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Sie waren wie vor den Kopf geschlagen. Tommy nahm die Niederlage mit Fassung hin. Aber nicht Hersheimer. «Wie in aller Welt hat er denn das angestellt? Das möchte ich wissen!»

Tommy schüttelte den Kopf: «Daher sahen die Nähte auch so neu aus. Wir hätten es uns denken können…»

«Ach, zum Teufel mit den Nähten! Wie hat er es überhaupt erfahren? Meinen Sie, es könnte in Janes Zimmer ein Mikrofon eingebaut sein? So etwas muss es doch sein!»

Aber Tommy war zu nüchtern, um sich mit einer solchen Erklärung anfreunden zu können. «Niemand hat im Voraus wissen können, dass sie in dieses Haus kommen würde – noch weniger gerade in dieses Zimmer.»

«Das stimmt. Dann gehört vielleicht eine der Schwestern zur Bande und hat an der Tür gelauscht. Wäre das nicht eine Möglichkeit?»

«Es ist ja nun auch egal», sagte Tommy entmutigt. «Er kann es schon vor Monaten erfahren und sich die Papiere geholt haben… Aber nein! Man hätte sie sogleich veröffentlicht.»

«Bestimmt! Irgendjemand ist uns heute um etwa eine Stunde zuvorgekommen. Aber wie?»

«Wenn nur Edgerton hier wäre», sagte Tommy.

«Warum? Es war schon passiert, ehe wir herkamen.»

«Ja –» Tommy zögerte. Er vermochte sein Gefühl nicht recht zu erklären – diese völlig unlogische Vorstellung, dass Edgertons Anwesenheit die Situation verändert hätte. So sagte er nur: «Jedenfalls haben wir verloren. Jetzt bleibt mir nur noch eins, so bald wie möglich nach London zurückzukehren. Ich muss Mr Carter warnen. Es handelt sich jetzt vielleicht nur noch um Stunden, bis die Bombe platzt.»

Es war eine unangenehme Aufgabe, aber Tommy hatte nicht die Absicht sich ihr zu entziehen. So nahm er den Mitternachtszug nach London. Hersheimer sollte die Nacht über in Holyhead bleiben.

Eine halbe Stunde nach seiner Ankunft stand Tommy bleich und übermüdet vor seinem Auftraggeber.

«Ich habe Ihnen Schlechtes zu berichten, Sir!»

«Sie wollen damit sagen, dass der Vertrag…»

«Sich in Mr Browns Händen befindet, Sir.»

Carter verzog keine Miene. «Na ja», sagte er nach einer Weile, «ich bin immerhin froh, dass ich es jetzt mit Sicherheit weiß.»

Tommy schwieg. Er sah sehr niedergeschlagen aus.

«Nehmen Sie es sich nicht so zu Herzen, mein Freund! Sie haben Ihr Bestes getan!»

«Ich danke Ihnen, Sir.»

«Ich mache mir selber sehr große Vorwürfe», fuhr Carter fort, «seit ich die andere Nachricht erhalten habe.»

Sein Tonfall ließ Tommy aufhorchen. «Ist denn noch etwas, Sir?»

«Ich fürchte, ja!» Mr Carter streckte seine Hand nach einem Bogen Papier aus, der auf seinem Schreibtisch lag.

«Tuppence –?»

«Lesen Sie selber.»

Die mit der Maschine geschriebenen Zeilen tanzten vor Tommys Augen. Die Beschreibung eines grünen, kleinen Hutes, eines Mantels mit einem Taschentuch in der Tasche, das die Initialen P. L. C. trug. Fragend und beunruhigt sah er Mr Carter an.

«An der Küste von Yorkshire, in der Nähe von Ebury angetrieben. Es sieht sehr nach einem Verbrechen aus.»

«Mein Gott!», stöhnte Tommy. «Diese Schurken – ich werde nicht ruhen, bis ich mit ihnen abgerechnet habe. Ich werde sie zur Strecke bringen! Ich werde…»

«Ich weiß, was Sie empfinden, mein armer Junge. Aber es nützt ja nichts. Es mag hart klingen, aber ich kann Ihnen eines raten: Finden Sie sich mit dem Verlust ab. Die Zeit ist barmherzig. Sie werden vergessen.»

«Tuppence vergessen? Niemals!»

«Das glauben Sie jetzt. Die ganze Sache tut mir außerordentlich Leid – wirklich sehr Leid.»

Tommy riss sich jäh zusammen. «Ich nehme Ihre Zeit zu sehr in Anspruch, Sir», brachte er mit Mühe hervor. «Sie haben keine Veranlassung, sich Vorwürfe zu machen. Wir waren eben zu jung und zu unerfahren.»

Im Ritz packte Tommy seine wenigen Habseligkeiten, aber mit seinen Gedanken war er ganz woanders. Er war völlig verwirrt, dass das Schicksal mit solcher Härte in sein sonst so alltägliches Leben eingegriffen hatte. Wie viel Spaß hatten sie miteinander gehabt – Tuppence und er. Und jetzt – nein, er konnte es nicht glauben…

Man brachte ihm ein Schreiben, ein paar freundliche Worte des Mitgefühls von Edgerton, der die Nachricht in der Zeitung gelesen hatte. Die Überschrift hatte gelautet: EHEMALIGE ANGEHÖRIGE DES WEIBLICHEN HILFSDIENSTES WAHRSCHEINLICH ERTRUNKEN. Der Brief endete mit dem Angebot eines Postens auf einer Ranch in Argentinien, an der Sir James beteiligt war.

«Nett von ihm», murmelte Tommy, während er das Schreiben fallen ließ.

Die Tür wurde aufgerissen und Hersheimer stürmte herein. Er hielt eine Zeitung in der Hand. «Na hören Sie! Was saugen die sich denn da über Tuppence aus den Fingern?»

«Es ist wahr.»

«Wollen Sie damit sagen, die hätten sie erledigt?»

«Als sie den Vertrag in Händen hatten, war sie für sie wohl nichts mehr wert, und sie hatten Angst, sie laufen zu lassen.»

«Da soll doch der Teufel!», rief Hersheimer. «Das mutige Mädchen und…»

Jäh sprang Tommy auf. Es war ihm plötzlich alles unerträglich geworden. «Machen Sie, das Sie wegkommen! Ihnen ist es im Grunde doch ganz gleich! In Ihrer verdammten, kaltblütigen Art wollten Sie sie zwar heiraten – aber ich habe sie geliebt! Ich hätte ohne ein Wort der Widerrede mit angesehen, wenn sie Sie geheiratet hätte, weil Sie ihr das Leben bieten konnten, das sie verdient – während ich ja nur ein armer Teufel bin. Aber nicht, weil sie mir gleichgültig war!»

«Nun hören Sie mal zu», begann Hersheimer.

«Gehen Sie zum Teufel! Kümmern Sie sich um Ihre Kusine. Tuppence ist mein Mädchen. Ich habe sie immer schon geliebt, schon als wir als Kinder miteinander spielten. Dann in Schwesterntracht…»

Hersheimer unterbrach ihn. «Schwesterntracht! Bei Gott, ich muss ja nach Colney Hatch. Ich hätte darauf schwören können, dass ich Jane auch schon in Schwesterntracht gesehen habe. Aber das schien mir ganz unmöglich. Aber jetzt weiß ich es. Sie war es, die ich damals in dem Sanatorium in Bournemouth mit Whittington sprechen sah. Da war sie keine Patientin, sondern eine Schwester.»

«Wahrscheinlich hat sie von Anfang an mit den anderen unter einer Decke gesteckt», rief Tommy zornig. «Es würde mich nicht wundern, wenn sie Danvers die Papiere gestohlen hat.»

«Hol’s der Teufel!», schrie Hersheimer. «Sie ist meine Kusine.»

«Mir ist es ganz gleich, wer oder was sie ist! Verschwinden Sie endlich!», schrie Tommy.

Die beiden jungen Männer waren nah daran, mit den Fäusten aufeinander loszugehen. Plötzlich jedoch, wie durch Zauberei, verebbte Hersheimers Zorn.

«Schon gut. Ich mache Ihnen keine Vorwürfe. Es ist gut, dass Sie es gesagt haben. Ich bin doch wirklich einer der größten Idioten, die frei herumlaufen. Beruhigen Sie sich» – Tommy hatte eine ungeduldige Handbewegung gemacht –, «ich gehe gleich – zum Bahnhof der North Western Railway, falls Sie das interessiert.»

«Interessiert mich ganz und gar nicht», brummte Tommy. Als sich die Tür hinter Hersheimer schloss, trat Tommy wieder an seinen Koffer.

Wohin sollte er fahren? Er hatte keine Pläne, abgesehen von seiner Entschlossenheit, seine Rechnung mit Mr Brown zu begleichen. Noch einmal las er Sir James’ Brief und schüttelte den Kopf.

«Ich muss ihm wohl antworten.» Er trat an den Schreibtisch. Es fand sich dort zwar eine Unmenge Umschläge, jedoch kein Schreibpapier. Da fiel ihm ein, dass in Hersheimers Wohnzimmer ein ansehnlicher Vorrat Briefbogen lag.

Es war niemand im Zimmer. Tommy trat an den Schreibtisch und öffnete die Mittelschublade. Eine Fotografie, die mit dem Bild nach oben achtlos hineingeworfen war, fesselte seinen Blick. Er stand wie angewurzelt.

Wie in aller Welt kam ein Bild der kleinen Französin Annette in Hersheimers Schreibtisch?

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