»Es gibt Gespenster, das weiß ich ganz sicher.« Heiße Pastete knetete Brotteig, und seine Arme waren bis zum Ellbogen weiß vom Mehl. »Pia hat gestern Nacht etwas in der Vorratskammer gesehen.«
Arya grunzte nur. Pia sah ständig etwas in der Vorratskammer. Für gewöhnlich handelte es sich dabei um Männer aus Fleisch und Blut. »Kann ich ein Törtchen haben?«, fragte sie. »Du hast ein ganzes Blech voll gebacken.«
»Ich brauche auch ein ganzes Blech voll. Ser Amory mag die besonders gern.«
Sie hasste Ser Amory. »Lass uns draufspucken.«
Heiße Pastete blickte sich nervös um. Die Küche war voller Schatten und Echos, doch die anderen Köche und Küchenjungen schliefen auf dem höhlenartigen Zwischenboden über den Öfen. »Er wird es merken.«
»Bestimmt nicht«, erwiderte Arya.
»Aber wenn doch, bin ich es, der ausgepeitscht wird.« Heiße Pastete hörte auf zu kneten. »Du solltest überhaupt nicht hier sein. Es ist mitten in der Nacht.«
Das stimmte, allerdings war es Arya gleichgültig. Selbst mitten in der Nacht kehrte in der Küche keine Ruhe ein; immer bereitete irgendwer Teig für das Morgenbrot vor, rührte mit einem großen Holzlöffel in einem Topf oder zerlegte ein Schwein, damit Ser Amory zum Frühstück Speck bekam. Heute Nacht war Heiße Pastete an der Reihe.
»Wenn Triefauge aufwacht und merkt, dass du verschwunden bist …«, sagte Heiße Pastete.
»Triefauge wacht nie auf.« Eigentlich hieß er Mebbel, doch alle nannten ihn wegen seiner tränenden Augen Triefauge. »Nicht, wenn er erst einmal eingeschlafen ist.« Jeden Morgen trank er Bier zum Frühstück und schlief abends nach dem Essen betrunken ein, während ihm noch weinfarbener Speichel über das Kinn rann. Arya wartete, bis sie ihn schnarchen hörte, dann schlich sie barfuß die Dienstbotentreppe hinauf und machte nicht mehr Lärm als die Maus, die sie gewesen war. Sie nahm weder Kerze noch Wachsstock mit. Syrio hatte ihr einmal erklärt, die Dunkelheit könne ihr Freund sein, und damit hatte er Recht gehabt. Wenn Mond und Sterne schienen, hatte sie genug Licht. »Ich wette, wir könnten fliehen, und Triefauge würde mich nicht einmal vermissen«, sagte sie zu Heiße Pastete.
»Ich will nicht fliehen. Hier ist es besser als im Wald. Ich will keine Würmer mehr essen. Hier, streu mal ein bisschen Mehl auf das Brett.«
Arya legte den Kopf schief. »Was war das?«
»Was? Ich hab nichts …«
»Hör mit den Ohren zu, nicht mit dem Mund. Das war ein Kriegshorn. Zwei Töne, hast du es nicht gehört? Und da, die Ketten des Fallgitters. Jemand kommt herein oder will hinaus. Kommst du mit nachschauen?« Die Tore von Harrenhal waren seit dem Morgen von Lord Tywins Aufbruch nicht mehr geöffnet worden.
»Ich muss das Brot für morgen früh backen«, jammerte Heiße Pastete. »Außerdem mag ich es nicht, wenn es draußen dunkel ist, das habe ich dir doch gesagt.«
»Aber ich gehe hin. Hinterher erzähle ich dir alles. Kann ich ein Törtchen haben?«
»Nein.«
Sie stibitzte sich trotzdem eins und aß es auf dem Weg nach draußen. Es war mit gehackten Nüssen, Früchten und Quark gefüllt, mit einer Streuselkruste und noch ganz warm. Arya kam sich verwegen dabei vor, Ser Amorys Törtchen zu essen. Barfüßig, sicherfüßig, leichtfüßig, sang sie vor sich hin. Ich bin der Geist von Harrenhal.
Das Hornsignal hatte die Burg aus dem Schlaf gerissen; Männer kamen hinunter in den Hof, um zu sehen, was es mit dem Lärm auf sich hatte. Arya gesellte sich zu den anderen. Eine Reihe Ochsenkarren rollte unter dem Fallgitter hindurch. Plündergut, erkannte sie sofort. Die Reiter, die die Karren eskortierten, redeten in seltsamen Sprachen. Ihre Rüstungen glänzten bleich im Mondlicht, und Arya entdeckte zwei schwarzweiß gestreifte Pferde. Der Blutige Mummenschanz. Sie zog sich ein wenig tiefer in den Schatten zurück und beobachtete, wie ein riesiger schwarzer Bär in einem Käfig auf einem der Wagen hereingerollt wurde. Andere Karren waren mit Silbertellern, Waffen und Schilden, Mehlsäcken, quiekenden Schweinen, hageren Hunden und Hühnern beladen. Arya dachte gerade daran, wie lange sie bereits keinen Schweinebraten mehr gegessen hatte, da bemerkte sie den ersten Gefangenen.
Seiner aufrechten Haltung und dem stolz erhobenen Kopf nach musste es sich um einen Lord handeln. Sie sah das Kettenhemd, das unter seinem zerrissenen roten Überwurf glitzerte. Zuerst meinte Arya, er sei ein Lennister, doch als er unter einer Fackel hindurchschritt, sah sie, dass das Wappen eine silberne Faust und keinen Löwen darstellte. Man hatte ihm die Handgelenke gefesselt, mit einem Seil um den Knöchel war er an den Mann hinter sich gebunden und dieser wiederum an den Mann hinter sich, und die ganze Kolonne schlurfte im Gleichschritt dahin. Viele der Gefangenen waren verwundet. Blieb einer stehen, trabte einer der Reiter heran und gab ihm einen Hieb mit der Peitsche, damit er weiterging. Sie versuchte zu zählen, wie viele Gefangene es waren, war jedoch bei fünfzig bereits durcheinandergekommen. Es waren mindestens doppelt so viele. Ihre Kleider waren von Schlamm und Blut verdreckt, und im Fackellicht war es schwierig, die verschiedenen Banner und Wappen auszumachen, doch einige konnte Arya erkennen. Zwillingstürme. Sonnenaufgang. Blutiger Mann. Streitaxt. Die Streitaxt gehört zu Cerwyn, und die weiße Sonne auf schwarzem Grund zu Karstark. Das sind Nordmannen. Vaters Männer, und Robbs. Der Gedanke, was das bedeuten mochte, behagte ihr überhaupt nicht.
Der Blutige Mummenschanz stieg ab. Stallburschen sprangen verschlafen vom Stroh auf und kümmerten sich um die schaumbedeckten Pferde. Einer der Reiter rief nach Bier. Der Lärm hatte Ser Amory Lorch auf die überdachte Galerie oberhalb des Hofes gelockt. Zwei Männer mit Fackeln flankierten ihn. Vargo Hoat mit dem Ziegenhelm zügelte sein Tier unterhalb des Balkons. »Mylord Kaftellan«, rief der Söldner. Er hatte eine dicke, schmatzende Stimme, als wäre seine Zunge zu groß für seinen Mund.
»Was hat das zu bedeuten, Hoat?«, verlangte Ser Amory mit gerunzelter Stirn zu wissen.
»Gefangene. Roof Bolton wollte den Fluff überqueren, aber meine Tapferen Kameraden haben feine Vorhut in Ftücke gehauen, viele Männer getötet und Bolton in die Flucht geschlagen. Dief ift ihr Lord Kommandant, Glauer, und der dahinter ift Fer Aenyf Frey.«
Ser Amory Lorch starrte mit seinen kleinen Schweinsäuglein auf die gefesselten Gefangenen hinunter. Arya schien es, als ob ihm dies alles nicht recht passte. Jeder in der Burg wusste, wie sehr er und Vargo Hoat sich hassten. »Sehr gut«, sagte er. »Ser Cadwyn, bringt diese Männer in die Verliese. «
Der Lord mit der gepanzerten Faust auf dem Überwurf hob den Blick. »Uns wurde eine ehrenhafte Behandlung zugesichert …«, begann er.
»Ftill!«, brüllte Vargo Hoat ihn an und versprühte dabei einen Speichelregen.
Ser Amory wandte sich an die Gefangenen. »Was Hoat euch versprochen hat, ist mir gleichgültig. Lord Tywin hat mich zu seinem Kastellan von Harrenhal erklärt, und ich werde tun, was mir gefällt.« Er gab seinen Wachen ein Zeichen. »Die große Zelle unter dem Witwenturm sollte für sie alle reichen. Jeder, der dort nicht hinein will, kann auch gern hier sterben.«
Während seine Männer die Gefangenen davontrieben, entdeckte Arya Triefauge, der aus dem Treppenhaus trat und in den Fackelschein blinzelte. Wenn er ihr Fehlen bemerkte, würde er sie anschreien und drohen, ihr mit der Peitsche das Fell abzuziehen, trotzdem fürchtete sie sich nicht vor ihm. Er war kein Wies. Dauernd drohte er, jemandem das Fell abzuziehen, doch Arya hatte noch nie erlebt, dass er wirklich Prügel ausgeteilt hätte. Dennoch wäre es besser, wenn er sie nicht zu Gesicht bekäme. Sie blickte sich um. Die Ochsen wurden ausgespannt, die Karren abgeladen, die Tapferen Kameraden verlangten nach Bier, und Schaulustige drängten sich um den Käfig mit dem Bären. In diesem Durcheinander war es nicht schwierig, sich unbemerkt davonzuschleichen. Sie ging den Weg zurück, den sie gekommen war, und wollte nur wieder verschwunden sein, ehe jemand sie entdeckte und ihr eine Arbeit auftrug.
Nachdem sie das Tor und die Stallungen hinter sich gelassen hatte, war die große Burg menschenleer. Der Lärm blieb hinter ihr zurück. Ein wirbelnder Wind wehte und erzeugte ein schauderhaftes Kreischen in den Spalten des Klageturms. Das Laub der Bäume im Götterhain hatte zu fallen begonnen, und sie hörte, wie die Blätter raschelnd über die leeren Höfe und zwischen den verlassenen Gebäuden hindurchgetrieben wurden. Jetzt, da Harrenhal wieder nahezu unbewohnt war, spielten die Geräusche den Ohren eigentümliche Streiche. Manchmal schienen die Steine jeden Laut regelrecht aufzusaugen und die Höfe mit Stille zu überziehen wie mit einer Decke. Dann wieder führten die Echos ein Eigenleben, und jeder Schritt wurde zum Stampfen einer gespenstischen Armee, jedes Wort zu einem geisterhaften Stimmengewirr. Diese seltsamen Laute beunruhigten vielleicht Heiße Pastete, aber nicht Arya.
Still wie ein Schatten huschte sie über den mittleren Hof um den Turm der Angst herum und durch die leeren Stallungen, von denen mancher behauptete, hier würden die Geister toter Falken die Luft mit ihren Schwingen aufrühren. Sie konnte gehen, wohin sie wollte. Die Besatzung der Burg zählte nicht mehr als hundert Mann, eine winzige Truppe, die sich in Harrenhal verlor. Die Halle der Hundert Kamine war verschlossen, ebenso wie manche anderen Gebäude, sogar der Klageturm. Ser Amory Lorch wohnte in den Gemächern des Kastellans im Königsbrandturm, die allein schon so groß waren wie die Gemächer eines Lords, und Arya und die anderen waren in den Keller darunter gezogen, damit sie stets in der Nähe waren. Solange Lord Tywin noch da gewesen war, hatten sich die Wachen ständig erkundigt, was man hier zu schaffen habe. Doch jetzt, wo nurmehr hundert Mann tausend Türen bewachten, wollte offenbar niemand mehr wissen, wer wohin gehörte.
Während sie an der Waffenkammer vorbeiging, hörte sie ein Hämmern. Tief orangefarbenes Glühen leuchtete durch die Oberlichter. Sie kletterte zum Dach hinauf und spähte ins Innere. Gendry schmiedete gerade einen Brustharnisch. Wenn er arbeitete, hatte er nur Augen für Metall, Balgen und Feuer. Der Hammer schien mit seinem Arm verwachsen zu sein. Sie beobachtete das Spiel seiner Brustmuskeln und lauschte der stählernen Musik, die er erzeugte. Er ist stark, dachte sie. Nun nahm er eine lange Zange und tauchte das Bruststück in den Wassertrog. Arya schlüpfte durch das Fenster hinein und sprang neben ihm auf den Boden.
Er wirkte nicht im Mindesten überrascht. »Du solltest im Bett sein, Mädchen.« Das Bruststück fauchte im kalten Wasser wie eine Katze. »Was war das für ein Lärm?«
»Vargo Hoat ist mit Gefangenen zurückgekehrt. Ich habe ihre Wappen gesehen. Ein Glauer aus Tiefwald Motte ist auch dabei, er ist ein Mann meines Vaters. Der größte Teil von den anderen auch.« Plötzlich wusste Arya, aus welchem Grund ihre Füße sie hierhergeführt hatten. »Du musst mir helfen, sie zu befreien.«
Gendry lachte. »Und wie sollen wir das anstellen?«
»Ser Amory hat sie in den Kerker gesperrt. Den unter dem Witwenturm, da ist nur eine große Zelle. Du könntest die Tür mit deinem Hammer zertrümmern …«
»Während die Wachen zuschauen und Wetten darüber abschließen, wie oft ich zuschlagen muss?«
Arya kaute auf ihrer Unterlippe herum. »Wir müssten die Wachen vorher töten.«
»Und wie?«
»Vielleicht sind es ja nicht so viele.«
»Auch wenn es nur zwei wären, sind das schon zu viele für uns. Du hast in diesem Dorf wohl gar nichts begriffen, oder? Wenn du das tatsächlich versuchst, wird Vargo Hoat dir Hände und Füße abschlagen.«
»Du hast nur Angst.«
»Lass mich in Ruhe, Mädchen.«
»Gendry, es sind hundert Nordmannen. Vielleicht mehr, ich konnte sie nicht alle zählen. Das sind genauso viele, wie Ser Amory hat. Na ja, solange man den Blutigen Mummenschanz nicht mitzählt. Wir müssen sie nur befreien, dann können wir die Burg übernehmen und fliehen.«
»Du kannst sie genauso wenig befreien, wie du Lommy retten konntest.« Gendry drehte den Brustharnisch mit der Zange um und musterte ihn sorgfältig. »Und falls wir fliehen könnten, wohin sollten wir gehen?«
»Nach Winterfell«, antwortete sie sofort. »Ich würde Mutter erzählen, wie du mir geholfen hast, und du könntest bleiben und …«
»Würde M’lady das gestatten? Dürfte ich die Pferde für Euch beschlagen und Schwerter für Eure Hohen Brüder schmieden?«
Manchmal machte er sie rasend. »Hör auf damit!«
»Warum soll ich meine Füße und Hände riskieren, damit ich hinterher statt in Harrenhal in Winterfell schwitze? Kennst du den alten Ben Schwarzdaumen? Er ist als Junge hierhergekommen. Hat für Lady Whent geschmiedet, und davor für ihren Vater und ihren Großvater und sogar für Lord Lothston, der vor den Whents Harrenhal besessen hat. Jetzt steht er in Lord Tywins Diensten, und weißt du, was er sagt? Ein Schwert ist ein Schwert, ein Helm ein Helm, und wenn du ins Feuer greifst, verbrennst du dich, egal, wem du dienst. Lucan ist ein ganz anständiger Meister. Ich bleibe hier.«
»Dann wird dich die Königin erwischen. Ben Schwarzdaumen hat sie schließlich keine Goldröcke hinterhergeschickt!«
»Wahrscheinlich wollte sie auch mich nicht.«
»Doch, und das weißt du selbst auch sehr gut. Du bist nicht irgendwer.«
»Ich bin ein Lehrling des Schmiedehandwerks, und eines Tages werde ich ein Meister der Waffenschmiedekunst sein … wenn ich nicht davonlaufe und mir die Füße abhacken lasse oder sogar umgebracht werde.« Er wandte sich von ihr ab, nahm seinen Hammer und schlug auf das Metall ein.
Hilflos ballte Arya die Hände zu Fäusten. »Dem nächsten Helm, den du machst, solltest du Eselsohren aufsetzen anstatt Stierhörner!« Sie musste hier verschwinden, sonst würde sie anfangen, auf ihn einzuprügeln. Wahrscheinlich würde er es gar nicht bemerken, wenn ich es täte. Aber wenn sie herausfinden, wer er ist und ihm den dummen Eselskopf abschlagen, wird es ihm leidtun, dass er mir nicht geholfen hat. Ohne ihn war sie sowieso besser dran. Schließlich waren sie seinetwegen in dem Dorf erwischt worden.
Der Gedanke an das Dorf erinnerte sie an den Marsch, an den Lagerraum und den Kitzler. Sie dachte an den kleinen Jungen, der mit einem Morgenstern ins Gesicht geschlagen worden war, an den dummen alten »Alle-für-Joffrey«, an Lommy Grünhand. Ich war ein Schaf, und dann war ich eine Maus, ich konnte nichts anderes tun, als mich zu verstecken. Arya kaute auf ihrer Unterlippe herum und überlegte, wann ihr Mut zurückgekehrt war. Jaqen hat mich wieder mutig gemacht. Er hat mich von einer Maus in einen Geist verwandelt.
Seit Wies’ Tod hatte sie den Mann aus Lorath gemieden. Chiswyck war einfach gewesen, jeder konnte einen Mann vom Wehrgang stoßen, doch Wies hatte seinen hässlichen gefleckten Hund von klein auf großgezogen, und nur dunkle Magie konnte das Tier gegen seinen Herrn aufgebracht haben. Yoren hat Jaqen in einer schwarzen Zelle entdeckt, genauso wie Rorge und Beißer, erinnerte sie sich. Jaqen muss etwas Schreckliches getan haben, und Yoren wusste darüber Bescheid, deshalb hat er ihn in Ketten gehalten. Wenn der Lorathi ein Zauberer war, könnten Rorge und Beißer Dämonen sein, die er aus irgendeiner Hölle herbeigerufen hat.
Jaqen schuldete ihr noch einen Tod. In den Geschichten der Alten Nan über Menschen, denen Zauberwünsche von einem Grumkin gewährt worden waren, musste man beim dritten Wunsch stets besonders vorsichtig sein, weil es der letzte war. Chiswyck und Wies waren nicht sehr wichtig gewesen. Der letzte Tod muss zählen, sagte sich Arya jede Nacht, wenn sie die Namen vor sich hin flüsterte. Jetzt jedoch fragte sie sich, ob das wirklich der Grund war, weshalb sie zögerte. Solange sie mit einem Flüstern töten konnte, brauchte sie sich vor niemandem zu fürchten … doch nachdem sie den letzten Tod verbraucht hätte, wäre sie wieder eine Maus.
Da Triefauge bereits aufgestanden war, wagte sie es nicht, in ihr Bett zurückzukehren. Weil sie nicht wusste, wo sie sich sonst verstecken sollte, machte sie sich zum Götterhain auf. Der scharfe Geruch der Kiefern und Wachbäume, das weiche Gras und die Erde zwischen ihren Zehen und das Rauschen der Blätter im Wind gefielen ihr. Ein kleiner Bach wand sich durch den Hain, und an einer Stelle hatte das Wasser den Boden unter einem umgestürzten Baum fortgespült.
Dort, unter dem verrottenden Holz und den gespaltenen Ästen, fand sie das Schwert, das sie versteckt hatte.
Gendry war zu stur, um eins für sie zu schmieden, deshalb hatte sie sich selbst eins gemacht, indem sie die Borsten von einem Besen brach. Zwar war die Klinge viel zu leicht und hatte kein anständiges Heft, doch ihr gefiel das zersplitterte, scharfe Ende. Wann immer sie eine freie Stunde hatte, stahl sie sich davon und machte die Übungen, die Syrio sie gelehrt hatte, tänzelte barfuß über das Laub, schlug nach Ästen und trennte Blätter von Zweigen. Manchmal kletterte sie sogar in die Bäume hinauf, tanzte auf den oberen Ästen, hielt sich mit den Zehen an der Rinde fest und schwankte jeden Tag weniger, denn ihr Gleichgewichtssinn kehrte langsam zurück. Die Nacht war die beste Zeit dafür; niemand störte sie des Nachts.
Arya kletterte. Oben im Königreich der Blätter zog sie das Schwert aus der Scheide und vergaß sie alle, Ser Amory und den Mummenschanz und sogar die Männer ihres Vaters. Sie verlor sich in dem Gefühl des rauen Holzes unter ihren Füßen und ließ ihr Schwert durch die Luft zischen. Ein abgebrochener Ast wurde zu Joffrey. Sie schlug auf ihn ein, bis er hinunterfiel. Die Königin und Ser Ilyn und Ser Meryn und der Bluthund waren nur Blätter, doch auch diese tötete sie und zerfetzte sie zu grünen feuchten Schnipseln. Als ihr Arm schließlich ermüdete, setzte sie sich und ließ die Beine von einem Ast hoch oben baumeln, während sie die kühle Luft tief in die Lungen sog und den schrillen Lauten der jagenden Fledermäuse lauschte. Durch den Laubbaldachin konnte sie die knochenweißen Zweige des Herzbaumes sehen. Von hier aus sieht er aus wie der in Winterfell. Wenn er es nur wirklich sein könnte – dann würde sie einfach hinunterklettern und wieder zu Hause sein, und vielleicht würde sie ihren Vater an seinem alten Lieblingsplatz unter dem Wehrholzbaum finden.
Sie schob das Schwert durch den Gürtel und hangelte sich von Ast zu Ast, bis sie wieder unten war. Sie lief zum Wehrholzbaum hinüber, dessen Zweige das Mondlicht silberweiß färbte, während die fünfzackigen roten Blätter in der Nacht schwarz geworden waren. Arya starrte das Gesicht an, das in den Stamm geschnitzt war. Es war ein fürchterliches Antlitz mit verzerrtem Mund und hasserfüllten Augen. Sah so ein Gott aus? Konnten Götter verletzt werden, so wie Menschen auch? Ich sollte beten, dachte sie plötzlich.
Arya kniete nieder. Sie war nicht sicher, wie sie anfangen sollte, und faltete zunächst einmal die Hände. Helft mir, ihr alten Götter, betete sie still. Helft mir, diese Männer aus dem Kerker zu befreien, damit wir Ser Amory töten können, und bringt mich zurück nach Winterfell. Macht mich zu einer Wassertänzerin und zu einem Wolf, und lasst mich nie, nie wieder Angst haben.
Genügte das? Vielleicht müsste sie laut beten, damit die alten Götter sie hörten. Oder länger? Manchmal hatte ihr Vater sehr lange gebetet, daran erinnerte sie sich noch. Doch die alten Götter hatten ihm nie geholfen. Bei diesem Gedanken wurde sie wütend. »Ihr hättet ihn retten sollen«, schalt sie den Baum. »Er hat immer zu euch gebetet. Mir ist es egal, ob ihr mir helft oder nicht. Ich glaube, ihr könntet es überhaupt nicht, selbst wenn ihr wolltet.«
»Götter verspottet man nicht, Mädchen.«
Die Stimme erschreckte sie. Sie sprang auf die Füße und zog ihr Holzschwert. Jaqen H’ghar stand so still in der Dunkelheit, dass man ihn mit einem der Bäume hätte verwechseln können. »Der Mann kommt, um einen Namen zu hören. Eins und zwei, und dann folgt drei. Der Mann möchte es hinter sich bringen.«
Arya senkte die zersplitterte Spitze zum Boden. »Woher wusstest du, dass ich hier bin?«
»Der Mann sieht. Der Mann hört. Der Mann weiß.«
Sie beäugte ihn misstrauisch. Hatten die Götter ihn geschickt? »Wie hast du den Hund dazu gebracht, Wies zu töten? Hast du Rorge und Beißer aus der Hölle gerufen? Ist Jaqen H’ghar dein richtiger Name?«
»Manche Menschen haben viele Namen. Wiesel. Arry. Arya.«
Sie wich vor ihm zurück, bis sie mit dem Rücken zum Herzbaum stand. »Hat Gendry dir das erzählt?«
»Der Mann weiß«, wiederholte er. »Mylady Stark.«
Vielleicht war er die Antwort auf ihre Gebete an die Götter. »Ich brauche dich, damit ich diese Männer aus dem Kerker befreien kann. Diesen Glauer und die anderen, sie alle. Wir müssen die Wachen töten und irgendwie die Zelle öffnen …«
»Das Mädchen vergisst«, sagte er ruhig. »Zwei hat sie, drei wurden geschuldet. Wenn eine Wache sterben soll, braucht das Mädchen nur ihren Namen zu sagen.«
»Aber eine Wache genügt nicht, wir müssen sie alle töten, um die Zelle zu öffnen.« Arya biss sich heftig auf die Unterlippe, um nicht zu weinen. »Ich möchte, dass du die Nordmänner rettest, so wie ich dich gerettet habe.«
Er blickte mitleidlos auf sie herab. »Drei Leben wurden einem Gott vorenthalten. Drei Leben müssen bezahlt werden. Die Götter verspottet man nicht.« Seine Stimme klang gleichermaßen seidenweich und stahlhart.
»Ich habe sie nicht verspottet.« Sie dachte einen Augenblick nach. »Der Name … darf ich jeden nennen? Und du wirst ihn töten?«
Jaqen H’ghar neigte den Kopf. »Der Mann hat es gesagt.«
»Jeden?«, hakte sie erneut nach. »Einen Mann, eine Frau, ein kleines Kind, Lord Tywin, den Hohen Septon oder deinen Vater?«
»Der Vater des Mannes ist seit langem tot, aber würde er noch leben und würdest du seinen Namen kennen, würde er auf deinen Befehl sterben.«
»Schwöre es«, verlangte Arya. »Schwöre es bei den Göttern. «
»Bei allen Göttern des Meeres und der Luft und sogar bei dem des Feuers, ich schwöre es.« Er legte die Hand in den Mund des Wehrholzbaumes. »Bei den sieben neuen Göttern und den unzähligen alten, ich schwöre es.«
Er hat geschworen. »Und wenn ich den Namen des Königs nennen würde …«
»Sprich den Namen, und der Tod wird kommen. Morgen, zur Mondwende oder in einem Jahr, der Tod kommt. Der Mann fliegt nicht wie ein Vogel, aber er setzt einen Fuß vor den anderen, und so ist der Mann eines Tages dort, und ein König stirbt.« Er kniete sich hin, sodass ihre Gesichter auf gleicher Höhe waren. »Das Mädchen kann flüstern, wenn es sich nicht traut, ihn laut auszusprechen. Flüstere ihn jetzt. Ist es Joffrey?«
Arya brachte die Lippen dicht an sein Ohr. »Es ist Jaqen H’ghar.«
Selbst in der brennenden Scheune, als Flammenwände um ihn herum aufgelodert hatten und er angekettet gewesen war, hatte er nicht so entsetzt gewirkt. »Das Mädchen … es macht einen Scherz.«
»Du hast es geschworen. Die Götter haben es gehört.«
»Die Götter haben es gehört.« Plötzlich war ein Messer in seiner Hand, dessen Klinge so dünn wie ihr kleiner Finger war. Ob es für sie oder für ihn bestimmt war, vermochte Arya nicht zu sagen. »Das Mädchen wird weinen. Das Mädchen verliert ihren einzigen Freund.«
»Du bist nicht mein Freund. Ein Freund würde mir helfen.« Sie trat von ihm zurück und balancierte auf den Fußballen, für den Fall, dass er das Messer nach ihr warf. »Einen Freund würde ich niemals töten.«
Jaqens Lächeln kam und ging. »Das Mädchen könnte … einen anderen Namen nennen, wenn ein Freund ihm helfen würde?«
»Das Mädchen könnte«, sagte sie, »wenn ein Freund helfen würde.«
Das Messer verschwand. »Komm.«
»Jetzt?« Sie hatte nie gedacht, dass er so rasch handeln würde.
»Der Mann hört den Sand im Stundenglas rieseln. Der Mann wird nicht schlafen, ehe das Mädchen einen bestimmten Namen zurückgenommen hat. Jetzt, böses Kind.«
Ich bin kein böses Kind, dachte sie, ich bin ein Schattenwolf und der Geist von Harrenhal. Sie brachte ihren Besenstiel zurück ins Versteck und folgte Jaqen aus dem Götterhain.
Trotz der späten Stunde war Harrenhal noch nicht zur Ruhe gekommen. Vargo Hoats Ankunft hatte die gewohnten Abläufe durcheinandergebracht. Ochsenkarren, Ochsen und Pferde waren vom Hof verschwunden, doch der Bärenkäfig stand noch da. Er war mit starken Ketten an den gewölbten Bogen der Brücke gehängt worden, die den äußeren und den mittleren Hof trennte, und dort schwankte er einen Meter über dem Boden hin und her. Ein Ring aus Fackeln beleuchtete den Bereich. Einige Burschen aus den Stallungen warfen mit Steinen nach dem Bär, der wütend brüllte und knurrte. Auf der anderen Seite des Hofes drang durch eine Tür Licht aus der Halle der Kaserne. Krüge klapperten, und Männer riefen nach mehr Wein. Ein Dutzend Stimmen sangen ein Lied in einer kehligen Sprache, die in Aryas Ohren sehr fremdartig klang.
Sie essen und trinken, bevor sie schlafen gehen, wurde ihr klar. Triefauge hätte mich bestimmt geweckt, damit ich beim Bedienen helfe. Er wird wissen, dass ich nicht mehr im Bett bin. Doch vermutlich bediente er selbst die Tapferen Kameraden und die Soldaten von Ser Amory, die sich zu ihnen gesellt hatten. Der Lärm war eine gute Ablenkung.
»Die hungrigen Götter werden heute Nacht einen Festschmaus halten, wenn der Mann dies wirklich tut«, sagte Jaqen. »Süßes Mädchen, freundlich und nett. Nimm den einen Namen zurück, sage einen anderen und beende diesen wahnsinnigen Traum.«
»Nein.«
»Also gut.« Er schien sich damit abgefunden zu haben. »Es wird getan, aber das Mädchen muss gehorchen. Der Mann hat keine Zeit, viel zu reden.«
»Das Mädchen wird gehorchen«, sagte Arya. »Was soll ich tun?«
»Hundert Mann sind hungrig und müssen verpflegt werden, der Lord befiehlt, heiße Brühe zu bringen. Das Mädchen muss in die Küche laufen und es ihrem Pastetenjungen sagen.«
»Brühe«, wiederholte sie. »Wo werde ich dich finden?«
»Das Mädchen wird helfen, die Brühe zu machen, und in der Küche warten, bis der Mann kommt. Geh. Lauf.«
Heiße Pastete zog gerade Brot aus dem Ofen, als sie in die Küche platzte, doch er war nicht mehr allein. Man hatte die Köche geweckt, damit sie Essen für Vargo Hoat und seinen Blutigen Mummenschanz zubereiteten. Dienstboten trugen das Brot und die Törtchen davon, die Heiße Pastete gebacken hatte, und während der Oberkoch Scheiben von einem Schinken abschnitt, drehten Küchenjungen Kaninchen an Spießen, während Küchenmädchen sie mit Honig bestrichen und Frauen Zwiebeln und Karotten hackten. »Was willst du, Wiesel?«, fragte der Oberkoch, als er sie sah.
»Brühe«, verkündete sie, »Mylord wünscht Brühe.«
Er deutete mit dem Messer auf die schwarzen Eisenkessel, die über dem Feuer hingen. »Was, glaubst du, ist das? Obwohl ich auch reinpissen könnte, dann wäre es für diese Ziege noch immer gut genug. Kann der einem nicht einmal den Nachtschlaf gönnen?« Er spuckte aus. »Nun, du kannst nichts dafür, lauf zurück und sag ihm, die Brühe müsse wenigstens einmal aufkochen.«
»Ich soll hier warten, bis sie fertig ist.«
»Dann steh mir nicht im Weg herum. Am besten mach dich nützlich. Lauf zur Vorratskammer; seine Ziegenschaft wird Butter und Käse wollen. Weck Pia auf und sag ihr, sie soll sich dies eine Mal lieber beeilen, wenn sie ihre Füße behalten will.«
Sie rannte, so schnell sie konnte. Pia lag oben auf dem Schlafboden unter einem der Männer vom Blutigen Mummenschanz und stöhnte, doch sie zog sich sofort die Kleider wieder an, als sie Aryas Ruf hörte. Dann füllte sie selbst Körbe mit Buttertöpfen und großen Ecken stinkenden Käses, der in Stoff gewickelt war. »Hier, hilf mir mal dabei«, befahl sie Arya.
»Ich kann nicht. Aber du solltest dich lieber beeilen, sonst lässt dir Vargo Hoat die Füße abschlagen.« Sie sauste davon, ehe Pia sie greifen konnte. Auf dem Weg zurück fragte sie sich, warum keinem der Gefangenen Hände und Füße abgeschlagen worden waren. Möglicherweise fürchtete Vargo Hoat, er könne dadurch Robb wütend machen. Obwohl er nicht aussah wie jemand, der sich vor irgendetwas fürchtete.
Heiße Pastete rührte mit einem langen Holzlöffel in der Brühe, als Arya in die Küche zurückkam. Sie nahm sich einen zweiten Löffel und wollte ihm helfen. Einen Moment lang überlegte sie, ob sie ihm alles erzählen solle, doch dann fiel ihr das Dorf wieder ein, und sie entschied, es nicht zu tun. Er wird sich doch nur wieder ergeben wollen.
Dann hörte sie den hässlichen Klang von Rorges Stimme. »Koch«, brüllte er, »wir nehmen diese verdammte Brühe mit.« Arya ließ bestürzt den Löffel fallen. Ich habe ihm nicht befohlen, sie mitzubringen. Rorge trug seinen Eisenhelm mit dem Nasenschutz, der seine fehlende Nase halb verdeckte. Jaqen und Beißer folgten ihm in die Küche.
»Die verdammte Brühe ist verdammt noch mal noch nicht fertig«, antwortete der Koch. »Sie muss köcheln. Die Zwiebeln haben wir gerade erst reingetan und …«
»Halt den Mund, oder ich schiebe dir einen Spieß in den Arsch und wir hängen dich ein bisschen über das Feuer. Ich sagte Brühe, und ich sagte sofort.«
Beißer zischte nur, riss sich ein Stück Kaninchen vom Spieß und biss mit seinen spitzen Zähnen hinein, sodass Honig zwischen seinen Fingern hervortropfte.
Der Koch gab sich geschlagen. »Dann nehmt die verdammte Brühe mit, aber wenn die Ziege fragt, warum sie so dünn schmeckt, sagt ihm die Wahrheit.«
Beißer leckte sich Honig und Fett von den Fingern, während Jaqen H’ghar sich gepolsterte Handschuhe anzog. Ein zweites Paar reichte er Arya. »Das Wiesel wird mir helfen.« Die Brühe brodelte vor Hitze, und die Töpfe waren schwer. Arya und Jaqen trugen einen zwischen sich, Rorge schleppte einen allein, und Beißer nahm sogar zwei und zischte vor Schmerz, da er sich an den Griffen verbrannte. Trotzdem ließ er sie nicht fallen. Mit den Töpfen ging es hinaus aus der Küche und über den Hof. Vor der Tür zum Witwenturm waren zwei Wachen postiert. »Was ist das?«, fragte der eine Rorge.
»Ein Topf mit kochender Pisse, willst du welche?«
Jaqen lächelte entwaffnend. »Die Gefangenen müssen essen. «
»Niemand hat irgendetwas davon gesagt, dass …«
Arya schnitt ihm das Wort ab. »Es ist für sie, nicht für dich.«
Die zweite Wache winkte sie durch. »Dann bringt es nach unten.«
Hinter der Tür führte eine Wendeltreppe in den Kerker. Rorge ging voraus, Jaqen und Arya kamen als Letzte. »Das Mädchen wird sich heraushalten«, erklärte er ihr.
Die Stufen endeten in einem feuchten, langen, dunklen und fensterlosen Steingewölbe. Ein paar Fackeln brannten in Halterungen im vorderen Bereich, wo eine Gruppe von Ser Amorys Leuten um einen verkratzten Holztisch saß, sich unterhielt und mit Spielsteinen spielte. Massive Eisengitter trennten sie von den Gefangenen, die im Dunkeln hockten. Der Duft der Brühe lockte viele ans Gitter.
Arya zählte acht Wachen. Sie rochen die Brühe ebenfalls. »Das ist ja das hässlichste Dienstmädchen, das ich je gesehen habe«, sagte der Hauptmann zu Rorge. »Was ist in den Töpfen?«
»Dein Schwanz und deine Eier. Willst du essen oder nicht?«
Eine der Wachen war auf und ab geschritten, eine zweite hatte am Gitter gestanden und eine dritte mit dem Rücken zur Wand auf dem Boden gesessen, doch bei der Aussicht auf Essen traten sie alle zum Tisch.
»Wurde auch langsam Zeit!«
»Sind das Zwiebeln, die ich da rieche?«
»Wo ist denn das Brot?«
»Verdammt, wir brauchen Schüsseln, Becher, Löffel …«
»Nein, die braucht ihr nicht.« Rorge schüttete die siedend heiße Brühe quer über den Tisch, den Männern mitten in die Gesichter. Jaqen H’ghar tat das Gleiche. Auch Beißer warf seine Töpfe, doch er ließ sie kreisen, so dass es im Kerker Suppe regnete. Einer der Töpfe traf den Hauptmann, der gerade aufstehen wollte, an der Schläfe. Der Mann ging wie ein Sandsack zu Boden und rührte sich nicht mehr. Die anderen schrien vor Schmerzen, beteten oder versuchten davonzukriechen.
Arya drückte sich an die Wand, während Rorge begann, Kehlen durchzuschneiden. Beißer zog es vor, seine Opfer hinter dem Kopf und unter dem Kinn zu packen und ihnen mit einer einzigen Drehung seiner riesigen Pranken das Genick zu brechen. Nur einer Wache gelang es überhaupt, das Schwert zu ziehen. Jaqen wich dem Hieb tänzelnd aus, zog die eigene Klinge, trieb den Mann mit einem Wirbel von Schlägen in eine Ecke und tötete ihn mit einem einzigen Stich ins Herz. Dann kam der Lorathi mit der vom roten Herzblut beschmierten Klinge zu Arya und wischte sie an ihrer Schürze ab. »Das Mädchen sollte ebenfalls blutig sein. Dies ist ihr Werk.«
Der Schlüssel zur Zelle hing an einem Haken in der Wand über dem Tisch. Rorge nahm ihn herunter und öffnete die Tür. Der erste Mann, der heraustrat, war der Lord mit der Faust auf dem Überwurf. »Gut gemacht«, sagte er. »Ich bin Robett Glauer.«
»Mylord.« Jaqen verneigte sich.
Nachdem die Gefangenen befreit waren, nahmen die Ersten den toten Wachen die Waffen ab und rannten mit Stahl in den Händen die Treppe hinauf. Ihre Kameraden drängten ihnen unbewaffnet hinterher. Alles ging sehr rasch und ohne viele Worte vonstatten. Keiner von ihnen schien noch so schwer verwundet zu sein wie zu dem Zeitpunkt, als Vargo Hoat sie durch das Tor von Harrenhal hereingeführt hatte. »Das mit der Suppe war ausgesprochen schlau«, sagte dieser Glauer. »So etwas hatte ich nicht erwartet. War das Lord Hoats Idee?«
Rorge begann zu lachen. Er lachte so heftig, dass ihm der Rotz aus dem Loch flog, wo einst seine Nase gewesen war. Beißer saß auf einem der Toten und hielt dessen schlaffe Hand, während er an den Fingern nagte. Mit den Zähnen zermalmte er krachend die Knochen.
»Wer seid Ihr, Männer?« Eine Falte erschien zwischen Robett Glauers Augenbrauen. »Ihr wart nicht bei Hoat, als er in Lord Boltons Lager kam. Gehört Ihr zu den Tapferen Kameraden? «
Rorge wischte sich den Rotz mit dem Handrücken vom Kinn. »Jetzt gehören wir zu ihnen.«
»Dieser Mann hat die Ehre, Jaqen H’ghar zu sein, einst aus der Freien Stadt Lorath. Die unhöflichen Gefährten des Mannes tragen die Namen Rorge und Beißer. Der Lord wird wohl erkennen, welcher Beißer ist.« Er deutete mit der Hand auf Arya. »Und hier …«
»Ich bin Wiesel«, platzte sie heraus, ehe er verraten konnte, wer sie wirklich war. Sie wollte nicht, dass ihr Name hier ausgesprochen wurde, wo Rorge und Beißer und all diese Fremden ihn hören konnten.
Glauer nahm sie kaum zur Kenntnis. »Sehr schön«, sagte er, »dann wollen wir dieses blutige Geschäft zu Ende bringen. «
Oben an der Wendeltreppe lagen die Wachen an der Tür in ihrem eigenen Blut. Nordmannen rannten über den Hof. Arya hörte Rufe. Die Tür zur Halle der Soldaten wurde aufgestoßen, und ein Verwundeter taumelte schreiend heraus. Drei andere rannten ihm nach und brachten ihn mit Speer und Schwert zum Schweigen. Auch am Torhaus wurde gekämpft. Rorge und Beißer rannten mit Glauer davon, doch Jaqen H’ghar kniete neben Arya nieder. »Das Mädchen versteht nicht?«
»Doch, ich verstehe«, antwortete sie, obwohl sie es eigentlich nicht richtig begriff.
Der Lorathi hatte es ihr offenbar angesehen. »Die Ziege kennt keine Treue. Bald wird ein Wolfsbanner hier gehisst, denke ich. Aber zuerst möchte der Mann, dass ein bestimmter Name zurückgenommen wird.«
»Ich nehme den Namen zurück.« Arya biss sich auf die Unterlippe. »Habe ich immer noch einen dritten Tod?«
»Das Mädchen ist gierig.« Jaqen berührte eine der toten Wachen und zeigte ihr seine blutigen Finger. »Hier ist die Drei und dort die Vier, und unten liegen noch acht. Die Schuld ist bezahlt.«
»Die Schuld ist bezahlt«, stimmte Arya widerwillig zu. Sie war ein bisschen traurig. Jetzt war sie wieder eine Maus.
»Dem Gott wurde Genüge getan. Und jetzt muss der Mann sterben.« Ein eigentümliches Lächeln machte sich auf Jaqen H’ghars Lippen breit.
»Sterben?«, fragte sie verwirrt. Was meinte er damit? »Aber ich habe den Namen zurückgenommen. Du brauchst nicht mehr zu sterben.«
»Doch. Meine Zeit ist um.« Jaqen strich sich mit der Hand von der Stirn zum Kinn über das Gesicht, und wo seine Hand vorbeikam, verwandelten sich seine Züge. Seine Wangen wurden voller, seine Augen rückten enger zusammen, seine Nase wurde zur Hakennase, auf der rechten Wange tauchte plötzlich eine Narbe auf, wo die Haut zuvor glatt gewesen war. Und als er den Kopf schüttelte, verschwand sein halb rotes und halb weißes langes glattes Haar und enthüllte einen schwarzen Lockenkopf.
Arya stand der Mund offen. »Wer bist du?«, flüsterte sie, und vor Erstaunen verspürte sie keine Angst. »Wie hast du das gemacht? War das schwer?«
Er grinste und zeigte dabei einen glänzenden Goldzahn. »Nicht schwerer, als einen neuen Namen anzunehmen, wenn man weiß, wie es geht.«
»Zeig es mir«, platzte sie heraus. »Ich möchte das auch können.«
»Wenn du es lernen willst, musst du mit mir kommen?«
Arya zögerte. »Wohin?«
»Weit, weit fort, bis jenseits der Meerenge.«
»Das kann ich nicht. Ich muss nach Hause. Nach Winterfell. «
»Dann trennen sich unsere Wege«, sagte er, »denn auch ich habe Pflichten zu erfüllen.« Er nahm ihre Hand und legte eine kleine Münze hinein. »Hier.«
»Was ist das?«
»Eine Münze von großem Wert.«
Arya biss darauf. Sie war so hart, dass es sich nur um Eisen handeln konnte. »Ist sie genug wert, um ein Pferd zu kaufen?«
»Sie ist nicht dazu bestimmt, Pferde zu kaufen.«
»Und wofür ist sie dann gut?«
»Du kannst genauso gut fragen, wofür das Leben gut ist, und wofür der Tod. Sollte der Tag kommen, an dem du nach mir suchst, gib diese Münze irgendeinem Mann aus Braavos und sag die folgenden Worte zu ihm – valar morghulis.«
»Valar morghulis«, wiederholte Arya. Das war nicht schwer. Sie schloss die Finger um die Münze. Auf der anderen Seite des Hofes hörte sie Männer sterben. »Bitte geh nicht, Jaqen.«
»Jaqen ist genauso tot wie Arry«, sagte er traurig, »und es gibt Versprechen, die ich einhalten muss. Valar morghulis, Arya Stark. Wiederhole es noch einmal.«
»Valar morghulis«, sagte sie erneut, und der Fremde in Jaqens Kleidung verneigte sich vor ihr und schritt mit wehendem Mantel durch die Dunkelheit davon. Sie war allein mit den Toten. Sie hatten den Tod verdient, redete sich Arya ein und erinnerte sich an all die Menschen, die Ser Amory Lorch in dem Bergfried am See umgebracht hatte.
Der Keller unter dem Königsbrandturm war verlassen, als sie zu ihrem Strohbett zurückkehrte. Sie flüsterte die Namen in ihr Kissen, und nachdem sie damit fertig war, fügte sie mit leiser Stimme »Valar morghulis« hinzu und fragte sich, was es wohl bedeutete.
Im Morgengrauen waren Triefauge und die anderen wieder da, alle außer einem Jungen, der aus irgendeinem Grund bei den Kämpfen ums Leben gekommen war. Triefauge ging allein nach oben, um zu schauen, wie die Dinge bei Tageslicht besehen standen, und klagte den ganzen Weg nach oben darüber, wie beschwerlich die Stufen für seine alten Knochen waren. Bei seiner Rückkehr erklärte er ihnen, Harrenhal sei gefallen. »Dieser Blutige Mummenschanz hat einige von Ser Amorys Männern im Bett und den Rest am Tisch getötet, als sie betrunken waren. Der neue Lord wird noch vor Tagesende mit seinem Heer hier eintreffen. Er stammt aus dem wilden Norden, wo die Mauer ist, und es heißt, er sei ein harter Kerl. Ob nun dieser Lord oder jener Lord, die Arbeit muss getan werden. Wer Unfug anstellt, dem ziehe ich das Fell ab.« Er sah Arya an, während er das sagte, doch er fragte sie nicht, wo sie sich in der vergangenen Nacht herumgetrieben hatte.
Den ganzen Morgen über beobachteten sie die Männer des Blutigen Mummenschanzes dabei, wie sie den Toten ihre Habseligkeiten abnahmen und die Leichen auf den Fließsteinhof schleppten, wo ein Scheiterhaufen aufgeschichtet wurde, um sich ihrer zu entledigen. Shagwell der Narr hackte zwei toten Rittern die Köpfe ab, schwenkte sie an den Haaren, tanzte mit ihnen durch die Burg und ließ sie miteinander reden. »Woran seid Ihr gestorben?«, fragte der eine Kopf. »An heißer Wieselsuppe«, antwortete der Zweite.
Arya bekam den Auftrag, das getrocknete Blut aufzuwischen. Niemand sagte mehr zu ihr als sonst, doch häufig bemerkte sie, wie die Leute sie eigentümlich anstarrten. Robett Glauer und die anderen Männer, die sie befreit hatten, mussten erzählt haben, was im Kerker passiert war, und dann hatte Shagwell mit seinen dummen sprechenden Köpfen von der Wieselsuppe angefangen. Sie hätte ihm gesagt, er solle damit aufhören, doch sie hatte Angst. Der Narr war halb wahnsinnig, und sie hatte gehört, dass er einmal einen Mann umgebracht hatte, weil dieser nicht über seine Scherze gelacht hatte. Er sollte lieber den Mund halten, sonst setze ich ihn auch auf meine Liste, dachte sie und schrubbte an den rötlich braunen Flecken herum.
Es war schon fast Abend, als der neue Herr von Harrenhal eintraf. Er hatte ein schlichtes, bartloses Gesicht, in dem allenfalls die seltsam hellen Augen auffielen. Er war weder dick noch dünn noch muskulös, trug ein schwarzes Panzerhemd und einen fleckigen rosafarbenen Umhang. Das Wappen auf seinem Banner sah wie ein Mann aus, der in Blut getaucht worden war. »Auf die Knie vor dem Lord von Grauenstein! «, rief sein Knappe, ein Junge in Aryas Alter, und Harrenhal kniete nieder.
Vargo Hoat trat vor. »Mylord, Harrenhal ift Euer.«
Der Lord antwortete, doch zu leise, als dass Arya ihn hätte verstehen können. Robett Glauer und Ser Aenys Frey gesellten sich, frisch gebadet und in neuen Kleidern, zu ihnen. Sie redeten kurz miteinander, dann führte Ser Aenys sie zu Rorge und Beißer. Arya war überrascht, dass die beiden noch hier waren; irgendwie hatte sie erwartet, sie würden mit Jaqen verschwinden. Arya hörte Rorges scharfe Stimme, verstand jedoch abermals nicht, was gesagt wurde. Dann tänzelte Shagwell auf sie zu und zerrte sie hinaus auf den Hof. »Mylord, Mylord«, sagte er und zog sie am Handgelenk, »hier ist das Wiesel, das die Suppe gekocht hat.«
»Lass mich los«, rief Arya und entwand sich seinem Griff.
Der Lord betrachtete sie. Dabei bewegten sich nur seine Augen; sie waren sehr hell und hatten die Farbe von Eis. »Wie alt bist du, Kind?«
Sie musste einen Moment lang überlegen. »Zehn.«
»Zehn, Mylord«, erinnerte er sie. »Magst du Tiere?«
»Manche, Mylord.«
Ein dünnes Lächeln trat auf seine Lippen. »Aber keine Löwen, scheint mir. Und auch keine Mantikore.«
Sie wusste nicht, was sie erwidern sollte, also schwieg sie.
»Man hat mir gesagt, du heißt Wiesel. Das wird nicht genügen. Welchen Namen hat dir deine Mutter gegeben?«
Sie biss sich auf die Lippe und suchte nach einem anderen Namen. Lommy hatte sie Klumpkopf genannt, Sansa Pferdegesicht und die Männer ihres Vaters hatten sie einmal Aryaim-Weg genannt, doch das waren wohl kaum Namen, wie sie der Lord von ihr erwartete.
»Nymeria«, sagte sie. »Und sie hat mich Nan genannt, weil das kürzer ist.«
»Du wirst mich mit Mylord anreden, wenn du mit mir sprichst, Nan«, sagte der Lord milde. »Um ein Tapferer Kamerad zu sein, bist du zu jung, denke ich, und außerdem gehörst du zum falschen Geschlecht. Hast du Angst vor Blutegeln, Kind?«
»Nein, das sind doch nur Egel. Mylord.«
»Mein Knappe könnte sich von dir eine Scheibe abschneiden, scheint mir. Häufige Behandlung mit Blutegeln ist das Geheimnis eines langen Lebens. Man muss sich vom schlechten Blut reinigen. Das wirst du tun, denke ich. So lange ich in Harrenhal bleibe, Nan, wirst du mein Mundschenk sein und mich bei Tische und in meinen Gemächern bedienen.«
Diesmal wusste sie es besser, als zu sagen, sie würde lieber im Stall arbeiten. »Ja, Euer Lord. Ich meine, Mylord.«
Der Lord entließ sie mit einer Geste. »Richtet sie anständig her«, sagte er zu niemandem im Besonderen, »und bringt ihr bei, wie man Wein einschenkt, ohne ihn zu verschütten.« Er wandte sich ab, hob die Hand und fügte noch hinzu: »Lord Hoat, kümmert Euch um die Banner oben auf dem Torhaus.«
Vier Tapfere Kameraden stiegen zu den Wehrgängen hinauf und holten den Löwen der Lennisters und Ser Amorys schwarzen Mantikor ein. An ihrer Stelle hisste man den gehäuteten Mann von Grauenstein und den Schattenwolf der Starks. Und an diesem Abend schenkte ein Page namens Nan Roose Bolton und Vargo Hoat Wein ein, während sie auf der Galerie standen und den Tapferen Kameraden zuschauten, die Ser Amory Lorch nackt durch den mittleren Hof trieben. Ser Amory bettelte und schluchzte und warf sich seinen Peinigern zu Füßen, bis Rorge ihn losschnitt und Shagwell ihn in die Bärengrube stieß.
Der Bär ist ganz schwarz, dachte Arya. Wie Yoren. Sie füllte Roose Boltons Becher und vergoss keinen Tropfen.