In dieser Stadt des Prunks hatte Dany vom Haus der Unsterblichen erwartet, dass es das prächtigste Gebäude von allen sein müsste, doch als sie aus ihrem Palankin stieg, stand sie vor einer uralten grauen Ruine.
Lang und niedrig war sie, hatte weder Türme noch Fenster, und wand sich einer steinernen Schlange gleich durch ein Wäldchen aus Bäumen mit schwarzer Rinde, aus deren tintenblauen Blättern jener Zaubertrank bereitet wurde, den die Qartheen Abendschatten nannten. Kein anderes Gebäude stand in der Nähe. Schwarze Ziegel bedeckten das Dach des Palastes, viele waren heruntergefallen oder zerbrochen; der Mörtel zwischen den Steinen bröckelte. Nun begriff sie, warum Xaro Xhoan Daxos ihn den Palast des Staubes genannt hatte. Sogar Drogon schien dieser Anblick zu beunruhigen. Der schwarze Drache zischte, und Rauch trat zwischen seinen scharfen Zähnen hervor.
»Blut von meinem Blute«, sagte Jhogo in Dothraki, »dies ist ein böser Ort, ein Hort der Geister und der Maegi. Siehst du, wie er die Morgensonne verschluckt? Lass uns gehen, bevor er auch uns verschluckt.«
Ser Jorah kam zu ihr. »Was für Macht können sie schon haben, wenn sie in so etwas leben?«
»Achtet die Weisheit jener, die Euch am meisten lieben«, sagte Xaro Xhoan Daxos, der im Palankin blieb. »Hexenmeister sind verbitterte Kreaturen, die Staub fressen und Schatten trinken. Sie werden Euch nichts geben. Sie haben nichts zu geben.«
Aggo legte die Hand auf sein Arakh. »Khaleesi, man sagt, viele gehen in den Palast des Staubes, doch nur wenige kommen wieder heraus.«
»So sagt man«, stimmte Jhogo zu.
»Wir sind Blut von deinem Blut«, sagte Aggo, »wir haben geschworen, mit dir zu leben oder zu sterben. Lass uns mit dir diesen finsteren Ort betreten, damit wir dich vor allen Gefahren beschützen können.«
»Es gibt manche Orte, an die selbst ein Khal ganz allein gehen muss«, erwiderte Dany.
»Nehmt wenigstens mich mit«, drängte Ser Jorah. »Das Risiko …«
»Königin Daenerys darf nur allein eintreten oder gar nicht.« Der Hexenmeister Pyat Pree kam unter den Bäumen hervor. War er schon die ganze Zeit dort?, fragte sich Dany. »Sollte sie jetzt umkehren, werden die Türen der Weisheit ihr für alle Zeiten verschlossen bleiben.«
»Meine Lustbarke wartet noch immer auf Euch«, rief Xaro Xhoan Daxos. »Lasst von diesem Unsinn ab, oh sturköpfigste aller Königinnen. Ich habe Flötenspieler, die Eure gepeinigte Seele mit ihrer süßen Musik trösten werden, und ein kleines Mädchen, dessen feine Stimme Euch dahinschmelzen lässt und Euch Seufzer entlockt.«
Ser Jorah Mormont warf dem Handelsherrn einen säuerlichen Blick zu. »Euer Gnaden, erinnert Euch an Mirri Maz Duur.«
»Das tue ich«, sagte Dany, plötzlich sehr entschieden. »Ich erinnere mich an ihr Wissen. Und sie war nur eine Maegi.«
Pyat Pree lächelte dünn. »Das Kind spricht so weise wie ein altes Weib. Nehmt meinen Arm, und lasst mich Euch führen. «
»Ich bin kein Kind.« Trotzdem nahm Dany den angebotenen Arm.
Unter den schwarzen Bäumen war es dunkler, als sie vermutet hatte, und der Weg war weiter. Obwohl der Pfad von der Straße zur Tür des Palastes geradeaus zu führen schien, bog Pyat Pree bald ab. Sie fragte ihn nach dem Grund, und der Hexenmeister antwortete: »Der vordere Eingang führt hinein, aber niemals wieder heraus. Achtet auf meine Worte, meine Königin. Das Haus der Unsterblichen wurde nicht für die Sterblichen erschaffen. Falls Ihr Eure Seele schätzt, passt gut auf und tut genau, was ich Euch sage.«
»Das werde ich tun«, versprach Dany.
»Sobald Ihr eintretet, werdet Ihr Euch in einem Raum mit vier Türen wiederfinden: die eine, durch die Ihr gekommen seid, und drei andere. Wählt die Tür zu Eurer Rechten. Wählt stets die Tür zu Eurer Rechten. Solltet Ihr zu einer Treppe kommen, steigt sie hinauf. Geht niemals abwärts und nehmt keine andere Tür außer der jeweils Ersten zu Eurer Rechten. «
»Die Tür zu meiner Rechten«, wiederholte Dany. »Ich verstehe. Und wenn ich hinausgehe, mache ich es dann umgekehrt? «
»Auf keinen Fall«, sagte Pyat Pree. »Kommen und Gehen muss man durch die gleichen Türen. Immer nach oben. Immer die Tür zu Eurer Rechten. Andere Türen werden sich vielleicht für Euch öffnen. Dahinter werdet Ihr Dinge sehen, die Euch beunruhigen. Visionen der Liebe, Visionen des Schreckens, Wunder und Gräuel. Klänge und Anblicke vergangener Tage und kommender Tage und Tage, die niemals Wirklichkeit werden. Bewohner und Diener werden Euch vielleicht ansprechen. Antwortet ihnen oder auch nicht, ganz wie Ihr wünscht, doch betretet keinen Raum, bis Ihr den Audienzsaal erreicht habt.«
»Ich verstehe.«
»Wenn Ihr im Saal der Unsterblichen angekommen seid, übt Euch in Geduld. Unsere kleinen Leben bedeuten ihnen kaum mehr als das Flattern einer Motte. Hört genau zu, schreibt Euch jedes Wort ins Herz.«
Als sie die Tür erreichten – ein hoher ovaler Mund in einer Wand, die dem Gesicht eines Menschen ähnelte –, wartete dort der kleinste Zwerg, den Dany je gesehen hatte. Er reichte ihr kaum bis zum Knie, sein Gesicht war spitz und verkniffen und wie eine Schnauze verzogen, doch er war in eine wunderschöne Livree aus Purpur und Blau gekleidet, und seine winzigen rosigen Hände hielten ein silbernes Tablett. Darauf stand ein schlankes Kristallglas, das mit einer zähen blauen Flüssigkeit gefüllt war: Abendschatten, der Wein der Hexenmeister. »Nehmt und trinkt«, drängte Pyat Pree.
»Werden meine Lippen davon blau werden?«
»Ein einziges Glas wird Euch nur die Ohren öffnen und den Schleier vor Euren Augen auflösen, damit Ihr die Wahrheiten, die vor Euch ausgebreitet werden, sehen und hören könnt.«
Dany setzte das Glas an die Lippen. Der erste Schluck schmeckte faulig, wie Tinte und verdorbenes Fleisch, doch nachdem sie geschluckt hatte, schien der Trunk in ihr zum Leben zu erwachen. Sie spürte, wie er sich Tentakeln gleich in ihrer Brust ausbreitete und mit Fingern aus Feuer ihr Herz umklammerte, und der Geschmack auf ihrer Zunge war wie Honig und Anis und Sahne, wie Muttermilch und Drogos Samen, wie rotes Fleisch und heißes Blut und geschmolzenes Gold. Es war wie jeder Geschmack, den sie je kennengelernt hatte, und gleichzeitig wie keiner von ihnen … und dann war das Glas leer.
»Jetzt dürft Ihr eintreten«, sagte der Hexenmeister. Dany stellte das Glas zurück auf das Tablett des Dieners und ging hinein.
Sie fand sich in einem steinernen Vorraum mit vier Türen wieder, jeweils eine an jeder Wand. Ohne zu zögern ging sie auf die rechte Tür zu und trat hindurch. Der zweite Raum war ein genaues Abbild des ersten. Abermals trat sie durch die rechte Tür. Als sie diese aufdrückte, stand sie erneut in einem Vorraum mit vier Türen. Ich bin mitten in einem Zauber.
Der vierte Raum war mehr oval als viereckig, und die Wände waren mit wurmstichigem Holz getäfelt. Sechs Gänge führten an Stelle von bisher vieren hinaus. Dany wählte den rechts von ihr und betrat einen langen, dunklen Gang mit hoher Decke. Entlang der rechten Wand brannten einige Fackeln und erzeugten ein rauchiges orangefarbenes Licht, doch die Türen waren alle auf der linken Seite. Drogon breitete die schwarzen Flügel aus und flatterte in die abgestandene Luft. Er flog sechs Meter weit, bis er mit einem unwürdigen Plumps auf dem Boden landete. Dany folgte ihm.
Der verschimmelte Teppich unter ihren Füßen musste einst in prächtigen Farben geleuchtet haben, und noch immer sah man zwischen dem ausgeblichenen Grau und dem fleckigen Grün Goldfäden in dem Stoff glitzern. Die Überreste dämpften ihre Schritte, doch das war nicht nur zu Danys Bestem, denn sie konnte Geräusche im Innern der Wände hören, leises Scharren und Krabbeln, das sie an Ratten erinnerte. Drogon bemerkte es ebenfalls. Sein Kopf folgte den Geräuschen, und als sie verklangen, stieß er einen wütenden Schrei aus. Andere, noch beunruhigendere Geräusche drangen durch die geschlossenen Türen. Eine davon bebte und polterte, als versuche jemand, sie aufzubrechen. Aus der Nächsten hörte man ein dissonantes Pfeifen, bei dem der Drache den Schwanz von einer Seite zur anderen schlug. Rasch eilte Dany vorbei.
Nicht alle Türen waren geschlossen. Ich werde nicht hinsehen, redete sie sich ein, doch die Versuchung war zu groß.
In einem Raum lag eine wunderschöne nackte Frau auf dem Boden und wurde von vier kleinen Männern bestiegen. Sie hatten rattenartige spitze Gesichter und winzige rosafarbene Hände wie der Diener, der ihr das Glas Abendschatten gebracht hatte. Einer mühte sich zwischen ihren Beinen ab. Ein zweiter misshandelte ihre Brüste und biss und saugte mit seinem feuchten roten Mund an den Warzen herum.
Ein Stück weiter sah sie einen Festschmaus von Leichen. Auf üble Weise hingemetzelt lagen die Gäste über umgestoßenen Stühlen und zerschlagenen Tischen oder in Lachen von geronnenem Blut. Manche hatten Glieder, einige sogar den Kopf eingebüßt. Abgetrennte Hände umklammerten Kelche, hölzerne Löffel, gebratene Hühner, Brotstücke. Auf einem Thron über der Szene saß ein toter Mann mit dem Kopf eines Wolfes. Er trug eine eiserne Krone und hielt in der einen Hand eine Lammkeule wie ein Zepter. Sein Blick folgte Dany mit stummem Flehen.
Sie floh vor ihm, doch nur bis zur nächsten Tür. Diesen Raum kenne ich, dachte sie. An diese großen Holzbalken und die geschnitzten Tiergesichter darin erinnerte sie sich. Und draußen vor dem Fenster wuchs ein Zitronenbaum! Der Anblick erfüllte ihr Herz mit Sehnsucht. Das ist das Haus mit der roten Tür, das Haus in Braavos. Gerade hatte sie es gedacht, da trat der alte Ser Willem ein und stützte sich schwer auf seinen Gehstock. »Meine kleine Prinzessin«, sagte er mit seiner knurrigen, freundlichen Stimme. »Kommt. Kommt zu mir, Mylady, Ihr seid zu Hause, in Sicherheit.« Seine große faltige Hand griff nach ihr, weich wie altes Leder, und Dany wollte sie nehmen und festhalten und küssen, sie wollte es mehr als alles andere je zuvor. Schon schob sie den Fuß vor, und dann schoss es ihr durch den Kopf: Er ist tot, er ist tot, der liebe alte Bär, er ist vor langer, langer Zeit gestorben. Sie wich zurück und rannte davon.
Der lange Gang führte sie weiter und weiter und weiter, endlos folgte Tür auf Tür auf der linken und Fackel auf Fackel auf der rechten Seite. Sie lief an mehr Türen vorbei, als sie zählen konnte, geschlossenen und offenen, Türen aus Holz und Türen aus Eisen, mit Schnitzwerk verzierten und glatten Türen, Türen mit Knauf und Türen mit Riegeln und Türen mit Klopfern. Drogon schlug auf ihren Rücken ein und drängte sie weiter, und Dany rannte, bis sie nicht mehr konnte.
Endlich erschien auf der linken Seite eine große Doppeltür aus Bronze, die viel größer war als alle bisherigen. Die beiden Flügel schwangen auf, als sie näher kam, und Dany blieb stehen und schaute hinein. Dahinter lag eine höhlenartige Steinhalle, die größte, die sie je gesehen hatte. Von den Wänden starrten sie die Schädel toter Drachen an. Auf einem hoch aufragenden Thron voller scharfer Spitzen saß ein alter Mann in prächtigen Gewändern mit dunklen Augen und langem silbergrauem Haar. »Soll er doch König über verkohlte Knochen und gekochtes Fleisch sein«, sagte er zu einem Mann, der unter ihm stand. »Soll er doch König der Asche sein.« Drogon kreischte, und seine Krallen bohrten sich durch Seide und Haut, doch der König auf dem Thron hörte nichts, und Dany ging weiter.
Viserys, war ihr erster Gedanke, als sie das nächste Mal stehen blieb, auf den zweiten Blick musste sie sich allerdings berichtigen. Der Mann hatte das gleiche Haar wie ihr Bruder, doch er war größer, und seine Augen waren eher dunkel indigofarben denn veilchenblau. »Aegon«, sagte er zu einer Frau, die ein Neugeborenes in einem großen Holzbett stillte. »Welcher Name wäre für einen König besser geeignet?«
»Wirst du ein Lied für ihn verfassen?«, fragte die Frau.
»Er hat schon ein Lied«, erwiderte der Mann. »Er ist der Prinz, der verheißen wurde, und sein ist das Lied von Eis und Feuer.« Er blickte auf, als er dies sagte, und sein Blick traf Danys, und es schien, als könnte er sie dort jenseits der Tür stehen sehen. »Es fehlt noch einer«, fuhr er fort, und ob er zu ihr sprach oder zu der Frau in dem Bett, vermochte sie nicht zu sagen. »Der Drache hat drei Köpfe.« Er ging zum Fenster, nahm eine Harfe und strich mit den Fingern sanft über die silbernen Saiten. Süße Traurigkeit erfüllte den Raum, derweil Mann und Frau und Säugling sich wie Morgennebel auflösten, nur die Musik blieb, während Dany eilig ihren Weg fortsetzte.
Ihr schien es, dass sie eine weitere Stunde gegangen war, ehe der lange Gang schließlich an einer steilen Steintreppe endete, deren Stufen nach unten in die Dunkelheit führten. Jede Tür, ob offen oder geschlossen, hatte sich auf der linken Seite befunden. Dany blickte hinter sich zurück. Die Fackeln erloschen, bemerkte sie erschrocken. Vielleicht zwanzig, höchstens dreißig brannten noch. Eine Flamme erstarb gerade flackernd, während Dany zusah, und die Finsternis kroch wieder ein wenig weiter durch die Halle auf sie zu. Und während sie lauschte, war ihr, als hörte sie noch etwas anderes näher kommen, etwas, das sich schlurfend und schwerfällig über den alten Teppich schleppte. Angst erfüllte sie. Sie konnte nicht zurück, sie fürchtete sich hierzubleiben, doch wohin sollte sie gehen? Zu ihrer Rechten gab es keine Tür, und die Treppe führte nach unten, nicht nach oben.
Und schon erlosch die nächste Fackel, während sie nachdachte, und die unheimlichen Geräusche wurden ein wenig lauter. Drogon streckte den Hals, schrie, und Dampf trat zwischen seinen Zähnen hervor. Er hört es ebenfalls. Dany wandte sich der kahlen Wand zu. Gibt es vielleicht eine Geheimtür, eine Tür, die ich nicht sehen kann? Die nächste Fackel ging aus. Und wieder eine. Die erste Tür auf der rechten Seite, hatte er gesagt, immer nur die erste Tür auf der rechten Seite. Die erste Tür auf der rechten Seite …
Plötzlich dämmerte es ihr. … ist die letzte Tür auf der Linken!
Sie eilte hindurch und betrat einen weiteren Raum mit vier Türen. Sie wählte die rechte und wieder die rechte und erneut die rechte, ging durch die rechte, durch die rechte, durch die rechte, immer durch die rechte, bis ihr schwindlig wurde und sie keine Luft mehr bekam.
Als sie stehen blieb, befand sie sich abermals in einer feuchten Steinkammer … nur diesmal war die Tür ihr gegenüber rund und geformt wie ein offener Mund, und Pyat Pree stand draußen im Gras unter den Bäumen. »Sind die Unsterblichen schon mit Euch fertig?«, fragte er ungläubig.
»Schon?«, fragte sie verwirrt zurück. »Ich bin stundenlang gelaufen und habe sie immer noch nicht gefunden.«
»Dann seid Ihr falsch abgebogen. Kommt, ich werde Euch führen.« Pyat Pree hielt ihr die Hand hin.
Dany zögerte. Zu ihrer Rechten war eine geschlossene Tür …
»Dort geht es nicht entlang«, sagte Pyat Pree drängend und verzog die blauen Lippen missbilligend. »Die Unsterblichen werden nicht ewig warten.«
»Unsere kleinen Leben bedeuten ihnen nicht mehr als das Flackern einer Motte«, erinnerte ihn Dany.
»Starrsinniges Kind. Ihr werdet Euch verirren und nie wieder herausfinden.«
Sie schritt auf die Tür zu ihrer Rechten zu.
»Nein«, schrie Pyat. »Nein, zu mir, kommt zu mir, zu miiiiir. « Sein Gesicht fiel in sich zusammen und verwandelte sich in etwas Bleiches und Wurmartiges.
Dany ließ ihn hinter sich zurück, betrat ein Treppenhaus, und stieg die Stufen hinauf. Schon bald schmerzten ihre Beine. Sie erinnerte sich daran, dass das Haus der Unsterblichen von außen keine Türme gehabt zu haben schien.
Endlich erreichte sie die letzte Stufe. Rechts von ihr stand eine breite, zweiflügelige Holztür offen. Sie war aus Ebenholz und Wehrholz, und die schwarze und weiße Maserung war zu eigenartigen, verwobenen Mustern verschlungen. Sehr hübsch, und doch irgendwie beängstigend. Das Blut des Drachen fürchtet sich nicht. Dany sprach ein kurzes Gebet und bat den Krieger um Mut und den Pferdegott der Dothraki um Kraft. Dann schritt sie voran.
Hinter der Tür befand sich eine große Halle voller prachtvoller Zauberer. Manche trugen Roben aus Hermelin, rubinfarbenem Samt oder Goldtuch. Andere hatten erlesene, mit Edelsteinen verzierte Rüstungen angelegt oder hohe spitze, mit Sternen besetzte Hüte aufgesetzt. Auch Frauen befanden sich unter ihnen, die Kleider von unglaublichem Liebreiz trugen. Sonnenstrahlen fielen durch Buntglasfenster herein, und der ganze Raum hallte von der wunderschönsten Musik wider, die sie je gehört hatte.
Ein königlicher Mann in edlen Gewändern erhob sich, als er sie bemerkte, und lächelte. »Daenerys aus dem Hause Targaryen, seid willkommen. Kommt und teilt mit uns die Speise der Ewigkeit. Wir sind die Unsterblichen von Qarth.«
»Lange haben wir Euch schon erwartet«, sagte die Frau neben ihm, die in Rosa und Silber gewandet war. Die eine Brust, die sie nach Art der Qartheen entblößt hatte, war so vollkommen, wie man es sich nur vorzustellen vermochte.
»Wir wussten, dass Ihr zu uns kommen würdet«, fuhr der Zaubererkönig fort. »Schon vor tausend Jahren wussten wir es, und seitdem warten wir auf Euch. Wir haben einen Kometen geschickt, der Euch den Weg weisen sollte.«
»Wir möchten unser Wissen mit Euch teilen«, sagte ein Krieger in glänzender smaragdfarbener Rüstung, »und Euch mit magischen Waffen ausrüsten. Ihr habt alle Prüfungen bestanden. Jetzt setzt Euch zu uns, und jede Eurer Fragen soll beantwortet werden.«
Sie trat einen Schritt vor. Doch dann sprang Drogon von ihrer Schulter, flog auf die Tür aus Ebenholz und Wehrholz, hockte sich dort nieder und begann in das geschnitzte Holz zu beißen.
»Ein eigenwilliges Tier«, sagte ein stattlicher junger Mann lachend. »Sollen wir Euch die geheime Sprache der Drachen lehren? Kommt, kommt.«
Zweifel erfüllte sie. Die große Tür war so schwer, dass Dany ihre ganze Kraft aufbringen musste, um sie zu bewegen, doch schließlich schwang sie langsam zurück. Dahinter befand sich eine weitere verborgene Tür. Sie war aus grauem altem Holz, gesprungen und von einfacher Machart … doch sie befand sich rechts von der Tür, durch die sie eingetreten war. Die Zauberer lockten sie mit Stimmen, die süßer waren als jedes Lied. Sie rannte von ihnen fort, und Drogon flog zu ihr zurück. Durch die kleine Tür betrat sie eine Kammer, die von Dunkelheit erfüllt war.
Ein langer Steintisch füllte den Raum aus. Darüber schwebte ein menschliches Herz, aufgedunsen und schwarz vor Verwesung, und trotzdem noch immer am Leben. Es schlug in schwerem Rhythmus und mit donnerndem Klang, und bei jedem Pulsen leuchtete es indigofarben auf. Die Gestalten um den Tisch herum nahm sie nur als blaue Schemen wahr. Als Dany zu dem leeren Stuhl an der vorderen Stirnseite des Tisches trat, rührten sie sich nicht, sprachen nicht und wandten sich ihr nicht zu. Außer dem tiefen, langsamen Schlag des verrottenden Herzens war kein Laut zu hören.
… Mutter der Drachen … sagte eine Stimme, halb Flüstern, halb Stöhnen … Drachen … Drachen … Drachen … wiederholten andere Stimmen in der Dunkelheit. Einige gehörten Männern, andere Frauen. Eine sprach im Tonfall eines Kindes. Das schwebende Herz pulsierte von Dämmerlicht zu Dunkelheit. Es war schwer, den Mut zum Sprechen aufzubringen, sich an die Worte zu erinnern, die sie sich so gewissenhaft eingeprägt hatte. »Ich bin Daenerys Sturmtochter aus dem Haus Targaryen, Königin der Sieben Königslande von Westeros.« Hören sie mich? Warum rühren sie sich nicht? Sie saß da und faltete die Hände im Schoß. »Gewährt mir Euren Rat und sprecht zu mir mit der Weisheit jener, die den Tod besiegt haben.«
In dem indigofarbenen Dämmerlicht konnte sie die runzligen Züge des Unsterblichen zu ihrer Rechten erkennen, eines alten, alten Mannes voller Falten und ohne Haare. Seine Haut war ein tiefes Veilchenblau, seine Lippen und seine Nägel waren sogar noch blauer, so dunkel, dass es fast schon an Schwarz grenzte. Sogar das Weiß seiner Augen war blau. Starr und blind waren diese auf die uralte Frau ihm gegenüber auf der anderen Seite des Tisches gerichtet, deren helles Seidenkleid ihr am Leibe vermoderte. Eine verwelkte Brust war nach Art der Qartheen nackt, und die spitze blaue Warze war hart wie Leder.
Sie atmet nicht. Dany lauschte in die Stille hinein. Keiner von ihnen atmet, sie bewegen sich nicht und ihre Augen sehen nichts. Sind die Unsterblichen vielleicht tot?
Ihre Antwort bestand aus einem Flüstern, dünn wie die Schnurrhaare einer Maus. … Wir leben … leben … leben … Myriaden von Stimmen wisperten ein Echo … und wissen … wissen … wissen …
»Ich bin zu Euch gekommen, um die Gabe der Wahrheit zu erhalten«, sagte Dany. »Die Dinge, die ich in dem langen Gang gesehen habe … Waren das Visionen oder Lügen? Vergangene Ereignisse oder das Geschehen der Zukunft? Was haben sie zu bedeuten?«
… die Schemen der Schatten … die Morgen, die noch nicht gekommen sind … trinke vom Becher des Eises … trinke vom Becher des Feuers … Mutter der Drachen … Kind der Drei …
»Drei?« Sie verstand nicht.
… drei Köpfe hat der Drache … Der Geisterchor ertönte in ihrem Kopf, obwohl niemand die Lippen und kein Atemhauch die stille blaue Luft bewegte … Mutter der Drachen … Kind des Sturms … Das Flüstern wurde zu einem wilden Lied … drei Feuer musst du entfachen … eins für das Leben und eins für den Tod und eins für die Liebe … Ihr eigenes Herz schlug nun im Gleichklang mit dem, welches blau und verfault vor ihr schwebte … drei Hengste musst du reiten … einen zum Bett und einen zur Angst und einen zur Liebe … Die Stimmen wurden lauter, bemerkte sie, und ihr Herz schien langsamer zu schlagen, sogar ihr Atem verlangsamte sich … dreifachen Verrat wirst du erleben … einen um des Blutes willen und einen um des Goldes willen und einen um der Liebe willen …
»Ich …« Ihre Stimme kam kaum über ein Flüstern hinaus, war beinahe so leise wie ihre Stimmen. Was geschah ihr hier? »Ich verstehe nicht«, sagte sie etwas lauter. Warum fiel es ihr so schwer, an diesem Ort zu sprechen? »Helft mir. Zeigt es mir.«
… ihr helfen … Die Stimmen verspotteten sie … es ihr zeigen …
Dann schimmerten Phantome im Dämmerlicht, indigofarbene Bilder. Viserys schrie, während ihm geschmolzenes Gold über die Wangen lief und seinen Mund füllte. Ein großer Lord mit kupferfarbener Haut und silbergoldenem Haar stand unter einem Banner mit einem feurigen Hengst, im Hintergrund sah man eine brennende Stadt. Rubine spritzten wie Blutstropfen von der Brust eines sterbenden Prinzen, er sank im Wasser auf die Knie und murmelte mit seinem letzten Atemzug den Namen einer Frau … Mutter der Drachen, Tochter des Todes … Ein blauäugiger König, der keinen Schatten warf, hob ein rotes Schwert, das wie der Sonnenuntergang glühte. Ein Stoffdrache schwankte auf Stangen über einer jubelnden Menge. Von einem rauchenden Turm warf sich eine steinerne geflügelte Bestie in die Luft und schnaubte Schattenfeuer … Mutter der Drachen, Tod der Lügen … Ihre Silberne trabte durchs Gras zu einem dunklen Bach unter einem Meer von Sternen. Ein Leichnam stand am Bug eines Schiffes, die Augen leuchteten im toten Gesicht, die grauen Lippen waren zu einem traurigen Lächeln verzogen. Eine blaue Blume wuchs aus einem Spalt in einer Mauer aus Eis und erfüllte die Luft mit ihrem süßen Duft … Mutter der Drachen, Braut des Feuers …
Rascher und rascher wechselten die Visionen, eine nach der anderen, bis die Luft selbst zum Leben zu erwachen schien. Knochenlose, entsetzliche Schatten wirbelten umher und tanzten in einem Zelt. Ein kleines Mädchen rannte barfuß auf ein großes Haus mit einer roten Tür zu. Mirri Maz Duur kreischte in den Flammen, ein Drache brach aus ihrer Stirn hervor. Hinter einem silbernen Pferd wurde die blutige nackte Leiche eines Mannes über den Boden geschleift. Ein weißer Löwe lief durch übermannshohes Gras. Am Fuße der Mutter der Berge kroch eine Reihe nackter alter Weiber aus einem großen See und sie alle knieten zitternd mit gesenkten grauen Köpfen vor ihr nieder. Zehntausend Sklaven reckten die blutbefleckten Hände in die Höhe, während sie auf ihrer Silbernen wie der Wind vorbeipreschte. »Mutter!«, riefen sie. »Mutter, Mutter!« Sie streckten die Hände nach ihr aus, berührten sie, zerrten an ihrem Mantel, am Saum ihres Rocks, ihrem Fuß, ihrem Bein, ihrer Brust. Sie begehrten sie, brauchten sie und das Feuer und das Leben, und Dany keuchte und breitete die Arme aus und gab sich ihnen hin …
Doch dann schlugen ihr schwarze Flügel um den Kopf und ein Wutschrei gellte durch die indigoblaue Luft; und plötzlich waren die Visionen verschwunden, wie abgeschnitten, und Danys Keuchen verwandelte sich in Entsetzen. Die Unsterblichen standen blau und kalt um sie herum; sie wisperten, während sie die Hände nach ihr ausstreckten, zogen und zerrten an ihren Kleidern, berührten sie mit ihren trockenen kalten Händen, strichen ihr mit den Fingern durchs Haar. Alle Kraft hatte Danys Glieder verlassen. Sie konnte sich nicht bewegen. Sogar ihr Herz hatte aufgehört zu schlagen. Sie spürte eine Hand auf ihrer nackten Brust, die ihre Brustwarze verdrehte. Zähne bissen in die weiche Haut an ihrem Hals. Ein Mund senkte sich leckend, saugend, beißend über ein Auge …
Dann verwandelte sich das Indigoblau in Orange, und das Wispern wurde zu Schreien. Ihr Herz schlug, klopfte, die Hände und Münder waren nicht mehr da, Hitze umflutete ihren Körper, und Dany blinzelte in das plötzliche Licht. Über ihr hockte der Drache mit ausgebreiteten Flügeln auf dem schrecklichen, dunklen Herz und zerfetzte das verrottete Fleisch, und wenn sein Kopf nach vorn fuhr, entströmte seinem offenen Maul helles, heißes Feuer. Sie konnte die Schreie der verbrennenden Unsterblichen hören, ihre hohen, papiernen Stimmen, die in schon lange toten Sprachen heulten. Ihr Fleisch war wie zerbröselndes Pergament, ihre Knochen wie trockenes Holz, das man in Talg getaucht hatte. Sie tanzten, während sie von den Flammen verschlungen wurden; sie drehten und wanden sich und taumelten und reckten die brennenden Hände in die Höhe, und ihre Finger loderten hell wie Fackeln.
Dany sprang auf und drängte sich zwischen ihnen hindurch. Sie waren leicht wie Luft, bloße Hüllen, und sie fielen, wenn man sie nur berührte. Als sie die Tür erreichte, stand bereits der ganze Raum in Flammen. »Drogon«, rief sie, und durch das Feuer flog der Drache zu ihr.
Draußen erstreckte sich ein langer, düsterer Gang gewunden vor ihr und wurde nur von dem flackernden orangefarbenen Schein hinter ihr erhellt. Dany rannte, suchte nach einer Tür, nach einer Tür zur Rechten oder zur Linken, Hauptsache eine Tür, doch da gab es nichts, nur gewundene Steinwände und einen Boden, der unter ihren Füßen zu schwanken schien, als wollte er sie zum Stolpern bringen. Doch sie hielt das Gleichgewicht und rannte schneller, und dann war da plötzlich eine Tür vor ihr, eine Tür wie ein offener Mund.
Als sie in die Sonne hinaustrat, strauchelte sie wegen des hellen Lichts. Pyat Pree schnatterte etwas in einer ihr unbekannten Sprache und hüpfte von einem Bein aufs andere. Als Dany sich umblickte, sah sie dünne Rauchfäden, die aus den Rissen in den uralten Steinmauern und zwischen den schwarzen Dachziegeln des Palastes des Staubs hervortraten.
Pyat Pree heulte und fluchte, zog ein Messer und sprang auf sie zu, doch Drogon flog ihm ins Gesicht. Dann hörte sie das Knallen von Jhogos Peitsche, und nie hatte etwas in ihren Ohren so süß geklungen. Das Messer wirbelte durch die Luft, und einen Moment später warf Rakharo Pyat zu Boden. Ser Jorah Mormont kniete neben Dany im kühlen grünen Gras und legte ihr den Arm um die Schultern.