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«Was in aller Welt hat denn dich dazu getrieben, ein Taxi zu nehmen?», fragte Mr Beresford.

«Ich hatte Angst, zu spät zu kommen.»

«Angst, zu spät zu kommen? Ach, lieber Gott, ich gebe auf!», erklärte Mr Beresford.

«Komm, gehen wir essen. Wie wäre es mit dem Savoy?»

Tommy grinste. «Oder mit dem Ritz?»

«Wenn ich es mir noch mal überlege, ziehe ich eigentlich das Piccadilly vor. Es liegt näher.»

«Sag mal, ist das eine neue Art Galgenhumor bei dir? Oder ist in deinem Kopf vielleicht etwas ausgehakt?», fragte Tommy.

«Die zweite Annahme könnte zutreffen. Ich bin zu Geld gekommen und es war wohl mehr, als ich ertragen kann. Für diese Form geistiger Verwirrung hat der Arzt Horsd’œuvres, Hummer à l’américaine und Pfirsich Melba verordnet. Und das werden wir uns jetzt zu Gemüte führen.»

«Nun sag schon, Tuppence, was ist denn in dich gefahren?»

«Oh, du Ungläubiger!» Tuppence riss ihre Tasche auf. «Sieh dir den an und den und den!»

«Hör nur auf, mit Pfundnoten so herumzuwedeln!»

«Sind ja keine Pfundnoten. Sind fünfmal besser als die und der ist sogar zehnmal besser.»

Tommy stöhnte. «Träume ich oder sind es wirklich Pfundnoten, die mir da in unverantwortlicher Weise vor die Nase gehalten werden?»

«Genau das. Kommst du mit oder nicht?»

«Wohin du mich auch führst – nichts als dir nach. Aber was hast du angestellt? Banküberfall?»

«Alles zu seiner Zeit. Was für ein entsetzlicher Platz ist doch der Piccadilly Circus. Pass auf. Der Bus wird uns gleich überfahren. Wär doch schade, wenn er die schönen Fünfpfundnoten zermalmte.»

«Zur Frühstücksstube?», fragte Tommy, als sie glücklich auf der anderen Seite der Straße angelangt waren.

«Aber das Restaurant ist doch teurer», meinte Tuppence übermütig.

«Das wäre wirklich reiner Luxus. Gehen wir lieber nach unten.»

«Bist du sicher, dass ich dort unten alles bekomme, was ich mir wünsche?»

«Du meinst dieses höchst ungesunde Menü, das du gerade angepriesen hast? Natürlich bekommst du das. Aber jetzt erzähl mir endlich», sagte Tommy, unfähig, seine unterdrückte Neugier noch länger zu bezähmen, während sie bereits im Genug ihres Horsd’œuvre schwelgten, «was hast du angestellt?»

Und Tuppence erzählte. «Und das Seltsame an der ganzen Geschichte ist», erklärte sie abschließend, «dass ich tatsächlich den Namen der Jane Finn erfunden habe! Meines armen Vaters wegen wollte ich meinen eigenen nicht nennen.»

«Mag sein», antwortete Tommy nachdenklich. «Aber erfunden hast du ihn nicht.»

«Wieso nicht?»

«Nein. Ich habe ihn dir genannt. Entsinnst du dich nicht mehr? Gestern habe ich dir erzählt, dass ich zwei Männer von einer Jane Finn habe reden hören.»

«Stimmt. Jetzt entsinne ich mich.» Tuppence verfiel in Schweigen. Plötzlich richtete sie sich auf. «Tommy!»

«Was ist?»

«Wie sahen denn die beiden Männer aus?»

Tommy runzelte die Stirn. «Der eine war ein großer, etwas dicker Kerl. Glatt rasiert, glaube ich – und dunkel.»

«Das ist er!», rief Tuppence und stieß dabei einen leichten Schrei aus. «Das ist Whittington. Und der andere?»

«Ich kann mich nicht erinnern. Er ist mir nicht aufgefallen. Tatsächlich war es auch nur der etwas fremdartig klingende Name, der meine Aufmerksamkeit weckte.»

«Und da sagen die Leute, dass es keine Häufung von Zufällen gäbe!» Glücklich wandte sich Tuppence ihrem Pfirsich Melba zu.

Tommy jedoch war ernst geworden. «Hör zu, Tuppence, wohin soll die Sache führen?»

«Zu mehr Geld.»

«Das weiß ich. Aber wie stellst du dir den nächsten Schritt vor? Wie willst du dieses Spiel weiterführen?»

«Ach!» Tuppence legte ihren Löffel hin. «Du hast Recht, Tommy. Das ist wirklich eine schwierige Frage.»

«Immerhin kannst du ihm ja nicht ständig etwas vormachen. Und im Übrigen bin ich auch keinesfalls sicher, ob es sich nicht tatsächlich um eine Art Erpressung handelt.»

«Unsinn! Erpressung ist doch, wenn man jemandem droht, etwas weiterzuerzählen, falls man nicht eine bestimmte Summe Geld bekommt. Hier aber kann ich gar nichts erzählen, weil ich ganz einfach nichts weiß.»

Tommy war nicht sehr überzeugt. «Also gut, aber was tun wir jetzt? Heute Vormittag hatte es Whittington eilig, dich loszuwerden, aber das nächste Mal wird er etwas erfahren wollen, bevor er sich von seinem Geld trennt. Wie viel du weißt und woher du deine Informationen hast und so weiter. Was willst du dann sagen?»

Tuppence dachte angestrengt nach. «Überlegen wir einmal. Bestell Kaffee, Tommy! Er regt die Gehirntätigkeit an. Ich habe derartig viel gegessen…»

«Ziemlich gierig, aber das könnte man von mir auch sagen… Zwei Kaffee, bitte», er wandte sich an den Kellner, «einen Türkischen, einen Schwarzen.»

Tuppence nippte mit versonnenem Ausdruck an ihrem Kaffee und wies Tommy ab, als er wieder zu sprechen begann. «Still! Ich denke.»

«Spontane Anwandlung von Tiefsinn», erwiderte Tommy und verfiel seinerseits in Schweigen.

«Ich hab’s!», rief Tuppence schließlich. «Ich habe einen Plan. Wir müssen mehr in Erfahrung bringen.»

Tommy klatschte spöttisch Beifall.

«Mach dich nicht lustig! Das können wir nur über Whittington. Wir müssen feststellen, wo er wohnt und was er treibt. Wir müssen einfach alles über ihn herauskriegen. Ich kann das nicht, weil er mich kennt – dich aber hat er offenbar nur ganz flüchtig gesehen. Es ist kaum anzunehmen, dass er dich wiedererkennt. Im Übrigen sehen ja fast alle jungen Männer einander ähnlich.»

«Ich möchte die letzte Bemerkung doch ganz energisch zurückweisen!»

«Mein Plan ist nun folgender», fuhr Tuppence unbeirrt fort, «ich gehe morgen allein zu ihm. Ich werde ihn ebenso wie heute hinhalten. Ob ich nun gleich mehr Geld kriege oder nicht, ist gleichgültig. Mit fünfzig Pfund sollten wir ja ein paar Tage durchkommen.»

«Sogar noch etwas länger!»

«Du hältst dich solange draußen auf. Wenn ich herauskomme, werde ich nicht mit dir reden, für den Fall, dass er uns beobachtet. Aber ich werde in der Nähe bleiben, und wenn er aus dem Gebäude tritt, lasse ich ein Taschentuch oder irgendetwas fallen, und du saust hinterher.»

«Wohin?»

«Du folgst ihm natürlich, Dummkopf.»

«Ganz so, wie man es in Büchern liest? Ich habe das Gefühl, dass man sich im wirklichen Leben etwas blöde vorkäme, wenn man stundenlang auf der Straße herumsteht. Die Leute werden sich fragen, was ich eigentlich treibe.»

«Doch nicht in einer solchen Geschäftsgegend. Da sind alle in Eile. Wahrscheinlich wird dich überhaupt niemand bemerken.»

«Du machst jetzt schon zum zweiten Mal eine solche Bemerkung. Ich verzeihe dir. Jedenfalls wird es eine ganz lustige Sache. Was machst du übrigens heute Nachmittag?»

Tuppence wurde wieder nachdenklich. «Ich hatte an Hüte gedacht. Oder Strümpfe! Oder…»

«Vorsicht!», warnte Tommy. «Auch fünfzig Pfund gehen einmal zu Ende. Wie wäre es, wenn wir heute Abend zusammen äßen und dann in ein Kino gingen?»

«Das wäre nett.»

Langsam schlenderte Tommy bis zum Ende der Straße und wieder zurück. Als er gerade wieder vor das Gebäude kam, stürzte Tuppence über die Straße auf ihn zu. «Tommy!»

«Ja? Was ist los?»

«Das Büro ist geschlossen. Niemand rührt sich.»

«Das ist doch seltsam.»

«Nicht wahr? Komm mit.»

Tommy folgte ihr. Als sie auf der Treppe ins dritte Stockwerk gelangten, trat ein junger Mann aus seinem Büro. Er zögerte einen Augenblick und sprach dann Tuppence an: «Wollten Sie zu den ‹Estnischen Glaswaren›?»

«Ja, bitte.»

«Die haben geschlossen. Seit gestern Nachmittag. Wie sie sagten, wird das Unternehmen aufgelöst – falls es überhaupt je bestanden hat. Aber jedenfalls ist das Büro zu vermieten.»

«Danke», stammelte Tuppence. «Sie kennen wohl nicht zufällig Mr Whittingtons Adresse?»

«Leider nein. Es ging alles so schnell.»

«Ich danke Ihnen vielmals», sagte Tommy. «Komm, Tuppence.» Sie gingen wieder auf die Straße hinunter, wo sie einander verständnislos ansahen.

«Das wäre geplatzt», erklärte Tommy schließlich.

«Niemals hätte ich das geglaubt», jammerte Tuppence.

«Kopf hoch, daran lässt sich nichts ändern.»

«Wieso nicht?» Tuppence stieß ihr kleines Kinn energisch vor. «Glaubst du, das wäre das Ende? Da irrst du dich. Das ist der Anfang.»

«Der Anfang wovon?»

«Von unserem Abenteuer. Tommy, wenn sie solche Angst haben, dass sie einfach davonlaufen, ist das doch nur ein Zeichen dafür, dass hinter dieser Sache Jane Finn sehr viel steckt! Verstehst du? Aber wir werden dem auf den Grund gehen. Die bringen wir zur Strecke.»

«Sehr schön, aber wie?»

«Wir müssen ganz von vorn anfangen. Leih mir mal wieder einen Bleistift. Danke. Warte mal – stör mich nicht. Da.» Tuppence gab ihm den Bleistift zurück und betrachtete äußerst zufrieden einen Fetzen Papier, auf den sie etwas geschrieben hatte.

«Was ist denn das?»

«Eine Anzeige.»

Laut las Tommy den Inhalt: «Informationen jeder Art über Jane Finn erbeten. Auskünfte an J. A.»

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