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Nichts verblüffte Tuppence mehr als die Selbstverständlichkeit und Einfachheit, mit denen dank Sir James’ energischen Maßnahmen alles geregelt wurde. Der Arzt gab sich ohne weiteres mit der Theorie zufrieden, Mrs Vandemeyer hätte eine Überdosis des Schlafmittels genommen. Eine Obduktion durch den Gerichtssachverständigen hielt er nicht für nötig. Er hätte doch recht verstanden? Mrs Vandemeyer hätte im Begriff gestanden, eine Reise ins Ausland anzutreten, und Sir James und seine jungen Freunde hätten sie besucht, als sie plötzlich zusammengebrochen wäre. Daraufhin hätten sie die Nacht in der Wohnung verbracht, da sie sie nicht allein lassen wollten. So sei es doch gewesen? Und wie stehe es mit den Verwandten der Verstorbenen? Niemand wusste etwas darüber und Sir James verwies ihn an ihren Anwalt.

Kurz darauf erschien eine Schwester, um sich der Toten anzunehmen, und die anderen verließen die Stätte des Unheils. «Und was jetzt?», fragte Hersheimer und machte ein verzweifeltes Gesicht. «Jetzt ist die Sache wohl für uns verloren?» Er seufzte.

Sir James strich sich nachdenklich über das Kinn. «Nein. Es gibt noch immer die Möglichkeit, dass Dr. Hall uns etwas sagen könnte.»

«Natürlich! Den hätte ich beinahe vergessen.»

«Die Aussichten sind zwar gering, aber man muss es versuchen. Ich schlage vor, ihn sobald wie möglich aufzusuchen. Sagen wir nach dem Frühstück.»

Sie verabredeten, dass Tuppence und Hersheimer ins Ritz zurückkehren sollten, um Sir James später im Wagen abzuholen. So geschah es und kurz nach elf Uhr fuhren sie vor dem Metropole vor. Sie fragten nach Dr. Hall, und ein Page ging ihn suchen. Einige Minuten später kam der Doktor auf sie zugeeilt.

«Dürften wir Sie ein paar Minuten in Anspruch nehmen, Dr. Hall?», fragte Sir James höflich. «Darf ich Ihnen Miss Cowley vorstellen. Mr Hersheimer kennen Sie schon?»

Die Augen des Arztes funkelten belustigt auf, als er Hersheimer die Hand drückte. «Ach, da ist ja mein junger Freund, der sich den kleinen Spaß mit meinem Baum geleistet hat. Was macht der Knöchel?»

«Dank Ihrer Behandlung ist er wieder in Ordnung, Herr Doktor.»

«Kommen wir zur Sache: Dürften wir Sie irgendwo ungestört sprechen?», fragte Sir James.

«Aber sicher. Soviel ich weiß, ist dahinten ein Raum, in dem wir ganz unter uns sind.»

Er ging voraus und die anderen folgten ihm. Sie nahmen Platz und der Arzt sah Sir James fragend an.

«Es liegt mir sehr viel daran, Dr. Hall, eine gewisse junge Dame aufzufinden, um von ihr eine Erklärung zu erhalten. Ich habe allen Grund zur Annahme, dass sie sich zu irgendeinem Zeitpunkt in Ihrem Sanatorium in Bournemouth aufgehalten hat. Ich hoffe, dass ich nicht die Grenzen Ihres Berufsgeheimnisses verletze, wenn ich Sie danach frage.»

«Ich nehme an, dass es sich hier um eine Art Vernehmung handelt?»

Sir James zögerte einen Augenblick und sagte dann: «Ja.»

«Ich stehe Ihnen gern zur Verfügung. Wie heißt denn die junge Dame? Ich entsinne mich, dass schon Mr Hersheimer mich gefragt hat.»

«Der Name ist unwichtig», erklärte Sir James leichthin. «Es ist mit großer Wahrscheinlichkeit anzunehmen, dass sie unter falschem Namen bei Ihnen angemeldet wurde. Ich wüsste aber gern von Ihnen, ob Ihnen der Name Mrs Vandemeyer bekannt ist?»

«Mrs Vandemeyer, South Audley Mansions? Ich kenne sie flüchtig.»

«Sie wissen also nicht, was geschehen ist?»

«Was meinen Sie damit?»

«Sie wissen nicht, dass Mrs Vandemeyer tot ist?»

«Himmel, nein! Ich habe keine Ahnung.»

«Sie hat in der vergangenen Nacht eine Überdosis Schlafmittel genommen.»

«Mit Absicht?»

«Es wird ein Versehen angenommen. Jedenfalls wurde sie heute Früh tot aufgefunden.»

«Das sind traurige Nachrichten… Aber ich sehe nicht ganz ein, was dies mit Ihren Nachforschungen zu tun haben kann.»

«Ist es nicht so, dass Mrs Vandemeyer eine junge Verwandte zu Ihnen ins Sanatorium gebracht hat?»

Hersheimer beugte sich jäh vor.

«Stimmt», antwortete der Arzt ruhig.

«Und unter welchem Namen?»

«Janet Vandemeyer. Soviel ich verstand, ist sie ihre Nichte.»

«Und wann kam sie zu Ihnen?»

«Soweit ich mich entsinne, im Juni oder Juli 1915.»

«Ist sie in irgendeiner Weise geistesgestört?»

«Nein, sie ist eigentlich völlig normal. Ich erfuhr von Mrs Vandemeyer, dass das Mädchen mit ihr zusammen an Bord der Lusitania gewesen war, als das Schiff torpediert wurde. Sie hatte einen schweren Nervenschock erlitten.»

«Ich denke, wir befinden uns auf der richtigen Spur», meinte Sir James und blickte um sich.

«Das ist doch…I», rief Hersheimer aus.

Der Arzt betrachtete sie alle verwundert.

«Sie sprachen vorhin davon, dass sie von ihr eine Erklärung wollen», sagte er. «Nun, es fragt sich, ob sie in der Lage ist, eine solche Erklärung abzugeben.»

«Aber Sie sagten doch, sie sei völlig normal?»

«Das ist sie auch. Wenn Sie jedoch eine Erklärung von ihr haben wollen, die sich auf Ereignisse vor dem 7. Mai 1915 bezieht, wird sie nicht in der Lage sein, sie Ihnen zu geben.»

Verblüfft sahen sie den Arzt an.

«Aber warum denn nicht?»

Der Arzt wandte sich dem erregten Amerikaner zu. «Weil Janet Vandemeyer ihr Gedächtnis verloren hat!»

«Was?»

«Ja, ein sehr interessanter Fall. Im Übrigen nicht so selten, wie Sie vielleicht meinen.»

«Und sie erinnert sich an gar nichts?», fragte Sir James.

«An nichts, was vor dem 7. Mai 1915 liegt. Nach diesem Datum ist ihr Gedächtnis so normal wie Ihres oder meines.»

«Was ist denn das erste, dessen sie sich entsinnt?»

«Die Landung, zusammen mit den anderen Überlebenden. Alles, was davor liegt, ist wie ausgelöscht. Sie wusste nicht einmal ihren Namen. Sie konnte nicht einmal mehr ihre eigene Sprache.»

«Aber das ist doch ungewöhnlich!», rief Hersheimer.

«Nein, das ist unter den Umständen durchaus erklärlich. Ich schlug vor, einen Spezialisten zu Rate zu ziehen. Es gibt in Paris einen sehr guten Mann, der sich mit solchen Fällen befasst. Aber Mrs Vandemeyer war dagegen. Sie befürchtete, der Fall könnte dadurch allzu sehr an die Öffentlichkeit dringen.»

«Das kann ich mir vorstellen!»

«Das Mädchen war sehr jung – neunzehn, glaube ich. Man hätte ihr damit sehr schaden können. Im Übrigen gibt es für diese Fälle keine gesicherte Behandlungsmethode. Es kommt weitgehend darauf an, zu warten.»

«Zu warten?»

«Ja, früher oder später kehrt das Gedächtnis wieder – ebenso plötzlich, wie es verschwand. Es ist möglich, dass das Mädchen dann die dazwischen liegende Periode vergisst und das Leben dort fortsetzen will, wo es für sie einmal abbrach – beim Sinken der Lusitania.»

«Und wann könnte das sein?»

«Ach, das kann ich nicht sagen. Zuweilen ist es eine Angelegenheit von Monaten, aber es kann ebenso gut zwanzig Jahre dauern. Es kommt vor, dass ein zweiter schwerer Schock den Umschwung herbeiführt. Er stellt das wieder her, was der erste zerstörte.»

«Ein neuer Schock, sagten Sie?», rief Hersheimer.

«Ja. Da gab es einen Fall in Colorado…» Der Arzt sprach unermüdlich weiter. Offensichtlich beschäftigte ihn dieses Thema.

Hersheimer schien ihm nicht zuzuhören. Er war in seine eigenen Gedanken versunken. Plötzlich jedoch kehrte er aus der Tiefe seiner Überlegungen wieder zurück und schlug mit der Faust auf den Tisch.

«Jetzt weiß ich es! Ich hätte gern Ihre Ansicht als Arzt über das, was ich Ihnen jetzt auseinander setzen möchte, gehört. Nehmen wir an, Jane würde den Teich nochmals überqueren und dasselbe würde sich noch einmal ereignen. Das Unterseeboot, das sinkende Schiff, die Rettungsboote – und so weiter. Wäre es damit nicht zu schaffen?»

«Eine sehr interessante Überlegung, Mr Hersheimer.»

«Ja, das lässt sich machen! Man chartert einen Passagierdampfer…»

«Einen Dampfer», murmelte Dr. Hall.

«Man heuert auch Passagiere an, man chartert ein Unterseeboot – ja, darin liegt meiner Ansicht nach die einzige Schwierigkeit. Natürlich denke ich nicht daran, dass wir tatsächlich ein Torpedo abschießen. Wenn alles wild umeinander läuft und laut genug geschrien wird, dass das Schiff sinkt, sollte das genügen. Hat sie erst einmal ihren Rettungsgürtel umgelegt und wird sie in ein Rettungsboot gedrängt, so würde sie dadurch fraglos in den Mai 1915 zurückversetzt. Was halten Sie davon?»

Dr. Hall sah Hersheimer an.

«Nein», sagte Hersheimer, als wollte er diesen Blick beantworten, «ich bin nicht verrückt. Die Sache ist durchaus möglich. Drüben unternimmt man dergleichen dauernd für den Film. Man wird doch schließlich irgendwo einen alten Dampfer kaufen können.»

Dr. Hall fand seine Stimme wieder. «Aber die Kosten, Sir!»

«Geld ist für mich kein Problem», erklärte Hersheimer.

Dr. Hall wandte sein Gesicht wie Hilfe suchend Sir James zu, der ein wenig lächelte.

«Mr Hersheimer ist sehr reich – außerordentlich reich.»

«Ein ungewöhnlicher Plan», murmelte der Arzt. «Natürlich – der Film! Sehr interessant. Und Sie haben tatsächlich die Absicht, diesen ungewöhnlichen Plan auszuführen?»

«Darauf könnten Sie Ihren letzten Dollar setzen.»

Der Arzt glaubte ihm – und das war eine Art Anerkennung, die seiner Nationalität galt. Hätte ein Engländer dergleichen vorgeschlagen, hätte er an seinem Geisteszustand gezweifelt. «Ich kann aber eine Heilung keineswegs garantieren», erklärte er nun. «Ich möchte das mit Nachdruck betonen.»

«Schon gut. Schaffen Sie Jane herbei und überlassen Sie mir alles Übrige.»

Der Arzt starrte ihn an. «Verzeihung, Mr Hersheimer. Ich dachte, das wäre Ihnen klar.»

«Was wäre mir klar?»

«Dass Miss Janet Vandemeyer sich gar nicht mehr in meiner Pflege befindet.»

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