernung hörte er Gelächter und wehmütige Dudelsackklänge. Ein großes Feuer knisterte in der Mitte des Lagers, und er roch den Eintopf, der gekocht wurde. Der Alte Bär war vielleicht nicht hungrig, Jon hingegen schon. Er ging hinüber.

Dywen hatte das Wort ergriffen und fuchtelte mit seinem Löffel herum. »Ich kenne diesen Wald wie jeder andere, und ich sag euch, ich würde es nicht wagen, heute Nacht allein da hindurchzureiten. Riecht ihr das?«

Grenn starrte ihn mit großen Augen an, doch der Schwermütige Edd erwiderte: »Was ich rieche, ist die Scheiße von zweihundert Pferden. Und den Eintopf. Der einen ganz ähnlichen Geruch hat, jetzt, wo ich’s recht bedenke.«

»Ich habe deinen ähnlichen Geruch hier.« Hake tätschelte seinen Dolch. Knurrend füllte er Jons Schüssel aus dem Topf.

Der Eintopf bestand größtenteils aus Gerste, Karotten und Zwiebeln, mit denen ein paar Stückchen Salzfleisch weich gekocht worden waren.

»Was hast du denn gerochen, Dywen?«, fragte Grenn.

Der Waldläufer lutschte an seinem Löffel herum. Er hatte seine Zähne herausgenommen. Sein Gesicht war lederig und runzlig, seine Hände knorrig wie alte Wurzeln. »Es riecht nach … nun … Kälte.«

»Dein Kopf ist genauso aus Holz wie deine Zähne«, wies ihn Hake zurecht. »Kälte hat keinen Geruch.«

Doch, hat sie, dachte Jon und erinnerte sich an die Nacht im Zimmer des Lord Kommandanten. Sie riecht wie der Tod. Plötzlich war ihm der Appetit vergangen. Er reichte sein Essen Grenn, der aussah, als könne er eine zusätzliche Portion gut gebrauchen, um die Kälte der Nacht zu überstehen.

Der Wind wehte heftig, als er das Feuer verließ. Am Morgen würde Reif den Boden bedecken, und die Zeltleinen würden steif gefroren sein. Ein Rest gewürzter Wein war noch im Topf. Jon legte Holz nach und wärmte ihn wieder auf. Während er wartete, spreizte er die Finger und ballte sie wieder zur Faust, bis die Hand kribbelte. Die erste Wache hatte ihre Posten rund um das Lager eingenommen. Entlang der Ringmauer flackerten Fackeln. Es war eine mondlose Nacht, doch über Jon strahlten tausend Sterne.

Aus der Ferne hörte er das leise, doch unverkennbare Heulen von Wölfen. Ihre Stimmen hoben und senkten sich zu einem kalten und einsamen Lied. Jons Nackenhaare stellten sich auf. Jenseits des Feuers starrten ihn zwei rote Augen aus dem Schatten an. Das Licht der Flammen ließ sie glühen.

»Geist«, hauchte Jon überrascht. »Bist du doch noch reingekommen, he?« Oft jagte der weiße Wolf die ganze Nacht lang; Jon hatte ihn nicht vor Tagesanbruch erwartet. »War die Jagd so schlecht?«, fragte er. »Hierher. Zu mir, Geist.«

Der Schattenwolf umkreiste das Feuer, schnüffelte an Jon, schnüffelte am Wind, kam jedoch nicht zur Ruhe. Er schien nicht unbedingt auf Fleisch aus zu sein. Als die Toten auferstanden, hat Geist es gewusst. Er hat mich geweckt und gewarnt. Erschrocken stand er auf. »Ist dort draußen etwas? Geist, hast du etwas gewittert?« Dywen hatte gesagt, er rieche Kälte.

Der Schattenwolf sprang davon, blieb stehen, blickte sich um. Ich soll ihm folgen. Jon zog sich die Kapuze über und verließ die Zelte und die Wärme seines Feuers. Er ging an den Reihen der kleinen zähen Pferde entlang. Eines der Tiere wieherte nervös, als Geist vorbeitrottete. Jon besänftigte es mit einem Wort und streichelte ihm kurz das Maul. Er konnte den Wind hören, der durch die Spalten in den Steinen pfiff, während sie sich der Ringmauer näherten. Eine Stimme rief ihn an. Jon trat ins Licht der Fackel. »Ich soll Wasser für den Lord Kommandanten holen.«

»Dann geh schon«, sagte die Wache, »und beeil dich.« Der Mann hatte sich wegen des Windes tief in seinen schwarzen Umhang gehüllt und sah gar nicht erst nach, ob Jon einen Eimer hatte.

Jon schlüpfte seitlich zwischen zwei gespitzten Pfählen hindurch, während Geist unter ihnen hindurchkroch. Jemand hatte eine Fackel in den Mauerspalt gesteckt, deren Flammen wie orangefarbene Banner wehten, wenn ein Windstoß sie erfasste. Jon zog sie heraus und stieg durch die Lücke zwischen den Steinen. Geist schoss den Hügel hinunter. Langsamer folgte ihm Jon und hielt die Fackel vor sich. Die Geräusche des Lagers blieben hinter ihm zurück. Die Nacht war schwarz, der Hang steil, steinig und uneben. Ein Moment der Unachtsamkeit konnte ihm einen gebrochenen Knöchel oder einen gebrochenen Hals … bescheren. Was mache ich hier eigentlich?, fragte er sich, als er sich den Weg nach unten ertastete.

Die Bäume standen unter ihm wie Krieger, gerüstet in Rinde und Laub, die in schweigenden Reihen darauf warteten, dass der Befehl zum Sturm auf den Hügel ertönte. Schwarz erschienen sie … nur wenn das Fackellicht auf sie fiel, erhaschte Jon einen Blick auf etwas Grün. Leise rauschte irgendwo Wasser über Steine. Geist verschwand im Unterholz. Jon folgte ihm mühsam und lauschte auf den Ruf des Baches und das Seufzen der Blätter im Wind. Zweige packten seinen Mantel, und über ihm wanden sich dichte Äste ineinander und verbargen die Sterne.

Als er ihn fand, trank der Wolf gerade aus dem Bach. »Geist«, rief Jon, »zu mir. Sofort.« Als der Schattenwolf den Kopf hob, glühten seine Augen rot und unheilvoll, und Wasser rann von seinen Lefzen wie Geifer. In diesem Augenblick hatte er etwas Wildes und Erschreckendes an sich. Dann sprang er an Jon vorbei zwischen den Bäumen hindurch. »Geist, nein, bleib hier«, rief Jon, doch der Wolf achtete nicht auf ihn. Die schlanke weiße Gestalt wurde von der Dunkelheit verschluckt, und Jon hatte nur zwei Möglichkeiten – entweder stieg er den Hügel wieder hinauf und zwar allein, oder er folgte dem Wolf.

Wütend rannte er hinter dem Tier her und hielt die Fackel tief und weit nach vorn, weil er bei jedem Schritt über Steine oder dicke Wurzeln oder in knöcheltiefe Löcher zu stolpern drohte. Alle paar Meter rief er erneut nach Geist, doch der Nachtwind strich durch die Bäume und übertönte seine Stimme. Das ist doch verrückt, dachte er und drang dann doch weiter in den Wald vor. Gerade wollte er umkehren, da entdeckte er vor sich, rechts in Richtung Hügel, einen weißen Schemen. Er lief wieder los und fluchte vor sich hin.

So jagte er den Wolf fast um ein Viertel der Faust herum, bis er ihn erneut aus den Augen verloren hatte. Endlich blieb er inmitten der Sträucher, Dornenbüsche und Felsen am Fuß des Hügels stehen, um wieder zu Atem zu gelangen. Jenseits des Fackelscheins drängte sich die Finsternis heran.

Auf ein leises Scharren hin drehte er sich um. Jon bewegte sich auf das Geräusch zu und schlich vorsichtig durch Steine und Dornensträucher. Hinter einem umgestürzten Baum fand er Geist. Der Schattenwolf grub wie wild im Boden und warf mit den Pfoten Erde nach hinten.

»Was hast du da gefunden?« Jon senkte die Fackel und entdeckte einen runden Hügel aus weicher Erde. Ein Grab, dachte er, aber wessen Grab?

Er kniete sich hin und bohrte die Fackel neben sich in den Boden. Die Erde war locker und sandig. Mit den Händen wühlte er sie zur Seite. Keine Wurzel und kein Stein behinderten ihn. Was immer dort lag, es war erst vor kurzem vergraben worden. In etwas mehr als einem halben Meter Tiefe stieß er auf Stoff. Er hatte einen Leichnam erwartet, einen Leichnam gefürchtet, doch das hier war etwas anderes. Er drückte gegen den Stoff und ertastete kleine, harte Gegenstände, die nicht nachgaben. Auch stank es nicht nach Verwesung, und Grabwürmer waren auch nicht zu sehen. Geist wich zurück, hockte sich auf die Hinterläufe und beobachtete ihn.

Jon fegte die lockere Erde fort und enthüllte ein rundes Bündel, das vielleicht einen halben Meter Durchmesser hatte. Er stieß die Finger unter die Kanten und zerrte daran. Als er es losbekam, bewegte sich der Inhalt und klirrte. Ein Schatz, schoss es ihm durch den Kopf, doch die Form der Gegenstände ähnelte nicht der von Münzen, und nach Metall hatte es auch nicht geklungen.

Das Bündel war mit einem zerfaserten Stück Seil zusammengebunden. Jon zog seinen Dolch und schnitt es durch, packte die Ränder des Stoffes und zog sie auseinander. Das Bündel stülpte sich um, und der Inhalt fiel düster glitzernd auf den Boden. Es waren ein Dutzend Messer, blattförmige Speerspitzen und etliche Pfeilspitzen. Jon hob eine der Dolchklingen auf, federleicht, glänzend schwarz und ohne Griff. Das Fackellicht fiel auf die Schneide, eine dünne orangefarbene Linie, die die Schärfe eines Rasiermessers versprach. Drachenglas. Die Maester nennen es Obsidian. Hatte Geist ein uraltes Waffenversteck der Kinder des Waldes entdeckt, das hier seit Tausenden von Jahren verborgen lag? Die Faust der Ersten Menschen war ein alter Ort, nur …

Unter dem Drachenglas lag ein altes Kriegshorn, das aus dem Horn eines Auerochsen gefertigt und mit Bronzebändern verstärkt war. Jon schüttelte die Erde heraus, und eine Anzahl Pfeilspitzen kam zum Vorschein. Er ließ sie zu Boden fallen und griff nach dem Stoff, in den die Waffen eingewickelt gewesen waren. Gute Wolle, dick, doppelt gewebt, feucht, aber nicht verrottet. Lange konnte das nicht im Boden gelegen haben. Und das Gewebe war dunkel. Er hielt den Stoff näher an die Fackel. Nicht dunkel. Schwarz.

Noch bevor Jon aufstand und ihn ausschüttelte, wusste er, was er in den Händen hielt: den schwarzen Umhang eines Bruders der Nachtwache.

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