Tuppence fielen ihre neuen Aufgaben nicht allzu schwer. Die Töchter des Pfarrers hatten zu Hause alle Hausarbeiten gründlich gelernt. Sie brauchte also nicht zu befürchten, der Arbeit nicht gewachsen zu sein. Aber die Köchin war ihr ein Rätsel. Offensichtlich lebte sie in entsetzlicher Angst vor ihrer Gnädigen und Tuppence hielt es für durchaus möglich, dass Mrs Vandemeyer sie auf irgendeine Weise in der Hand hatte. Im Übrigen – das konnte Tuppence noch an diesem Abend feststellen – kochte sie wie ein großer Küchenchef. Mrs Vandemeyer erwartete zum Essen einen Gast und Tuppence hatte für zwei Personen gedeckt.
Einige Minuten nach acht klingelte es und Tuppence ging etwas aufgeregt zur Tür. Sie fühlte sich erleichtert, als sie sah, dass der Besucher der eine der beiden Männer war, denen Tommy gefolgt war.
Er nannte sich Graf Steppanow. Tuppence meldete ihn und Mrs Vandemeyer erhob sich mit einem leisen Ausruf der Freude von der niedrigen Couch, auf der sie gesessen hatte.
«Wie schön, Sie wiederzusehen, Boris Iwanowitsch!»
«Gnädige Frau!» Er beugte sich tief über ihre Hand.
Tuppence kehrte in die Küche zurück. «Graf Steppanow oder so ähnlich», erklärte sie und zeigte nun eine in ihrer Rolle ganz natürliche Neugier: «Wer ist denn das?»
«Wohl ein Russe.»
«Kommt er oft her?»
«Ab und zu. Warum wollen Sie denn das wissen?»
«Ich dachte nur – ob er vielleicht unserer Gnädigen den Hof macht?», erklärte Tuppence und fügte ein wenig mürrisch hinzu: «Das ist doch schließlich interessant.»
«Ach was», sagte die Köchin, «mein Souffle macht mir Sorgen.»
Während Tuppence bei Tisch servierte, horchte sie auf jedes Wort. Sie dachte daran, dass der Graf ja einer der Männer war, denen Tommy gefolgt war, als sie ihn das letzte Mal gesehen hatte. Sie spürte, obwohl sie es sich nicht eingestand, einige Unruhe darüber, dass sie nichts von Tommy hörte. Wo war er nur? Bevor sie das Ritz verließ, hatte sie gebeten, ihr alle Post sogleich durch Eilboten in ein in der Nähe gelegenes Schreibwarengeschäft zu schicken, in das Albert des Öfteren ging. Gewiss, erst gestern Vormittag hatte sie sich von Tommy getrennt und sie sagte sich, dass es töricht sei, sich jetzt schon Sorgen um ihn zu machen. Immerhin war es sonderbar, dass sie keine Nachricht von ihm hatte.
So aufmerksam sie auch lauschte, die Unterhaltung gab ihr nicht die geringsten Anhaltspunkte. Boris und Mrs Vandemeyer unterhielten sich über völlig gleichgültige Dinge. Nach dem Essen zogen sie sich in den kleinen Salon zurück, wo sich Mrs Vandemeyer auf der Couch ausstreckte. Sie sah schöner und gefährlicher aus denn je. Tuppence brachte Kaffee und Kognak und zog sich nur widerstrebend zurück. Während sie hinausging, hörte sie Boris sagen: «Sie ist neu, nicht wahr?»
«Sie ist heute gekommen. Die andere war ekelhaft. Aber die scheint ganz ordentlich zu sein.»
Tuppence verweilte noch einen Augenblick länger an der Tür, die sie nicht ganz geschlossen hatte, und hörte ihn sagen: «Sie ist doch wohl ungefährlich?»
«Wirklich, Boris, Sie übertreiben. Ich glaube, sie ist eine Bekannte des Liftboys. Im Übrigen ahnt niemand auch nur das Geringste davon, dass ich zu unserem gemeinsamen Freund, Mr Brown, Beziehungen unterhalte.»
«Um Gottes willen, Rita, seien Sie vorsichtig! Die Tür ist ja nicht einmal zu.»
«Na gut, dann schließen Sie sie doch», rief sie.
In aller Eile zog sich Tuppence zurück.
Sie wagte nicht, allzu lange der Küche fernzubleiben, aber sie räumte auf und spülte das Geschirr mit einer Geschwindigkeit, die sie ihrem Aufenthalt im Lazarett verdankte. Dann schlich sie wieder zur Tür des kleinen Salons.
Aber leider ging die Unterhaltung so leise vor sich, dass auch nicht ein Wort zu hören war. Sie hätte viel darum gegeben zu Wissen, wovon die Rede war. Hatte sich wirklich etwas Unvorhergesehenes ereignet, war es ja immerhin möglich, dass sie eine Nachricht über Tommy aufschnappte… Sie dachte einige Augenblicke angestrengt nach und dann hellte sich ihr Gesicht auf. Schnell ging sie über den Gang in Mrs Vandemeyers Schlafzimmer, das Fenstertüren besaß. Sie führten auf einen Balkon, der an der ganzen Wohnung entlanglief. Sie trat rasch hinaus und schlich lautlos bis zu dem Fenster des kleinen Salons. Es stand, wie sie angenommen hatte, ein wenig offen und die Stimmen waren deutlich zu hören.
«Sie werden uns mit Ihrem dauernden Leichtsinn noch alle ruinieren», rief Boris gerade.
«Im Gegenteil!», entgegnete lachend die Frau. «Wenn man nur in der richtigen Weise in aller Munde ist, so ist das das beste Mittel, jedem Verdacht die Spitze abzubrechen.»
«Und in der Zwischenzeit lassen Sie sich überall mit Peel Edgerton sehen! Er ist nicht nur der vielleicht berühmteste aller Kronanwälte in England, sondern sein besonderes Steckenpferd ist auch noch die Kriminologie! Das ist doch Wahnsinn!»
«Ich weiß sehr wohl, dass sein Können ungezählte Menschen vor dem Galgen bewahrt hat. Na und?»
Boris erhob sich und begann auf und ab zu gehen. «Sie sind eine kluge Frau, Rita, aber Sie sind zu kühn. Folgen Sie meinem Rat und geben Sie Edgerton auf.»
«Ich denke nicht daran.»
«Sie lehnen es ab?» In der Stimme des Russen klang ein gefährlicher Unterton auf.
«Selbstverständlich.»
«Dann werden wir uns sehr genau überlegen müssen, was weiter wird», stieß der Russe hervor.
Mrs Vandemeyer hatte sich ebenfalls erhoben; ihre Augen funkelten. «Sie vergessen eines, Boris. Ich bin niemandem Rechenschaft schuldig. Ich nehme meine Befehle nur von Mr Brown entgegen.»
«Sie sind unmöglich. Es kann jetzt schon zu spät sein. Man sagt, dass Edgerton eine Nase für Verbrecher habe. Was wissen wir denn, warum er sich plötzlich so für Sie interessiert? Vielleicht ist sein Argwohn schon längst geweckt?»
«Sie können ganz sicher sein, mein lieber Boris, er argwöhnt überhaupt nichts. Sie scheinen, obwohl Sie doch sonst ein Kavalier sind, völlig zu vergessen, dass man mich im Allgemeinen für eine schöne Frau hält.»
Boris schüttelte zweifelnd den Kopf. «Er hat sich wie kaum ein anderer Mensch in England mit Verbrechen befasst. Bilden Sie sich ein, Sie könnten ihn täuschen?»
«Wenn er wirklich das ist, wofür Sie ihn halten, würde es mir geradezu Spaß machen, es zu versuchen.»
«Um Gottes willen, Rita…»
«Im Übrigen ist er außerordentlich reich. Ich gehöre nicht zu den Leuten, die Geld verachten.»
«Geld – Geld! Das ist die Gefahr bei Ihnen, Rita, ich glaube, für Geld würden Sie Ihre Seele verkaufen.» Er fuhr dann mit leiser, rauer Stimme fort: «Manchmal glaube ich fast, Sie würden auch uns verkaufen.»
Mrs Vandemeyer zuckte mit den Schultern. «Da müsste der Preis sehr hoch sein. Nur ein Millionär wäre in der Lage –»
«Sehen Sie!»
«Mein lieber Boris, verstehen Sie keine Scherze mehr?»
«Meine liebe Rita, Ihre Scherze sind etwas sonderbar.» Mrs Vandemeyer lächelte. «Streiten wir uns doch nicht, Boris. Klingeln Sie lieber. Wir wollen uns etwas zu trinken bringen lassen.»
In aller Eile erschien Tuppence im Salon und spielte wieder die Rolle des Stubenmädchens.
Aus der Unterhaltung, die sie mit angehört hatte, ging also hervor, dass es zwischen Rita und Boris eine geheimnisvolle Verbindung gab… Doch ließ sich aus ihr nicht auf ihr gegenwärtiges Treiben schließen. Und Jane Finns Name war nicht gefallen.
Am folgenden Morgen erfuhr sie durch ein paar kurze Worte, die sie mit Albert tauschte, dass im Schreibwarengeschäft keine Post für sie läge. Unglaublich, dass Tommy nichts von sich hören ließ! Es war ihr, als schlösse sich eine kalte Hand um ihr Herz. Angenommen… Es nützte nichts, sich Sorgen zu machen. Aber sie nahm eine Gelegenheit wahr, die Mrs Vandemeyer ihr bot.
«An welchem Tag gehen Sie für gewöhnlich aus, Prudence?»
«Für gewöhnlich am Freitag, gnädige Frau.»
Mrs Vandemeyer zog die Augenbrauen hoch. «Und heute ist Freitag. Ich nehme an, dass Sie wohl kaum den Wunsch haben, heute auszugehen, da Sie ja erst gestern gekommen sind.»
«Ich hatte Sie darum bitten wollen, gnädige Frau.»
Mrs Vandemeyer lächelte. «Jetzt müsste Graf Steppanow Sie hören. Er hat gestern Abend eine Bemerkung über Sie gemacht.» Ihr Lächeln wurde noch freundlicher, obwohl etwas Katzenhaftes in ihrem Benehmen lag. «Ihre Bitte ist nämlich sehr – sagen wir typisch. Und ich bin zufrieden. Sie können das alles natürlich nicht verstehen – aber ausgehen dürfen Sie heute. Mir ist es gleich, da ich ohnehin heute Abend nicht zu Hause bin.»
«Ich danke Ihnen, gnädige Frau.»
Als Tuppence noch das Silber polierte, wurde sie durch das Klingeln an der Wohnungstür gestört. Dieses Mal war der Besucher weder Whittington noch Boris, sondern ein Mann, der außerordentlich gut aussah.
Obwohl er nicht groß war, wirkte er so. Sein glatt rasiertes Gesicht mit den lebhaften Zügen verriet Energie. Auch schien von ihm eine besondere Anziehungskraft auszugehen. Er nannte seinen Namen: Sir James Peel Edgerton.
Sie betrachtete ihn mit erneutem Interesse. Dies war also der berühmte Kronanwalt. Sie hatte einmal gehört, er könnte sehr wohl eines Tages Premierminister werden.
Tuppence kehrte nachdenklich zur Anrichte zurück. Peel Edgerton schien nicht der Mann, den man leicht hinterging.
Nach etwa einer Viertelstunde klingelte es und Tuppence ging in die Diele, um den Besucher hinauszulassen. Er hatte sie schon zuvor scharf angesehen. Als sie ihm nun Hut und Stock reichte, wurde sie sich wieder seines forschenden Blickes bewusst.
«Sie sind noch nicht lange Zimmermädchen, nicht wahr?»
Erstaunt blickte Tuppence ihn an.
Er nickte, als hätte sie geantwortet. «Beim Weiblichen Hilfsdienst gewesen, nicht wahr? Und jetzt in Schwierigkeiten?»
«Hat Mrs Vandemeyer es Ihnen erzählt?»
«Nein, mein Kind, das habe ich Ihnen angesehen. Ist es eine gute Stelle hier?»
«Sehr gut, danke, Sir.»
«Ja, aber es gibt heutzutage viele gute Stellen. Und manchmal schadet ein Wechsel nichts.»
«Wollen Sie damit sagen…?»
Aber Sir James stand schon auf der obersten Stufe. Sie fühlte wieder seinen klugen Blick auf sich ruhen.
«Nur ein kleiner Hinweis», sagte er und ging.