»Wenn du durch eigene Dummheit stirbst, werde ich deine Leiche an die Ziegen verfüttern«, drohte Tyrion, während die erste Ladung Felsenkrähen vom Kai ablegte.
Shagga lachte. »Der Halbmann hat gar keine Ziegen.«
»Ich werde mir eigens für dich welche anschaffen.«
Der Morgen graute, und bleiches Licht schimmerte auf der Oberfläche des Flusses, die unter den Stangen der Fähre zerriss und sich neu bildete, wenn sie vorüber war. Timett hatte seine Brandmänner vor zwei Tagen in den Königswald geführt. Gestern waren die Schwarzohren und die Mondbrüder gefolgt. Heute waren die Felsenkrähen an der Reihe.
»Was immer ihr tut, versucht, euch nicht in ernsthafte Gefechte verwickeln zu lassen. Überfallt ihre Lager und Nachschubzüge. Lauert ihren Kundschaftern auf, und hängt ihre Leichen entlang des Marschweges auf, fallt zurück, und macht Nachzügler nieder. Greift bei Nacht an, so oft und so plötzlich, dass sie Angst haben zu schlafen …«
Shagga legte Tyrion eine Hand auf den Kopf. »All das habe ich von Dolf Sohn des Holger gelernt, ehe mir der Bart wuchs. So führt man Krieg in den Bergen des Mondes.«
»Der Königswald ist nicht die Mondberge, und ihr werdet nicht gegen Milchschlangen und Scheckenhunde kämpfen. Und hör auf die Führer, die ich dir schicke, sie kennen den Wald so gut wie ihr eure Berge. Ihr Rat wird euch gute Dienste leisten.«
»Shagga wird auf die Schoßhündchen des Halbmannes hören«, versprach der Stammesmann feierlich. Und dann war es an der Zeit, sein kleines struppiges Pferd auf die Fähre zu führen. Tyrion sah zu, wie das Boot ablegte und in die Mitte des Schwarzwassers gestakt wurde. Während Shagga im Morgendunst verschwand, beschlich Tyrion ein ungutes Gefühl in der Magengegend. Ohne die Männer von den Stämmen fühlte er sich nackt.
Zwar hatte er noch immer Bronns Söldner, inzwischen fast achthundert Mann, doch angeheuerte Kämpfer waren immer unberechenbar. Tyrion hatte getan, was er konnte, um sich ihre bleibende Loyalität zu erkaufen, und Bronn sowie einem Dutzend seiner besten Männer Land und Ritterwürde versprochen, wenn die Schlacht erst gewonnen wäre. Sie hatten seinen Wein getrunken, über seine Scherze gelacht und einander Ser genannt, bis sie alle lallten … alle außer Bronn, der nur sein unverschämtes Lächeln aufgesetzt und hinterher gesagt hatte: »Für diese Ritterschaft werden sie töten, aber bestimmt nicht sterben.«
Tyrion gab sich dieser Illusion gewiss nicht hin.
Die Goldröcke waren eine ähnlich unsichere Waffe. Sechstausend Mann war die Stadtwache stark, dank Cersei, doch nur auf ein Viertel von ihnen konnte man sich verlassen. »Es gibt vielleicht nur wenige echte Verräter unter ihnen, aber doch zu viele, denn nicht einmal Eure Spinne konnte sie alle entlarven«, hatte Amwasser ihn gewarnt. »Vor allem sind Hunderte von ihnen grüner als Frühlingsgras, Männer, die sich nur wegen Brot und Bier und ihrer eigenen Sicherheit gemeldet haben. Niemand sieht vor seinen Kameraden gern wie ein Feigling aus, und so werden sie am Anfang tapfer genug sein, solange nur Kriegshörner geblasen und Banner geschwenkt werden. Sobald die Schlacht jedoch ernsthaft beginnt oder die Dinge schlecht für uns aussehen, werden sie den Mut verlieren, und zwar auf übelste Weise. Dem ersten Mann, der seinen Speer zu Boden wirft und davonrennt, werden tausend andere folgen.«
Gewiss gab es in der Stadtwache auch erfahrene Recken, eine Kerntruppe von zweitausend Mann, die ihren Goldrock noch von Robert und nicht von Cersei erhalten hatten. Doch selbst diese … ein Stadtwächter war eben kein wirklicher Soldat, hatte Lord Tywin so gern verkündet. Was Ritter und Knappen und sonstige Bewaffnete anging, so standen Tyrion nicht mehr als dreihundert zur Verfügung. Bald würde er auch eine weitere Redensart seines Vaters überprüfen können: Ein Mann auf der Mauer ist so viel wert wie zehn davor.
Bronn und die Eskorte warteten am Ende des Kais zwischen sich herumtreibenden Bettlern und Huren, die nach Kunden Ausschau hielten, und Fischweibern, die ihren Fang anpriesen. Die Fischweiber hatten mehr zu tun als alle anderen zusammen. Käufer drängten sich um Fässer und Stände und feilschten um Strandschnecken, Klaffmuscheln und Flusshechte. Da die Stadt von außen sonst keine Vorräte erhielt, war der Fischpreis auf das Zehnfache der Vorkriegszeit gestiegen, und noch hatte er den höchsten Stand nicht erreicht. Wer Geld hatte, kam morgens und abends zum Fluss und hoffte, einen Aal oder einen Topf rote Krabben nach Hause tragen zu können; wer kein Geld besaß, schlich zwischen den Ständen herum und hoffte, etwas stehlen zu können, oder er stand mager und verzweifelt unter den Mauern.
Die Goldröcke bahnten sich einen Weg durch die Menschenmenge, indem sie die Leute mit den Speerschäften zur Seite stießen. Tyrion ignorierte die gezischten Flüche, so gut er konnte. Ein schleimiger, verfaulter Fisch flog aus der Menge heran. Er landete vor seinen Füßen und zerfiel in Stücke. Tyrion trat achtsam darüber hinweg und stieg auf sein Pferd. Sofort balgten sich Kinder mit aufgetriebenen Bäuchen um die Teile des stinkenden Fisches.
Vom Sattel aus blickte Tyrion am Ufer des Flusses entlang. Durch die Morgenluft hallten Hammerschläge, während Zimmerleute vom Schlammtor ausgehend Bretterwände errichteten. Dort ging es gut voran. Weniger gut gefielen ihm die Hütten, die hinter den Kais aus dem Boden geschossen waren und sich wie Seepocken am Rumpf eines Schiffes an der Stadtmauer festgesetzt hatten; Läden für Angelköder und sonstige Waren, Suppenküchen, Lagerhäuser, Bierschenken und Bordelle, in denen die billigere Sorte Huren die Beine breit machte. Das muss alles verschwinden, bis zum letzten Brett. So wie es jetzt aussah, würde Stannis keine Leitern benötigen, um die Mauern zu stürmen.
Er rief Bronn zu sich. »Hol dir hundert Mann und brenn alles nieder, was du hier zwischen dem Flussufer und der Mauer siehst.« Mit einer Geste umfasste er das gesamte Elend am Ufer. »Dort bleibt nichts stehen, verstanden?«
Der schwarzhaarige Söldner wandte den Kopf und dachte über die Aufgabe nach. »Die, denen es gehört, werden das bestimmt nicht gutheißen.«
»Das habe ich auch nicht erwartet. Mag es sein, wie es will, auf jeden Fall haben sie dann einen Grund mehr, den bösen Affendämon zu verfluchen.«
»Ein paar könnten sich wehren.«
»Sorge dafür, dass ihnen das nichts nützt.«
»Was machen wir mit denen, die hier wohnen?«
»Sie bekommen genug Zeit, um ihr Eigentum fortzuschaffen, dann werden sie vertrieben. Versucht sie nicht gleich umzubringen, sie sind schließlich nicht der Feind. Und keine Vergewaltigungen mehr! Halt deine Männer verflucht noch mal im Zaum.«
»Sie sind Söldner, keine Septone«, erwiderte Bronn. »Als Nächstes verlangt Ihr noch, dass sie nüchtern bleiben.«
»Schaden könnte es nicht.«
Tyrion wünschte sich, er könnte die Stadtmauern ebenso leicht aufs Doppelte erhöhen und aufs Dreifache verstärken. Obwohl das vielleicht gar keine Rolle spielte. Dicke Mauern und hohe Türme hatten weder Sturmkap noch Harrenhal gerettet, nicht einmal Winterfell.
Er erinnerte sich an seinen letzten Besuch auf Winterfell. Die Burg war nicht so grotesk riesig wie Harrenhal, nicht so fest und unbezwingbar wie Sturmkap, und dennoch ruhte große Kraft in diesen Steinen, und im Inneren der Mauern fühlte man sich sicher. Die Nachricht vom Fall der Burg hatte ihn erschüttert. »Die Götter geben mit der einen und nehmen mit der anderen Hand«, murmelte er, nachdem Varys ihm berichtet hatte. Sie hatten Harrenhal den Starks gegeben und ihnen Winterfell genommen, ein schlechter Tausch.
Zweifellos sollte er darüber frohlocken. Robb Stark würde sich jetzt nach Norden wenden müssen. Wenn er Heim und Herd nicht verteidigen konnte, was für ein König war er dann? Das bedeutete eine Gnadenfrist für den Westen, für das Haus Lennister und doch …
Tyrion konnte sich kaum an Theon Graufreud erinnern. Ein unreifer Jüngling, der stets lächelte und gut mit Pfeil und Bogen umzugehen wusste; es war schwierig, ihn sich als Lord von Winterfell vorzustellen. Der Lord von Winterfell würde immer ein Stark sein.
Er erinnerte sich an den dortigen Götterhain; an die hohen Wachbäume, die in ihre graugrünen Nadeln gerüstet waren, an die großen Eichen, an den Weißdorn und die Eschen und Soldatenkiefern, an den Herzbaum in der Mitte, der einem bleichen, erstarrten Riesen gleich aufragte. Er meinte fast, diesen Ort zu riechen, erdig und brütend, diesen Geruch von Jahrhunderten, und er erinnerte sich daran, wie dunkel es selbst bei Tag in dem Hain gewesen war. Dieser Wald war Winterfell. Er war der Norden. Nie zuvor habe ich mich an einem Ort so fehl am Platze gefühlt, so unwillkommen, so als Eindringling. Er fragte sich, ob die Graufreuds das wohl ebenfalls spürten. Die Burg gehörte ihnen vielleicht, der Götterhain jedoch würde nie der Ihre sein. Nicht in einem Jahr, nicht in zehn oder fünfzig.
Tyrion Lennister lenkte sein Pferd langsam zum Schlammtor. Winterfell ist unwichtig für dich, erinnerte er sich. Sei froh, dass die Burg gefallen ist, und kümmere dich lieber um deine eigenen Mauern. Das Tor war offen. Dahinter standen auf dem Marktplatz drei große Katapulte, die wie drei riesige Vögel über die Wehrgänge spähten. Ihre Wurfarme waren aus den Stämmen alter Eichen gefertigt und mit Eisenbändern verstärkt worden, damit sie nicht splitterten. Die Goldröcke hatten sie die Drei Huren genannt, weil sie Lord Stannis einen herzlichen Empfang bereiten würden. Jedenfalls hoffen wir das.
Tyrion gab seinem Pferd die Sporen und trabte durch das Schlammtor gegen eine Flut von Menschen an. Nachdem er die Huren hinter sich gelassen hatte, wurde das Gedränge etwas lichter.
Der Ritt zurück zum Roten Bergfried verlief ohne Zwischenfälle, doch im Audienzsaal des Turms der Hand erwartete ihn ein Dutzend wütender Handelskapitäne, die gegen die Beschlagnahmung ihrer Schiffe protestierten. Er entschuldigte sich bei ihnen und versprach ihnen Ersatz, wenn der Krieg vorüber wäre. Damit konnte er sie kaum besänftigen. »Und wenn Ihr verliert, Mylord?«, fragte einer aus Braavos.
»Dann wendet Euch wegen der Entschädigung an König Stannis.«
Nachdem er sie endlich losgeworden war, läuteten die Glocken bereits, und Tyrion würde zu spät zur Amtseinsetzung kommen. Er watschelte fast im Laufschritt über den Hof und drängte sich in den hinteren Teil der Burgsepte, als Joffrey den beiden neuesten Mitgliedern seiner Königsgarde gerade die weißen Mäntel um die Schultern legte. Die Zeremonie schien zu erfordern, dass die Anwesenden standen, daher sah Tyrion nur eine Mauer aus adeligen Hinterteilen vor sich. Andererseits würde er der Erste sein, der wieder draußen war, wenn der Hohe Septon den beiden Rittern ihre feierlichen Treueide abgenommen und sie im Namen der Sieben gesalbt hätte.
Er begrüßte die Wahl seiner Schwester, Ser Balon Swann an die Stelle des erschlagenen Preston Grünfeld zu setzen. Die Swanns waren Lords der Marschen, stolz, mächtig und umsichtig. Unter dem Vorwand einer Krankheit war Lord Gulian Swann in seiner Burg geblieben und hatte sich nicht am Krieg beteiligt, doch sein ältester Sohn ritt an Renlys und später an Stannis’ Seite, während Balon, der jüngere, in Königsmund diente. Wenn er noch einen dritten Sohn gehabt hätte, vermutete Tyrion, wäre dieser wahrscheinlich bei Robb Stark gewesen. Das mochte zwar nicht das ehrenhafteste Verhalten sein, doch immerhin bewies es einen scharfen Verstand; wer immer den Eisernen Thron für sich gewann, die Swanns würden überleben. Außerdem war Ser Balon nicht nur hochgeboren, sondern auch tapfer, höflich und geschickt im Umgang mit Waffen; gut mit der Lanze, besser noch mit dem Morgenstern und hervorragend mit dem Bogen. Er würde seinen Dienst ehrenvoll und mutig versehen.
Was Tyrion von Cerseis zweitem Erwählten nicht so uneingeschränkt behaupten mochte. Ser Osmund Schwarzkessel sah durchaus beeindruckend aus. Er war zwei Meter groß, sehnig und muskulös, und seine Hakennase, seine buschigen Brauen und sein eckiger brauner Bart verliehen seinem Gesicht etwas Wildes, solange er nicht lächelte. Von niederer Geburt, kaum mehr als ein Heckenritter, hatte Schwarzkessel seine Beförderung allein Cersei zu verdanken, und aus diesem Grund war ihre Wahl zweifelsohne auch auf ihn gefallen. »Ser Osmund ist ebenso treu, wie er tapfer ist«, hatte sie zu Joffrey gesagt, als sie den Namen vorgeschlagen hatte. Das stimmte unglücklicherweise sogar. Der gute Ser Osmund hatte Cerseis Geheimnisse an Bronn verkauft, seit sie ihn angeheuert hatte, doch das konnte Tyrion ihr natürlich nicht erzählen.
Eigentlich hatte er keinen Grund, sich zu beschweren. Durch diese Ernennung bekam er ein weiteres Ohr in der Umgebung des Königs, und seine Schwester wusste nichts davon. Und selbst wenn Ser Osmund ein Feigling war, würde er kaum schlimmer sein als Ser Boros Blount, der gegenwärtig in einem Kerker in Rosby residierte. Ser Boros hatte Tommen und Lord Gil eskortiert, und als sie von Ser Jaslyn Amwasser und seinen Goldröcken überrascht worden waren, hatte er seine Schutzbefohlenen mit einer Bereitwilligkeit ausgehändigt, die den alten Ser Barristan Selmy ebenso erzürnt hätte wie Cersei; ein Ritter der Königsgarde sollte in Verteidigung des Königs und der königlichen Familie notfalls sein Leben opfern. Seine Schwester hatte darauf bestanden, dass Joffrey ihm wegen Hochverrat und Feigheit vor dem Feind den weißen Mantel aberkannte. Und jetzt ersetzt sie ihn durch einen anderen Hohlkopf.
Das Beten, Schwören und Salben schien den größten Teil des Vormittags zu dauern. Bald begannen Tyrions Beine zu schmerzen. Unruhig trat er von einem Fuß auf den anderen. Lady Tanda stand einige Reihen vor ihm, ihre Tochter hingegen war nicht bei ihr. Halb hatte er gehofft, einen Blick auf Shae werfen zu können. Varys sagte, sie würde sich gut machen, doch er hätte sich lieber persönlich davon überzeugt.
»Besser die Zofe einer Lady als ein Küchenmädchen«, hatte Shae gesagt, nachdem ihr Tyrion den Plan des Eunuchen vorgeschlagen hatte. »Kann ich den Gürtel mit den Silberblumen und mein goldenes Halsband mit den schwarzen Diamanten mitnehmen? Ihr habt gesagt, es würde so gut zu meinen Augen passen? Ich werde sie nicht tragen, wenn Ihr es nicht wünscht.«
Obwohl er sie nicht gern enttäuschte, musste Tyrion ihr erklären, dass Lady Tanda zwar nicht die Hellste war, dass es ihr jedoch nichtsdestotrotz auffallen würde, wenn die Zofe ihrer Tochter teureren Schmuck trüge als ihre Tochter selbst. »Such dir zwei oder drei Kleider aus, mehr nicht«, befahl er. »Gute Wolle; keine Seide, keinen Samt, keinen Pelz. Den Rest bewahre ich in meinen Gemächern für deine Besuche auf.« Das war nicht die Antwort gewesen, die Shae hatte hören wollen, doch zumindest befand sich das Mädchen in Sicherheit.
Nachdem die Amtseinsetzungen endlich vorbei waren, marschierte Joffrey hinaus, geleitet von Ser Balon und Ser Osmund, die ihre neuen weißen Umhänge trugen, während Tyrion noch blieb, um ein paar Worte mit dem neuen Hohen Septon zu wechseln, (der seine Wahl war und dazu weise genug zu wissen, wer ihm die Butter aufs Brot strich). »Ich möchte die Götter auf unserer Seite haben«, sagte Tyrion ohne Umschweife. »Sagt Euren Gläubigen, Stannis hätte geschworen, die Große Septe von Baelor niederzubrennen.«
»Ist das wahr, Mylord?«, fragte der Hohe Septon, ein kleiner scharfsinniger Mann mit dünnem weißem Bart und runzligem Gesicht.
Tyrion zuckte mit den Schultern. »Es könnte wahr sein. Stannis hat den Götterhain von Sturmkap als Opfer für den Herrn des Lichts verbrannt. Wenn er die alten Götter beleidigt, warum nicht auch die neuen? Sagt ihnen das. Und sagt ihnen außerdem, dass jeder, der dem Usurpator Hilfe leisten will, die Götter und den rechtmäßigen König verrät.«
»Das werde ich tun, Mylord. Und ich werde ihnen befehlen, für die Gesundheit des Königs und seiner Hand zu beten. «
Hallyn der Pyromantiker wartete auf ihn, als Tyrion in sein Solar zurückkehrte, und Maester Frenken hatte Nachrichten für ihn hinterlassen. Er ließ den Alchimisten noch ein wenig schmoren und las zunächst, was die Raben gebracht hatten. Ein alter Brief von Doran Martell warnte ihn, Sturmkap sei gefallen; ein anderer faszinierte ihn jedoch mehr: Balon Graufreud von Peik hatte sich zum König der Inseln und des Nordens erklärt. Und er lud König Joffrey ein, einen Gesandten zu den Eiseninseln zu schicken, um die Grenzziehung zwischen ihren Reichen und ein mögliches Bündnis zu besprechen.
Tyrion las den Brief drei Mal und legte ihn dann beiseite. Lord Balons Langschiffe wären eine große Hilfe gegen die Flotte, die sich von Sturmkap näherte, doch sie befanden sich Tausende von Meilen entfernt auf der falschen Seite von Westeros, und Tyrion war sich nicht sicher, ob er dafür die Hälfte des Reiches abtreten wollte. Vielleicht sollte ich den Brief Cersei zuspielen oder ihn mit in den Rat nehmen.
Erst danach ließ er Hallyn mit den jüngsten Meldungen von den Alchimisten ein. »Das kann nicht sein«, sagte Tyrion, während er die Zahlen studierte. »Fast dreizehntausend Stück? Wollt Ihr mich zum Narren halten? Ich werde das Gold des Königs nicht für leere Gefäße und Töpfe voll Jauche ausgeben, die mit Wachs versiegelt sind, ich warne Euch.«
»Nein, nein«, quiekte Hallyn, »die Zahlen stimmen, ich schwöre es. Wir hatten sehr viel, hmmm, Glück, Mylord Hand. Ein weiteres Lager von Lord Rossart wurde entdeckt, über dreihundert Gefäße. Unter der Drachengrube! Ein paar Huren haben sich mit ihren Freiern in den Ruinen herumgetrieben, und einer von ihnen ist durch einen verfaulten Boden gebrochen und in einen Keller gestürzt. Als er die Gefäße bemerkte, hielt er sie für Weinkrüge. Er war so betrunken, dass er das Siegel von einem brach und davon getrunken hat.«
»Es gab mal einen Prinzen, der das auch getan hat«, erwiderte Tyrion trocken. »Ich habe keine Drachen über der Stadt gesehen, also ist es anscheinend diesmal wieder nicht gelungen. « Die Drachengrube auf Rhaenys’ Hügel war schon seit anderthalb Jahrhunderten verlassen. Vermutlich war es ein guter Lagerplatz für Seefeuer, besser immerhin als die meisten anderen, doch es wäre sehr nett von dem verstorbenen Lord Rossart gewesen, wenn er jemandem davon erzählt hätte. »Dreihundert Gefäße, sagt Ihr. Damit kommen wir immer noch nicht auf diese Summe. Ihr seid Euren letzten Schätzungen mehrere tausend Stück voraus.«
»Ja, ja, dem ist so.« Hallyn wischte sich die bleiche Stirn mit dem Ärmel seiner schwarz-purpurnen Robe. »Wir haben sehr hart gearbeitet, Mylord Hand, hmmm.«
»Das würde erklären, weshalb Ihr so viel mehr von der Substanz hergestellt habt.« Lächelnd fixierte Tyrion den Pyromantiker mit seinen ungleichen Augen. »Obwohl es mich zu der Frage führt, weshalb Ihr bisher nicht härter gearbeitet habt.«
Hallyns Haut hatte die Farbe eines Champignons, daher war es schwer zu sagen, wie er noch blasser werden konnte, doch irgendwie brachte er es zu Stande. »Das haben wir, Mylord Hand. Meine Brüder und ich haben von Anfang an Tag und Nacht gearbeitet, das kann ich Euch versichern. Es ist nur, hmmm, wir haben so viel Substanz hergestellt, dass wir inzwischen, hmmm, geübter im Umgang damit sind, und außerdem« – der Alchimist trat unbehaglich hin und her –»haben wir gewisse Zaubersprüche, hmmm, uralte Geheimnisse unseres Ordens, die sehr vorsichtig gehandhabt werden müssen, sehr sorgfältig, hmmm, die aber wichtig sind, wenn die Substanz, hmmm, also alle Eigenschaften hat, die sie haben soll …«
Tyrion wurde langsam ungeduldig. Ser Jaslyn Amwasser war vermutlich inzwischen wieder zurück, und Eisenhand wartete nicht gern. »Ja, Ihr habt geheime Zauber; wie wunderbar. Was ist damit?«
»Sie, hmmm, wirken plötzlich besser als früher.« Hallyn lächelte schwach. »Ihr nehmt wohl nicht an, dass irgendwelche Drachen in der Nähe sind, oder?«
»Nicht, wenn Ihr nicht einen unter der Drachengrube gefunden habt. Wieso?«
»Oh, Verzeihung, ich habe mich nur gerade an etwas erinnert, das mir die alte Weisheit Pollitor erzählt hat, als ich noch ein Akolyth war. Ich fragte ihn, warum so viele unserer Zaubersprüche nicht so, nun, ja, wirkungsvoll seien, wie man nach den Schriften glauben möchte, und er sagte, das sei, weil die Magie allmählich aus der Welt verschwände, seit der letzte Drachen gestorben ist.«
»Entschuldigt, wenn ich Euch enttäuschen muss, aber ich habe keine Drachen gesehen. Den Henker des Königs habe ich allerdings schon gesehen. Sollte eine dieser Früchte, die Ihr mir verkauft, nicht mit Seefeuer gefüllt sein, werdet Ihr ebenfalls seine Bekanntschaft machen.«
Hallyn verabschiedete sich so hastig, dass er beinahe mit Ser Jaslyn zusammengeprallt wäre – nein, Lord Jaslyn, das durfte er nicht vergessen. Eisenhand kam wie immer dankenswert rasch zur Sache. Er war aus Rosby zurückgekehrt, um eine Abteilung Speerträger abzuliefern, die er auf Lord Gils Anwesen rekrutiert habe, und um das Kommando über die Stadtwache wieder zu übernehmen. »Wie geht es meinem werten Neffen?«, fragte Tyrion, nachdem sie die Besprechung der Verteidigungsanlagen beendet hatten.
»Prinz Tommen ist glücklich und bei guter Gesundheit, Mylord. Er hat ein Reh gezähmt, das einer meiner Männer von der Jagd mitgebracht hat. Früher habe er schon einmal eins gehabt, erzählt er, aber Joffrey habe ihm das Fell abgezogen, um sich daraus ein Wams fertigen zu lassen. Manchmal fragt er nach seiner Mutter, und oft fängt er Briefe an seine Schwester Prinzessin Myrcella an, obwohl er anscheinend nie einen zu Ende schreibt. Seinen Bruder scheint er jedoch überhaupt nicht zu vermissen.«
»Habt Ihr entsprechende Vorkehrungen für ihn getroffen, sollte die Schlacht verloren gehen?«
»Meine Männer haben ihre Anweisungen.«
»Die da wären?«
»Ihr habt mir befohlen, niemandem etwas darüber zu sagen, Mylord.«
Das brachte ihn zum Lächeln. »Ich bin froh, dass Ihr Euch daran erinnert.« Sollte Königsmund fallen, würde Tyrion vielleicht in Gefangenschaft geraten. Dann war es besser, wenn er nicht wusste, wo sich Joffreys Erbe befand.
Varys erschien nicht lange nachdem Lord Jaslyn gegangen war. »Menschen sind solch treulose Geschöpfe«, sagte er zum Gruße.
Tyrion seufzte. »Wer ist heute der Verräter?«
Der Eunuch reichte ihm eine Schriftrolle. »Solche Schurkerei, welch trauriges Lied singt sie über unsere Zeit? Ist denn die Ehre mit unseren Vätern gestorben?«
»Mein Vater lebt noch.« Tyrion überflog die Liste. »Ich kenne einige dieser Namen. Es sind reiche Männer, Kaufleute, Händler, Handwerker. Warum sollten sie sich gegen uns verschwören?«
»Offensichtlich glauben sie, Lord Stannis würde den Sieg davontragen, und daran möchten sie ihren Anteil haben. Sie nennen sich die Geweihmänner, nach dem gekrönten Hirsch.«
»Jemand sollte ihnen sagen, dass Stannis ein neues Wappen hat. Dann können sie sich die Heißen Herzen nennen.« Eigentlich war die Angelegenheit kein Grund zum Scherzen; anscheinend hatten diese Geweihmänner mehrere Hundert Gefolgsleute bewaffnet, um das Alte Tor zu besetzen, sobald die Schlacht begonnen hätte, und dem Feind so Einlass in die Stadt zu gewähren. Auf der Liste stand auch der Name des Meisterwaffenschmiedes Salloreon. »Das heißt dann wohl, dass ich diesen entsetzlichen Helm mit den Dämonenhörnern nicht bekommen werde«, beschwerte sich Tyrion, während er den Befehl kritzelte, den Mann zu verhaften.