24

Sie kamen gerade in dem Augenblick auf den Bahnsteig gestürzt, als der Zug anhielt. Tuppence riss die Tür eines Abteils erster Klasse auf und die beiden Mädchen sanken atemlos auf die Polster nieder.

Ein Mann blickte hinein und ging dann zum nächsten Wagen weiter. Nervös war Jane aufgefahren. «Glaubst du, dass es einer von ihnen ist?», stieß sie hervor.

Tuppence schüttelte den Kopf. «Nein!» Sie nahm Janes Hand. «Tommy hätte nicht behauptet, wir seien in Sicherheit, wenn er seiner Sache nicht völlig sicher wäre.»

«Aber er kennt sie nicht so wie ich!» Das Mädchen erschauerte. «Fünf Jahre. Fünf lange Jahre! Manchmal glaubte ich, ich würde verrückt.»

«Vergiss es. Es ist ja jetzt vorbei!»

«Wirklich?»

Der Zug war angefahren und brauste mit immer höherer Geschwindigkeit durch die Nacht. Plötzlich fuhr Jane Finn auf. «Was war das? Ich habe ein Gesicht gesehen – an unserm Fenster.»

«Aber nein, da ist doch nichts. Sieh mal.» Tuppence war ans Fenster getreten und ließ es herab.

Jane schien das Gefühl zu haben, dass eine Erklärung notwendig sei. «Ich benehme mich wohl wie ein erschrecktes Kaninchen, aber ich kann nicht anders. Wenn sie mich jetzt kriegen, würden sie…»

«Lehn dich zurück und denk nicht mehr an sie», flehte Tuppence. «Du kannst dich darauf verlassen, dass Tommy uns auf den richtigen Weg geschickt hat.»

«Mein Vetter war aber ganz anderer Meinung.»

«Stimmt», erwiderte Tuppence ein wenig verlegen.

«Woran denkst du?», fragte Jane scharf.

«Warum?»

«Deine Stimme klang so seltsam!»

«Ich dachte tatsächlich an etwas», sagte Tuppence. «Aber ich möchte es dir nicht sagen – noch nicht. Es ist nur so ein Gedanke, der mir schon vor langer Zeit einmal gekommen ist. Tommy denkt wohl dasselbe – jedenfalls glaube ich es mit ziemlicher Sicherheit. Ruh dich jetzt aus und denk möglichst an gar nichts!»

«Ich will es versuchen.»

Tuppence saß aufrecht da – die Haltung eines wachsamen Terriers. Obwohl sie sich dagegen wehrte, war sie nervös. Ihre Augen wechselten ständig von einem Fenster zum anderen. Sie merkte sich die Lage der Notbremse. Was sie eigentlich befürchtete, hätte sie kaum zu sagen gewusst. Aber in ihren Gedanken war sie weit von der Zuversicht entfernt, die ihre Worte vortäuschten. Nicht dass sie Tommy nicht glaubte, doch es kamen ihr immer wieder Zweifel, ob ein so aufrechter und anständiger Mensch wie er jemals der Gewandtheit und Entschlossenheit ihres Gegners gewachsen sein könnte.

Als der Zug schließlich auf dem Bahnhof Charing Cross einlief, fuhr Jane Finn jäh auf. «Sind wir da? Ich dachte, wir würden niemals ankommen.»

«Ach, ich glaubte schon, dass wir es bis London schaffen würden. Sollte es irgendwelche Schwierigkeiten geben, so wäre dies der Augenblick, in dem wir sie erwarten müssten. Schnell, steig aus. Wir springen in ein Taxi.»

Einen Augenblick später verließen sie den Bahnsteig, bezahlten den Fahrpreis nach und stiegen in ein Taxi.

«King’s Cross», rief Tuppence. Dann fuhr sie zusammen. Ein Mann blickte zum Fenster hinein, gerade als der Wagen anfuhr. Sie war beinahe sicher, dass es der gleiche Mann war, der in den nächsten Wagen hinter ihnen gestiegen war. Sie hatte das entsetzliche Gefühl, von allen Seiten eingekreist zu werden.

«Verstehst du», erklärte sie Jane, «wir locken sie so auf eine falsche Fährte. Nun werden sie annehmen, dass wir zu Mr Carter fahren. Sein Landhaus liegt irgendwo nördlich von London.»

Als sie durch Holborn fuhren, gerieten sie in eine Verkehrsstockung. Darauf hatte Tuppence gewartet. «Schnell», flüsterte sie. «Offne die rechte Tür!»

Die beiden Mädchen standen mitten im Verkehr. Zwei Minuten später saßen sie in einem anderen Taxi und fuhren in umgekehrter Richtung, dieses Mal direkt zur Carlton House Terrace.

«Damit sollten wir ihnen eins ausgewischt haben», sagte Tuppence mit großer Befriedigung. «Ich kann mir nicht helfen, aber ich finde mich wirklich sehr tüchtig. Der andere Taxifahrer wird ja toben! Aber ich habe mir seine Nummer aufgeschrieben und morgen schicke ich ihm das Geld durch die Post, um ihn nicht zu prellen. Was schlingert denn der Wagen so – oh!» Ein schepperndes Geräusch und ein dumpfer Schlag. Ein anderes Taxi war mit ihnen zusammengestoßen.

Im nächsten Augenblick stand Tuppence auf dem Bürgersteig. Ein Polizist näherte sich. Bevor er noch da war, hatte Tuppence dem Fahrer fünf Shilling gegeben und sie und Jane tauchten in der Menge unter.

«Nun sind es nur noch ein paar Schritte», sagte Tuppence atemlos.

«Glaubst du, dass dieser Zusammenstoß zufällig oder beabsichtigt war?»

«Ich weiß es nicht. Beides ist möglich.»

Rasch eilten die beiden Mädchen weiter.

«Vielleicht bilde ich mir es nur ein», sagte Tuppence plötzlich, «aber ich habe das Gefühl, als ob jemand hinter uns her wäre.»

«Beeilen wir uns!», murmelte die andere. «Oh, nur schnell!»

Sie waren nun an der Ecke von Carlton House Terrace angelangt und fassten schon wieder Mut. Plötzlich trat ihnen ein großer, offenbar betrunkener Mann in den Weg. «Guten Abend, meine Damen», lallte er. «Wohin so schnell?»

«Lassen Sie uns vorbei», rief Tuppence heftig.

«Nur ein Wort mit Ihrer hübschen kleinen Freundin.» Er streckte unsicher eine Hand aus und packte Jane an der Schulter. Tuppence hörte andere Schritte hinter sich. Sie nahm sich nicht die Zeit, festzustellen, ob es Freunde oder Feinde waren. Sie senkte den Kopf und wiederholte ein Manöver aus den Tagen ihrer Kindheit, indem sie ihrem Angreifer gegen den Bauch rannte. Der Erfolg war überwältigend. Der Mann setzte sich ziemlich jäh auf den Bürgersteig. Tuppence und Jane machten, dass sie weiterkamen. Das Haus, das sie suchten, lag noch ein Stück entfernt. Andere Schritte waren nun hinter ihnen zu hören. Als sie an die Tür von Sir James gelangten, keuchten sie vom schnellen Lauf. Tuppence läutete und Jane hämmerte mit dem Klopfer.

Der Mann, der sie aufgehalten hatte, war nun bis an die unterste Stufe gelangt. Einen Augenblick zögerte er. Da öffnete sich auch schon die Tür. Zusammen taumelten sie in die Diele. Sir James trat gerade aus der Bibliothek. «Hallo! Was ist denn los?»

Er kam auf sie zu und legte seinen Arm um Jane. Er stützte sie, als sie in die Bibliothek gingen, und ließ sie sich auf die Couch legen. Aus einer Karaffe auf dem Tisch schenkte er etwas Kognak in ein Glas und bat sie, ihn zu trinken. Mit einem Seufzer richtete sie sich auf, ihre Augen waren noch immer wild und verängstigt.

«Es ist ja alles gut. Sie brauchen nichts mehr zu befürchten, mein Kind. Sie sind in Sicherheit.»

Ihr Atem ging nun regelmäßiger, und die Farbe kehrte in ihre Wangen zurück. Sir James sah Tuppence fragend an. «Sie sind also ebenso wenig tot, Miss Tuppence, wie Ihr Freund Tommy!»

«Die Jungen Abenteurer sind nicht umzubringen!»

«Es sieht wirklich so aus», antwortete Sir James trocken. «Ist meine Vermutung begründet, dass das Unternehmen mit Erfolg geendet hat und dass dies hier» – er wandte sich zu dem Mädchen auf der Couch – «Miss Jane Finn ist?»

Jane richtete sich auf. «Ja, ich bin Jane Finn. Und ich habe Ihnen viel zu erzählen.»

«Erst wenn Sie wieder zu Kräften gekommen sind…»

«Aber nein – jetzt!» Sie hob ein wenig die Stimme. «Ich fühle mich sicherer, wenn ich alles gesagt habe.»

«Wie Sie wollen.» Der Anwalt ließ sich in einem großen Sessel nieder.

Mit leiser Stimme begann nun Jane, ihre Geschichte zu erzählen. «Ich kam mit der Lusitania herüber, um eine Stellung in Paris anzunehmen. Ich hatte Französisch als Hauptfach und meine Lehrerin erzählte mir, dass man in einem Lazarett in Paris Hilfskräfte suchte. Ich hatte keine Familie mehr und so fiel es mir leicht, diesen Schritt zu tun. Als die Lusitania torpediert wurde, trat ein Mann auf mich zu. Er erklärte mir, er hätte Papiere bei sich, die für die Alliierten von größter Wichtigkeit seien, und bat mich, sie an mich zu nehmen. Ich sollte auf eine Anzeige in der Times achten. Erschiene sie nicht, sollte ich die Papiere dem amerikanischen Botschafter übergeben.

Alles, was dann folgte, erscheint mir wie ein Albdruck. Ich erlebe es manchmal in meinen Träumen. Ich will diesen Teil auch nur ganz schnell streifen. Mr Danvers hatte mir gesagt, ich sollte mich vorsehen. Es könne sein, dass er schon seit New York beschattet werde. Zunächst hegte ich keinen Argwohn, aber auf dem Schiff nach Holyhead begann ich unruhig zu werden. Da war eine Frau, die sich mit mir anzufreunden suchte – eine gewisse Mrs Vandemeyer. Die ganze Zeit jedoch verließ mich nicht das Gefühl, dass sie etwas an sich hatte, was mir unangenehm war; und auf dem irischen Schiff sah ich, wie sie sich mit einigen seltsamen Männern unterhielt. Ich war sicher, dass sie von mir redeten. Ich entsann mich auch, dass sie auf der Lusitania ganz in meiner Nähe gestanden hatte, als Mr Danvers mir das Päckchen gab. Ich bekam Angst, wusste aber nicht recht, was ich tun sollte.

Jäh durchfuhr mich der Gedanke, zunächst einmal in Holyhead zu bleiben und nicht am gleichen Tag nach London weiterzureisen, aber dann sah ich ein, dass dies noch törichter wäre. Um ganz vorsichtig zu sein, hatte ich bereits das Päckchen im Öltuch aufgerissen, unbeschriebene Bogen mit den anderen ausgetauscht und es dann wieder zugenäht. Wenn es also jemandem gelang, es mir abzunehmen, würde es nichts ausmachen.

Was ich nun mit den echten Papieren anfangen sollte, machte mir unendliche Sorge. Schließlich glättete ich sie – es waren nur zwei Bogen – und legte sie zwischen zwei Anzeigenseiten einer Zeitschrift. Die beiden Seiten der Zeitschrift klebte ich am Rand mit etwas Klebstoff zusammen. Dann steckte ich die Zeitschrift nachlässig in die eine Tasche meines Mantels.

In Holyhead versuchte ich mich in der Eisenbahn zu anderen Menschen zu setzen, schließlich sah ich mich doch wieder mit Mrs Vandemeyer in einem Abteil zusammen. Ich tröstete mich mit dem Gedanken, dass ja noch andere Menschen im Abteil seien. Mir gegenüber saßen ein sehr nett aussehender Mann und seine Frau. So fühlte ich mich einigermaßen beruhigt, bis wir kurz vor London waren. Ich hatte mich zurückgelehnt und die Augen geschlossen. Ich nehme an, sie glaubten, ich schliefe, aber meine Augen waren nicht ganz geschlossen, und so sah ich plötzlich, wie der nett aussehende Mann etwas aus seiner Reisetasche nahm und es Mrs Vandemeyer reichte, und dabei zwinkerte er ihr zu…

Ich kann Ihnen nicht sagen, wie dieses Zwinkern auf mich wirkte; es war, als wäre ich innerlich völlig erstarrt. Vielleicht bemerkten sie etwas – ich weiß es nicht –, jedenfalls sagte Mrs Vandemeyer plötzlich: ‹Jetzt!› und warf mir etwas über Nase und Mund. Ich versuchte noch zu schreien, aber im gleichen Augenblick traf mich ein schwerer Schlag auf den Hinterkopf…»

Sie erschauerte. Sir James murmelte einige Worte. Nach einer kurzen Weile fuhr sie fort: «Ich weiß nicht, wie lange es dauerte, bis ich wieder zu Bewusstsein kam. Ich fühlte mich sehr elend. Ich lag auf einem schmutzigen Bett, das durch einen Wandschirm von dem übrigen Raum getrennt war, aber ich hörte eine Unterhaltung, die Mrs Vandemeyer mit einem Unbekannten führte. Anfangs begriff ich nicht viel davon. Als ich schließlich zu verstehen begann, um was es ging, war ich entsetzt. Ein Wunder, dass ich nicht aufschrie.

Sie hatten die Papiere nicht gefunden. Sie hatten nur das Päckchen im Öltuch und die unbeschriebenen Blätter und waren rasend. Sie wussten nicht, ob ich die Papiere ausgetauscht oder Danvers nur eine Attrappe bei sich getragen hatte, während das richtige Papier auf einem anderen Weg befördert wurde. Sie sprachen davon» – sie schloss ihre Augen –, «mich zu foltern, um es herauszufinden!

Niemals zuvor hatte ich gewusst, was Furcht war. Einmal traten sie zu mir und sahen mich an. Ich gab vor, noch bewusstlos zu sein. Doch sie entfernten sich wieder. Ich begann fieberhaft zu überlegen. Was konnte ich tun?

Plötzlich kam mir der Gedanke, vorzugeben, dass ich das Gedächtnis verloren hätte. Diese Dinge hatten mich immer sehr interessiert, und ich hatte ziemlich viel darüber gelesen. Ich wusste gut darüber Bescheid. Wenn es mir gelang, diesen Schwindel eine Weile aufrechtzuerhalten, konnte mich das vielleicht retten. Ich tat einen tiefen Atemzug, öffnete meine Augen und begann Französisch zu reden…

Sogleich kam Mrs Vandemeyer um den Wandschirm und trat zu mir. Sie hatte ein so böses Gesicht, dass mir fast das Bewusstsein noch einmal schwand, aber ich lächelte sie nur unsicher an und fragte sie auf Französisch, wo ich sei.

Sie rief den Mann herbei, mit dem sie geredet hatte. Er stand neben dem Wandschirm, aber sein Gesicht war im Schatten. Er sprach Französisch mit mir. Seine Stimme klang ruhig, aber irgendwie erschreckte er mich noch mehr. Wieder fragte ich, wo ich sei, und fuhr dann fort, ich müsste mich unbedingt an etwas erinnern – müsste mich erinnern –, nur sei mir im Augenblick alles entfallen.

Plötzlich packte er mein Handgelenk und begann es zu drehen. Es war ein entsetzlicher Schmerz. Ich weiß nicht, wie lange ich es ausgehalten hätte, aber glücklicherweise fiel ich in Ohnmacht. Das letzte, was ich hörte, waren seine Worte: ‹Das ist kein Bluff! Außerdem würde ein Mädchen in ihrem Alter nicht genug davon wissen.›

Als ich zu mir kam, war Mrs Vandemeyer ganz reizend. Wahrscheinlich hatte sie ihre Anweisungen. Sie sprach französisch mit mir. Ich hätte einen schweren Schock erlitten und wäre sehr krank. Bald würde ich mich erholen. Ich gab vor, noch ziemlich benommen zu sein, und murmelte etwas von dem Arzt, der mir am Handgelenk so wehgetan hätte. Sie sah sehr erleichtert aus, als ich das sagte.

Im Laufe der Zeit ließ sie mich zuweilen ganz allein im Zimmer. Schließlich stand ich sogar auf, ging ein wenig im Zimmer umher und sah mir alles genau an. Das Zimmer war schmutzig. Fenster gab es nicht. Ich nahm an, dass die Tür abgeschlossen sei, versuchte aber nicht, es festzustellen. An der Wand hingen ein paar beschädigte, verwahrloste Bilder, die Szenen aus dem Faust darstellten.»

Janes Zuhörer stießen einen Ruf der Überraschung aus. Das Mädchen nickte.

«Ja – es war das Haus in Soho, in dem auch Mr Beresford gefangen war. Natürlich wusste ich damals nicht, wo ich war – nicht einmal, dass ich mich in London befand. Immerhin war es eine gewisse Erleichterung, als ich feststellte, dass mein Mantel achtlos über die Rückenlehne eines Stuhles geworfen war. Und in der Tasche steckte noch immer die zusammengerollte Zeitschrift!

Hätte ich nur gewusst, ob ich beobachtet wurde oder nicht! Ich betrachtete sehr genau die Wände. Es schien kein Guckloch zu geben – und dennoch hatte ich das vage Gefühl, es sei eines da. Plötzlich setzte ich mich auf die Tischkante, verbarg mein Gesicht in den Händen und schluchzte laut ‹Mon Dieu! Mon Dieu!› Ich habe ein ungewöhnlich gutes Gehör und gleich darauf hörte ich das Rauschen eines Kleides und ein leichtes Knarren. Das genügte mir. Ich wurde also beobachtet!

Ich legte mich wieder aufs Bett und nach einiger Zeit brachte mir Mrs Vandemeyer das Abendessen. Sie war noch immer äußerst nett zu mir. Wahrscheinlich sollte sie mein Vertrauen gewinnen. Etwas später holte sie ein Päckchen in Öltuch hervor und fragte mich, ob ich es wiedererkenne. Dabei beobachtete sie mich scharf.

Ich nahm es und drehte es ein wenig verwundert in den Händen. Dann schüttelte ich den Kopf. Ich sagte, ich hätte wohl das Gefühl, ich sollte mich im Zusammenhang damit an irgendetwas erinnern. Dann erklärte sie mir, ich sei ihre Nichte und ich solle sie ‹Tante Rita› nennen. Das tat ich gehorsam und sie sagte mir, ich solle mir keine Sorgen machen – mein Gedächtnis würde bald wiederkehren.

Es war eine entsetzliche Nacht. Ich hatte mir meinen Plan zurechtgelegt. Ich wartete, bis ich meinte, es müsste ungefähr zwei Uhr morgens sein. Dann stand ich so leise wie möglich auf und tastete mich in der Dunkelheit an der linken Wand entlang. Vorsichtig nahm ich eins der Bilder vom Haken ab – es stellte Margarete mit ihrem Schmuckkästchen dar. Ich schlich mich zu meinem Mantel, nahm die Zeitschrift aus der Tasche und ein paar Umschläge, die ich ebenfalls hineingestopft hatte. Dann ging ich zum Waschtisch und feuchtete das braune Papier auf der Rückseite des Bildes ringsherum an. Nach einer Weile konnte ich es abziehen. Die beiden zusammengeklebten Seiten aus der Zeitschrift hatte ich bereits herausgerissen und nun ließ ich sie zwischen das Bild und das braune Papier auf der Rückseite gleiten. Mit ein wenig Leim von den Umschlägen gelang es mir, das Papier wieder anzukleben. Niemand hätte annehmen können, dass mit dem Bild etwas geschehen sei. Ich hängte es wieder an die Wand, steckte die Zeitschrift in meine Manteltasche zurück und kroch ins Bett. Ich hoffte nur, dass sie annahmen, Danvers hätte die ganze Zeit über nur eine Attrappe bei sich getragen, und dass sie mich schließlich gehen ließen. Tatsächlich war es das, was sie anfangs auch glaubten; und gerade das war für mich gefährlich. Später erfuhr ich, dass sie mich dort und damals fast aus dem Weg geräumt hätten – es hatte niemals ernsthaft die Absicht bestanden, mich laufen zu lassen, aber der erste Mann, der Chef, zog es vor, mich am Leben zu lassen, da immerhin noch die Möglichkeit bestand, dass ich die Papiere versteckt haben und mich, falls mein Gedächtnis wiederkehrte, daran erinnern könnte. Wochen hindurch beobachteten sie mich unausgesetzt. Zuweilen stellten sie mir stundenlang Fragen – es gab wohl nichts, was sie nicht über die Methoden von Kreuzverhören und dergleichen wussten. Aber es war eine Folter.

Sie brachten mich nach Irland zurück. Ich musste jede Phase der Reise von neuem erleben, für den Fall, dass ich die Papiere irgendwo unterwegs versteckt hätte. Mrs Vandemeyer und eine andere Frau ließen mich nicht einen Augenblick allein. Sie sprachen von mir als einer jungen Verwandten von Mrs Vandemeyer, die durch die Erlebnisse an Bord der Lusitania einen schweren Schock erlitten hätte. Es gab niemanden, an den ich mich um Hilfe wenden konnte. Und selbst wenn ich eine Flucht riskierte, und sie gelang, würde man der eleganten Mrs Vandemeyer mehr glauben als mir und annehmen, es gehöre zu meinem Nervenschock, mich für verfolgt zu halten. Wenn sie aber darauf gekommen wären, dass ich simulierte, hätte mir Entsetzliches bevorgestanden.»

Sir James nickte verständnisinnig.

«Das Ganze endete schließlich damit, dass ich in ein Sanatorium in Bournemouth geschickt wurde. Zunächst konnte ich mir nicht darüber schlüssig werden, ob es sich dabei nur um ein Scheinunternehmen handelte. Eine Krankenschwester nahm sich meiner an. Ich galt als schwerer Fall. Sie schien mir so nett und so normal, dass ich mich schließlich entschloss, mich ihr anzuvertrauen. Ein gütiges Geschick bewahrte mich aber gerade noch rechtzeitig davor, in diese Falle zu gehen. Meine Tür stand einmal zufällig offen und da hörte ich, wie sie auf dem Gang mit jemandem sprach. Sie war eine von der Bande! Man hielt es noch immer für möglich, dass ich simulierte, und ihre Aufgabe war es, das festzustellen. Danach hatte ich allen Mut verloren.

Ich glaube, dass ich mich selber sozusagen hypnotisierte. Nach einiger Zeit hatte ich fast wirklich vergessen, dass ich Jane Finn war. Ich hatte mich so sehr in die Rolle der Janet Vandemeyer hineingespielt, dass meine Nerven anfingen, mir Streiche zu spielen. Ich wurde krank – Monate hindurch versank ich in eine Art Dämmerzustand. Ich war überzeugt, dass ich bald sterben würde, und allmählich wurde mir alles gleichgültig. Ein gesunder Mensch, der in eine Irrenanstalt gelangt, kann schließlich selber wahnsinnig werden, heißt es. Ich glaube, bei mir war es ähnlich. Es war mir zur zweiten Natur geworden, meine Rolle zu spielen. Am Ende war ich nicht einmal unglücklich – nur apathisch. So verstrichen die Jahre. Plötzlich jedoch schien sich alles zu ändern. Mrs Vandemeyer kam aus London. Sie und der Arzt stellten Fragen an mich und versuchten es mit verschiedenen Behandlungsmethoden. Es war sogar die Rede davon, mich zu einem Spezialisten nach Paris zu schicken. Am Ende wagten sie das jedoch nicht. Ich hörte einmal, das man davon sprach, andere Leute – Freunde – suchten nach mir.

Eines Nachts wurde ich ganz überstürzt nach London geschafft. Man brachte mich zurück in das Haus in Soho. Sobald ich das Sanatorium hinter mir gelassen hatte, fühlte ich mich anders – als ob etwas in mir, das lange Zeit verschüttet gewesen war, von neuem erwachte.

Man beauftragte mich, Mr Beresford zu bedienen. (Natürlich war mir damals sein Name nicht bekannt.) Ich war argwöhnisch – denn ich hielt es für eine neue Falle. Aber er wirkte so anständig, dass ich diesen Verdacht wieder fallen ließ. Aber ich war vorsichtig in allem, was ich sagte, denn ich wusste ja, dass man uns belauschen konnte. Ganz oben in der Wand befindet sich das kleine Guckloch.

Am Sonntagnachmittag wurde eine Botschaft ins Haus gebracht. Alle waren sehr verwirrt. Ohne dass es jemand merkte, lauschte ich. Es war der Befehl gekommen, Beresford sollte umgebracht werden. Ich brauche nicht zu erzählen, was sich dann ereignete, denn das ist ja bekannt. Ich glaubte, ich würde Zeit genug finden, hinaufzueilen und die Papiere aus ihrem Versteck zu holen, wurde aber aufgehalten. Da schrie ich, er sei im Begriff zu fliehen, und sagte, ich wollte zu Marguerite zurückkehren. Dreimal rief ich sehr laut diesen Namen. Die anderen mussten denken, ich meinte Mrs Vandemeyer, aber ich hoffte, ich würde dadurch Mr Beresfords Aufmerksamkeit auf das Bild lenken. Er hatte am ersten Tag eines der Bilder von der Wand genommen – und das hatte mich wiederum veranlasst, ihm zu misstrauen.»

Sie hielt inne.

«Also befinden sich die Papiere noch immer an der Rückseite des Bildes in seinem Zimmer», sagte Sir James.

«Ja.»

Sir James erhob sich. «Kommen Sie. Wir müssen sofort hin.»

«Heute Abend noch?», fragte Tuppence überrascht.

«Morgen könnte es zu spät sein. Außerdem haben wir heute Abend immerhin die Möglichkeit, den großen Fisch zu fangen – Mr Brown!»

Es folgte tiefes Schweigen.

Sir James fuhr fort: «Man ist Ihnen hierher gefolgt – darüber besteht gar kein Zweifel. Wenn wir dieses Haus verlassen, wird man uns wiederum folgen, aber nicht belästigen, denn es liegt natürlich in Mr Browns Absicht, dass wir ihm den Weg zeigen. Das Haus in Soho steht jedoch Tag und Nacht unter Bewachung. Die Wachtposten lassen es nicht einen Augenblick aus den Augen. Wenn wir dieses Haus betreten, wird Mr Brown alles auf eine Karte setzen, in der Hoffnung, den Funken zu finden, durch den er seine Sprengladung entzünden kann. Er wird das Risiko kaum für zu groß halten – da er als Freund verkleidet auftreten wird!»

Tuppence konnte nicht länger an sich halten und sagte: «Aber es gibt etwas, das Sie noch nicht wissen – wir haben es Ihnen noch nicht erzählt.» Ihre Augen ruhten verwirrt auf Jane.

«Was ist es?», fragte Sir James.

«Es ist so schwierig, verstehen Sie; wenn ich Unrecht hätte, wäre es unverantwortlich.» Sie sah Jane an, die nun wie leblos dalag. «Sie würde mir niemals verzeihen», erklärte sie geheimnisvoll.

«Aber Sie wollen doch, dass ich Ihnen helfe?»

«Ja, Sie wissen, wer Mr Brown ist, nicht?»

«Ja. Endlich weiß ich es.»

«Endlich?», fragte Tuppence. «Aber ich dachte…»

«Seit einiger Zeit sehe ich ziemlich klar – seit jener Nacht, als Mrs Vandemeyer auf so mysteriöse Weise ums Leben kam.» Er machte eine kleine Pause und fuhr dann ruhig fort: «Es gibt nur zwei Lösungen. Entweder hat sie selber die Überdosis genommen, oder aber…»

«Oder…?»

«Oder das Schlafmittel befand sich in dem Kognak, den Sie ihr gaben. Nur drei Menschen haben mit diesem Kognak zu tun gehabt – Sie, ich und Mr Hersheimer!»

Jane Finn rührte sich und richtete sich auf. Sie betrachtete Sir James aus weiten, erstaunten Augen. Sir James fuhr fort: «Zunächst schien es mir völlig unmöglich, Mr Hersheimer zu verdächtigen. Er ist als der Sohn eines vielfachen Millionärs in Amerika eine bekannte Erscheinung. Höchst unwahrscheinlich, dass er und Mr Brown ein und dieselbe Person sein konnten. Man kann sich jedoch nicht der den Tatsachen innewohnenden Logik entziehen. Entsinnen Sie sich noch Mrs Vandemeyers plötzlicher unerklärlicher Erregung? Noch ein Beweis, falls es dessen noch bedürfte.

Ich habe Ihnen schon zu einem frühen Zeitpunkt einen Wink gegeben. Und zwar nach einigen Worten von Mr Hersheimer in Manchester. Ich nahm an, Sie hätten verstanden und würden diesem Wink entsprechend handeln. Ich machte mich dann an die Arbeit, um das Unglaubliche zu beweisen. Mr Beresford rief mich an und erzählte mir, was ich bereits geargwöhnt hatte, dass nämlich die Fotografie von Miss Jane Finn in Wirklichkeit stets in Mr Hersheimers Händen geblieben war.»

Jane sprang auf und rief zornig:

«Was wollen Sie damit sagen? Dass Mr Brown Julius ist – mein eigener Vetter?»

«Nein, Miss Finn. Nicht Ihr Vetter. Der Mann, der sich Julius Hersheimer nennt, ist mit Ihnen nicht verwandt.»

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