18

«Mein Zug ist vor einer halben Stunde eingetroffen», erklärte Hersheimer, als er mit Tommy den Bahnhof verließ. «Ich hatte, bevor ich aus London abreiste, damit gerechnet, dass Sie mit diesem Zug kommen würden, und Sir James entsprechend telegrafiert. Er hat Zimmer für uns bestellt und wird um acht Uhr mit uns essen.»

«Sie hatten wirklich angenommen, dass er sich für den Fall nicht mehr interessiert?»

«Nach dem, was er sagte, musste man das annehmen. Aber er wollte sich wohl nur nicht festlegen.»

«Vielleicht», meinte Tommy nachdenklich.

Pünktlich um acht Uhr erschien Sir James. Hersheimer stellte Tommy vor. Sir James drückte ihm herzlich die Hand.

«Ich freue mich, Ihre Bekanntschaft zu machen, Mr Beresford. Ich habe von Miss Tuppence schon viel über Sie gehört.»

Hersheimer überfiel Sir James mit einem Schwall neugieriger Fragen.

Sir James strich sich das Kinn und lächelte. Schließlich sagte er: «Nun, sie ist jedenfalls gefunden. Und das ist die Hauptsache, nicht wahr?»

«Gewiss. Aber wie sind Sie ihr auf die Spur gekommen? Miss Tuppence und ich glaubten, Sie wollten die Sache ganz aufgeben.»

«Ach! Das haben Sie also geglaubt? Was Sie nicht sagen!»

«Aber wo ist sie denn?», fragte Hersheimer. «Ich dachte, Sie brächten sie mit.»

«Das war nicht möglich», erwiderte Sir James ernst.

«Wieso?»

«Weil die junge Dame einen Verkehrsunfall hatte und am Kopf leicht verletzt wurde. Man hat sie in ein Krankenhaus gebracht und als sie dort wieder zu sich kam, hat sie als ihren Namen Jane Finn angegeben. Als ich das erfuhr, habe ich sie in das Haus eines Arztes bringen lassen – ein Freund von mir und Ihnen telegrafiert. Sie hat dann wieder das Bewusstsein verloren und seitdem nichts mehr gesagt.»

«Aber sie ist doch nicht ernsthaft verletzt?»

«Eine leichte Quetschung und ein paar Fleischwunden; vom ärztlichen Standpunkt aus tatsächlich nur ganz leichte Verletzungen, die im Allgemeinen kaum einen solchen Zustand hervorrufen können. Dieser Zustand ist also wahrscheinlich dem seelischen Schock zuzuschreiben, den sie erlitt, als sie plötzlich ihr Gedächtnis wiedergewann.»

«Ja, hat sie denn ihr Gedächtnis wieder?»

Sir James trommelte ungeduldig auf den Tisch. «Zweifellos, Mr Hersheimer, da sie ja fähig war, ihren wirklichen Namen anzugeben.»

«Und Sie waren zufällig dort?», rief Tommy. «Das alles kommt mir wie ein Märchen vor.»

Aber Sir James war viel zu vorsichtig, um sich darüber auszulassen. «Ein Zusammentreffen von Zufällen berührt einen stets sonderbar.»

Nichtsdestoweniger war Tommy nun sicher, dass Sir James’ Anwesenheit in Manchester kein Zufall war. Er hatte keineswegs den Fall aufgegeben, wie Hersheimer angenommen hatte, sondern mit Hilfe seiner Verbindungen das vermisste Mädchen aufgespürt. Das Einzige, was Tommy merkwürdig vorkam, war, dass er alles so geheim hielt. Aber er sagte sich, dass dies eine Eigenart vieler Juristen sei.

«Nach dem Essen», verkündete Hersheimer, «gehe ich gleich Jane aufsuchen.»

«Das dürfte unmöglich sein, fürchte ich», antwortete Sir James. «Es ist kaum anzunehmen, dass man im Haus eines Arztes Besucher zu dieser Zeit einlässt. Ich würde vorschlagen, morgen Früh gegen zehn Uhr hinzugehen.»

Hersheimer errötete. Sir James hatte etwas an sich, was ihn stets zum Widerspruch reizte. Die beiden waren in vieler Hinsicht Gegensätze. «Trotzdem werde ich heute Abend noch hingehen und sehen, ob es mir nicht gelingt, Ihre blödsinnigen Bestimmungen zu durchbrechen.»

«Völlig nutzlos, Mr Hersheimer.»

Die Worte kamen wie aus einer Pistole geschossen und Tommy blickte überrascht auf. Hersheimer war nervös und erregt. Die Hand, mit der er sein Glas hob, zitterte ein wenig, aber seine Augen begegneten Sir James voller Trotz. Einen Augenblick lang schien die latente Feindseligkeit zwischen den beiden offen ausbrechen zu wollen, aber schließlich senkte Hersheimer doch den Blick und gab nach. «Also gut. Einstweilen spielen ja wohl Sie hier den Chef.»

«Danke. Sagen wir also, gegen zehn Uhr.» Völlig beherrscht wandte er sich dann Tommy zu. «Ich muss schon sagen, Mr Beresford, dass es für mich eine große Überraschung war, Sie hier zu sehen. Ihre Freunde waren in großer Sorge, weil man seit einigen Tagen nichts mehr von Ihnen gehört hatte und Miss Tuppence glaubte Sie wären in Schwierigkeiten geraten.»

«Das war ich auch, Sir!» Tommy grinste in der Erinnerung an seine Erlebnisse.

Durch Fragen von Sir James ermuntert, gab er einen kurzen Bericht über seine Abenteuer. Der Anwalt betrachtete ihn mit erneutem Interesse und als Tommy geendet hatte, sagte er ernst: «Sie haben großen Scharfsinn bewiesen und Ihre Rolle glänzend gespielt.»

Tommy errötete. «Ohne das Mädchen wäre ich nicht weggekommen, Sir.»

«Gewiss.» Sir James lächelte ein wenig. «Sie hatten das Glück, dass sie, wie soll ich sagen, eine Schwäche für Sie hatte.» Tommy wollte schon widersprechen, aber Sir James fuhr fort. «Es ist doch wohl kein Zweifel daran, dass sie zur Bande gehört?»

«Das fürchte ich auch, Sir.»

Sir James nickte bedächtig. «Was hatte sie gesagt? Man solle sie wieder zu Marguerite schaffen?»

«Ja, Sir. Ich glaube, sie meinte Mrs Vandemeyer.»

«Die hat immer nur mit Rita Vandemeyer unterschrieben. Alle ihre Freunde nannten sie Rita. Aber ich nehme an, dass das Mädchen sie aus besonderem Grund bei ihrem eigentlichen Namen nannte. Und in dem Augenblick, in dem sie nach ihr rief, war Mrs Vandemeyer entweder schon tot oder lag bereits im Sterben. Seltsam! Ein paar Punkte erscheinen mir noch immer recht dunkel – zum Beispiel der plötzliche Wechsel ihrer Haltung Ihnen gegenüber. Übrigens – das Haus ist doch wohl durchsucht worden?»

«Ja, Sir, aber sie waren schon alle weg.»

«Natürlich», sagte Sir James trocken.

«Und nicht eine Spur, nicht ein Anhaltspunkt.»

«Meinen Sie…» Der Anwalt trommelte nachdenklich auf den Tisch.

Bei seinem Tonfall blickte Tommy auf. Hatte er etwas entdeckt, wofür sie blind gewesen waren? Impulsiv rief er: «Wären Sie nur da gewesen, Sir, und mit uns durchs Haus gegangen!»

«Ja, wäre ich nur da gewesen!» Eine Weile saß er schweigend da. «Und was haben Sie seitdem unternommen?»

Einen Augenblick lang sah Tommy ihn verwundert an. Dann dämmerte ihm, dass der Anwalt von seinen Sorgen um Tuppence nichts wissen konnte.

«Tuppence ist verschwunden», sagte Hersheimer.

«Wann?»

«Vor einer Woche.»

«Wie?»

Sir James schoss seine Fragen heraus. Tommy und Hersheimer berichteten von ihrer vergeblichen Suche.

Sir James ging sofort auf den Kern der Sache los. «Ein Telegramm mit Ihrem Namen? Unsere Gegner wussten natürlich schon einiges von Ihnen beiden. Sie waren aber nicht sicher, wie viel Sie in diesem Haus erfahren hatten. Die Entführung von Miss Tuppence ist der Gegenzug, um Ihrer Flucht entgegenzuwirken. Wenn nötig, können sie Ihnen den Mund versiegeln durch die Drohung, dass…»

Tommy nickte. «Das denke ich auch, Sir.»

Sir James betrachtete ihn aufmerksam. «Seltsam ist aber, dass man im Anfang Ihrer Gefangenschaft offenbar nichts von Ihnen wusste. Sind Sie sicher, dass Sie sich nicht doch irgendwie verraten haben?»

Tommy schüttelte den Kopf.

Hersheimer sagte: «Ich nehme an, dass ihnen jemand etwas hinterbracht hat – und das nicht vor Sonntagnachmittag.»

«Ja, aber wer?»

«Natürlich der allmächtige und allwissende Mr Brown.»

Es lag leiser Spott in seiner Stimme und Sir James streifte ihn mit einem scharfen Blick.

«Sie glauben wohl nicht an ihn, Mr Hersheimer?»

«Nein, Sir», entgegnete der junge Amerikaner mit Nachdruck. «Jedenfalls nicht an das Individuum Brown. Meiner Ansicht nach ist das nichts weiter als ein Deckname. Der eigentliche Kopf ist sicher Kramenin. Das ist eine undurchsichtige Figur, die ihre Finger in allen möglichen Affären hat, in den verschiedensten Ländern – zumindest wäre ihm das zuzutrauen.»

«Da bin ich ganz anderer Meinung», widersprach ihm Sir James schroff. «Mr Brown gibt es.» Er wandte sich an Tommy. «Haben Sie zufällig darauf geachtet, wo das Telegramm aufgegeben wurde?»

«Nein, Sir, das habe ich allerdings nicht.»

«Haben Sie es bei sich?»

«Ich habe es oben, Sir. In meinem Gepäck.»

«Ich würde es mir gern einmal ansehen. Es eilt nicht. Eine Woche haben wir ja bereits verloren.» Tommy ließ den Kopf hängen. «Ein Tag mehr oder weniger macht da auch nichts mehr. Wir befassen uns zunächst einmal mit Jane Finn. Danach machen wir uns an die Arbeit, Miss Tuppence zu suchen. Ich glaube nicht, dass sie sich in unmittelbarer Gefahr befindet. Das heißt, solange die anderen nicht wissen, dass wir Jane Finn in unseren Händen haben und sie ihr Gedächtnis wiedergewonnen hat. Wir müssen das um jeden Preis geheim halten. Ist das klar?»

Um zehn Uhr am nächsten Vormittag fanden sich die beiden jungen Leute an dem verabredeten Ort ein. Sir James gesellte sich zu ihnen. Er war der Einzige, der ruhig wirkte. Er stellte sie dem Arzt vor. «Mr Hersheimer – Mr Beresford – Dr. Roylance. Wie geht es unserer Patientin?»

«Zufrieden stellend. Sie hat offensichtlich keinen Begriff davon, wie viel Zeit verstrichen ist. Heute Morgen hat sie gefragt, wie viele von der Lusitania gerettet wurden. Ob es schon in der Zeitung gestanden hätte und dergleichen. Aber damit musste man rechnen. Irgendetwas scheint sie noch zu bedrücken.»

«Ich glaube, dass wir sie von ihrer Angst befreien können. Dürfen wir hinaufgehen?»

«Natürlich.»

Tommys Herz schlug schneller, als sie dem Arzt nach oben folgten. Jane Finn! Endlich! Wenn nur Tuppence jetzt da wäre, um das triumphierende Ende ihres gemeinsamen Abenteuers mitzuerleben!

Der Arzt öffnete eine Tür und sie traten ein. Auf dem weißen Bett, den Kopf verbunden, lag ein Mädchen. Irgendwie erschien Tommy das alles völlig unwirklich.

Das Mädchen sah mit verwunderten Augen von einem zum anderen. Als erster sprach Sir James.

«Miss Finn», erklärte er, «das ist Ihr Vetter, Mr Julius P. Hersheimer.»

Eine leichte Röte stieg in das Gesicht des Mädchens, als Hersheimer ihre Hand ergriff. «Wie geht es denn, Jane, meine kleine Kusine?», fragte er. Tommy hörte das Zittern aus seiner Stimme heraus.

«Bist du wirklich Onkel Hirams Sohn?», fragte sie erstaunt.

Ihre Stimme mit dem leichten Akzent des Westens war eigenartig faszinierend. Tommy kam sie einen Augenblick bekannt vor, doch er schob diesen Eindruck als völlig unmöglich beiseite.

«Aber sicher!»

«Wir haben immer in der Zeitung von Onkel Hiram gelesen», fuhr das Mädchen mit der leisen, sanften Stimme fort. «Aber ich hätte nie geglaubt, dir eines Tages zu begegnen. Mutter bildete sich immer ein, dass Onkel Hiram ihr nie verzeihen würde.»

«Mein Alter war auch so», gab Hersheimer zu. «Aber die junge Generation ist doch ein wenig anders. Ich jedenfalls habe nichts für solche Familienfehden übrig. Als der Krieg vorbei war, versuchte ich sofort, dich aufzufinden.»

Ein Schatten fuhr über das Gesicht des Mädchens. «Man hat mir so Entsetzliches erzählt: Ich hätte mein Gedächtnis verloren und es gäbe Jahre, von denen ich vielleicht niemals mehr etwas wissen werde – verlorene Jahre…»

«Und dir selber ist das gar nicht bewusst geworden?»

«Aber nein. Ich habe den Eindruck, als sei kaum Zeit vergangen, seit wir in die Rettungsboote getrieben wurden. Ich sehe alles noch ganz deutlich vor mir.» Schaudernd schloss sie die Augen.

Hersheimer blickte zu Sir James hinüber; der nickte. «Mach dir keine Sorgen mehr. Es lohnt sich nicht. Und nun hör einmal zu, Jane, wir würden gern etwas von dir erfahren. Da war doch ein Mann an Bord, der wichtige Papiere bei sich führte. In politischen Kreisen dieses Landes ist man der Ansicht, er hätte sie dir gegeben. Stimmt das?»

Das Mädchen zögerte und sein Blick streifte die beiden anderen. Hersheimer verstand.

«Mr Beresford ist von der britischen Regierung damit beauftragt, diese Papiere herzuschaffen. Sir James Peel Edgerton ist Mitglied des Parlaments und könnte, wenn er wollte, im Kabinett sitzen. Ihm verdanken wir es, dass wir dich gefunden haben. Du kannst uns also die ganze Geschichte erzählen. Hat Danvers dir die Papiere gegeben?»

«Ja. Er sagte, sie wären bei mir besser aufgehoben, da man Frauen und Kinder zuerst retten würde.»

«Genau, was wir uns gedacht haben», sagte Sir James.

«Sie seien sehr wichtig – sie könnten für die Alliierten von größter Bedeutung sein. Aber wenn der Krieg beendet ist, dann ist das alles heute doch unwesentlich.»

«Ich fürchte, dass sich die Geschichte wiederholt, Jane. Erst herrschte dieser Papiere wegen große Aufregung, dann schlief alles ein, und nun beginnt die ganze Sache wieder von vorn – allerdings aus völlig anderen Gründen. Könntest du uns die Papiere übergeben?»

«Ich habe sie ja gar nicht.»

«Du hast sie nicht?», fragte Hersheimer gedehnt.

«Nein – ich habe sie versteckt.»

«Versteckt?»

«Ja. Ich wurde so unruhig. Man schien mich zu beobachten. Und da bekam ich Angst.» Sie hob die Hand zum Kopf. «Es ist das Letzte, dessen ich mich entsinne, bevor ich im Krankenhaus aufwachte…»

«Weiter», sagte Sir James mit seiner ruhigen, durchdringenden Stimme. «Woran erinnern Sie sich noch?»

«Es war im Holyhead. Das war die Reiseroute – ich erinnere mich nicht, warum…»

«Das ist ja auch unwichtig. Weiter.»

«In der allgemeinen Verwirrung stahl ich mich davon. Niemand sah mich. Ich nahm einen Wagen. Ich sagte dem Fahrer, er solle ein Stück außerhalb der Stadt fahren. Ich passte auf, als wir auf die Landstraße hinauskamen. Es folgte uns kein anderer Wagen. Ich sah einen Weg von der Straße abzweigen. Da sagte ich dem Mann, er solle auf mich warten.» Sie hielt inne und fuhr dann fort. «Der Weg führte zu einer Steilküste und von dort lief ein Pfad zwischen großen gelben Stechginsterbüschen zum Meer hinab. Ich sah mich nach allen Seiten um. Niemand war in der Nähe. Genau in der Höhe meines Kopfes befand sich ein Loch im Felsen. Es war ziemlich klein – ich konnte gerade mit meiner Hand hineinlangen, aber die Höhlung war sehr tief. Ich nahm das in Öltuch eingeschlagene Päckchen, das ich um den Hals hängen hatte, und schob es hinein. Dann brach ich einen Ginsterzweig ab und stopfte das Loch damit zu; so konnte man nicht erkennen, dass dort überhaupt ein Spalt war. Dann merkte ich mir genau die Stelle. Es lag dort ein seltsamer Felsblock im Weg – sah aus wie ein sitzender Hund. Ich fuhr wieder zur Stadt. Ich erwischte gerade noch den Zug. Ich schämte mich ein wenig darüber, dass ich mir vielleicht alles Mögliche einbildete, aber dann sah ich, wie der Mann, der mir gegenübersaß, einer Frau neben mir zuzwinkerte und wieder hatte ich Angst und war froh, die Papiere in Sicherheit zu wissen. Dann sagte die Frau, ich hätte etwas fallen lassen; als ich mich niederbeugte, um danach zu suchen, erhielt ich einen Schlag – da.» Sie berührte mit der Hand den Hinterkopf. «An mehr erinnere ich mich nicht, bis ich im Krankenhaus erwachte.»

Es folgte eine Pause.

«Ich danke Ihnen, Miss Finn», sagte Sir James. «Ich hoffe nur, dass wir Sie nicht allzu sehr ermüdet haben.»

«Ach, das macht nichts. Ich habe ein wenig Kopfschmerzen, aber im Übrigen fühle ich mich ganz wohl.»

Hersheimer gab ihr die Hand. «Auf bald, Jane. Ich werde mich nun um diese Papiere kümmern, bin aber bald zurück und bringe dich dann nach London. Und dann sollst du endlich so leben, wie du es verdienst. Wir werden in die Staaten zurückkehren. Beeil dich also und werde gesund.»

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