12

Freitag und Samstag verstrichen ohne weiteres Ereignis. Tuppence hatte auf ihr Schreiben an Mr Carter eine kurze Antwort erhalten. Er habe sie auf das Risiko deutlich hingewiesen. Wenn Tommy etwas zugestoßen sei, so bedauere er dies zutiefst – er könne jedoch nichts unternehmen.

Das war nicht gerade ein Trost. Ohne Tommy machte ihr die ganze Sache keinen rechten Spaß mehr und zum ersten Mal begann Tuppence am Erfolg zu zweifeln.

Obwohl sie daran gewöhnt war, die Führung zu übernehmen, und sich auf ihre schnelle Entschlussfähigkeit und ihren Scharfsinn etwas einbildete, hatte sie sich in Wirklichkeit mehr auf Tommy verlassen, als es ihr bewusst geworden war. Er war in seinem Urteil und in seiner sachlichen Art so zuverlässig, das sich Tuppence ohne ihn wie ein Schiff ohne Ruder fühlte. Es war seltsam, dass Hersheimer, der zweifellos viel tüchtiger war als Tommy, ihr nicht das gleiche Gefühl der Sicherheit zu geben vermochte.

Es wurde ihr klar, dass ihre Mission mit Gefahren verbunden war, die sie bisher noch gar nicht recht erkannt hatte. Das Ganze hatte wie ein Spiel begonnen. Nun jedoch war der erste Schimmer des Abenteuerlichen dahin und die harte Wirklichkeit kam zum Vorschein. Nur auf Tommy kam es jetzt noch an. Immer wieder musste sich Tuppence im Verlauf des Tages die Tränen aus den Augen wischen. «Das ist ja idiotisch», sagte sie zu sich selbst. «Natürlich magst du ihn gern. Du hast ihn dein ganzes Leben lang gekannt. Aber deswegen braucht man nicht gleich rührselig zu werden.»

Inzwischen war von Boris nichts mehr zu sehen. Er kam nicht in die Wohnung und Hersheimer wartete umsonst mit seinem Wagen. Tuppence gab sich neuen Überlegungen hin. Obwohl sie Hersheimers Einwände als berechtigt anerkannte, hatte sie andererseits doch nicht den Gedanken aufgeben können, sich an Sir James Peel Edgerton zu wenden. Sie hatte sogar seine Adresse im Telefonbuch festgestellt. Hatte er wirklich damals beabsichtigt, sie zu warnen? Und wenn ja, warum? Zumindest wollte sie ihn um eine Erklärung bitten. Am Sonntagnachmittag hatte sie frei. Sie würde mit Hersheimer zusammentreffen und ihn von der Richtigkeit ihres Standpunktes überzeugen.

Es bedurfte tatsächlich ihrer ganzen Überredungskunst. Doch schließlich gab Hersheimer nach, und sie fuhren in seinem Wagen zur Carlton House Terrace.

Ein makellos gekleideter Diener öffnete ihnen die Tür. Tuppence war ein wenig nervös. Immerhin war es doch von ihr eine ziemliche Frechheit. Sie hatte beschlossen, nicht zu fragen, ob Sir James zu Hause sei, sondern einen etwas persönlicheren Ton anzuschlagen.

«Würden Sie Sir James fragen, ob ich ihn ein paar Minuten sprechen könnte? Ich habe eine wichtige Nachricht für ihn.»

Der Diener zog sich zurück, war jedoch bald wieder da.

Er führte sie in einen Raum im rückwärtigen Teil des Hauses, der als Bibliothek diente. Wohin man blickte, waren Bücher, und Tuppence bemerkte eine ganze Wand voller Werke über Verbrechen und Kriminologie. Ein altmodischer Kamin und ein paar tiefe Ledersessel vervollständigten das Bild. Am Fenster stand ein großer Schreibtisch. Dort saß der Herr des Hauses.

Bei ihrem Eintreten erhob er sich. «Sie haben eine Nachricht für mich? Ach, Sie sind es…!» Er hatte Tuppence erkannt. «Sie haben mir wohl etwas von Mrs Vandemeyer auszurichten?»

«Eigentlich nicht», erwiderte Tuppence. «Ich habe das nur gesagt, um eingelassen zu werden. Übrigens – darf ich Ihnen Mr Hersheimer vorstellen – Sir James Peel Edgerton.»

«Freut mich, Sie kennen zu lernen», sagte der Amerikaner.

«Wollen Sie sich nicht setzen?», fragte Sir James und zog zwei Stühle heran.

«Sir James», begann Tuppence und sprang mitten hinein, «Sie halten es wahrscheinlich für eine Unverschämtheit von mir, hier einfach so einzudringen. Denn natürlich hat die ganze Sache nicht das Geringste mit Ihnen zu tun. Sie sind eine sehr bedeutende Persönlichkeit, während man das von Tommy und mir nicht behaupten kann.» Sie hielt inne und holte Atem.

«Tommy?», fragte Sir James und sah den Amerikaner an.

«Nein, das ist Julius», erklärte Tuppence. «Ich bin ziemlich aufgeregt und daher erzähle ich wohl ein wenig wirr. Was ich wirklich wissen möchte, ist Folgendes: Wollten Sie mich vor Mrs Vandemeyer warnen?»

«Mein liebes Fräulein, soweit ich mich entsinne, habe ich Ihnen damals nichts anderes gesagt, als dass es heutzutage sehr viele gute Stellen gibt.»

«Ja. Aber es war doch ein Wink, nicht wahr?»

«Vielleicht», antwortete Sir James ernst.

«Nun würde ich gern wissen, warum. Sie mir den Wink gaben.»

Sir James lächelte über ihren Eifer.

«Nehmen wir an, Mrs Vandemeyer klagte gegen mich wegen Verleumdung und übler Nachrede?»

«Ich weiß, Anwälte sind immer sehr vorsichtig. Aber könnte man nicht sozusagen ein bisschen ‹ins Unreine› reden ohne sich näher festzulegen? Alles Weitere wird man ja dann sehen.»

«Gut, reden wir also ‹ins Unreine›. Hätte ich eine Schwester, die gezwungen wäre, sich ihren Lebensunterhalt zu verdienen, würde ich sie nicht gern in Mrs Vandemeyers Diensten sehen. Es ist nicht der richtige Ort für ein junges Mädchen. Mehr kann ich Ihnen nicht sagen.»

«Ich danke Ihnen vielmals. Aber ich bin wirklich nicht so unerfahren. Ich wusste genau, dass sie zu der gefährlichen Sorte gehört – deswegen bin ich ja überhaupt hingegangen.» Sie hielt inne, als sie eine gewisse Bestürzung im Gesicht des Anwalts bemerkte, und fuhr dann fort: «Ich glaube, es ist besser, ich erzähle Ihnen die ganze Geschichte, Sir James. Ich habe das Gefühl, dass Sie es ohnehin merken würden, wenn ich Ihnen nicht die volle Wahrheit sagte, und so ist es besser, Sie hören gleich alles von Anfang an. Was meinen Sie, Hersheimer?»

«Wenn Sie schon darüber reden, dann sollten Sie auch gleich alles auspacken», antwortete der Amerikaner, der bis dahin schweigend dabeigesessen hatte.

«Ja, erzählen Sie mir alles», sagte auch Sir James. «Wer ist also dieser Tommy?»

Ermutigt begann Tuppence ihren Bericht und der Anwalt lauschte ihr mit gespannter Aufmerksamkeit.

«Sehr interessant», bemerkte er, als sie geendet hatte. «Vieles von dem, was Sie mir da erzählt haben, war mir bereits bekannt. Ich habe in Bezug auf diese Jane Finn schon meine eigene Theorie entwickelt. Sie haben bisher ausgezeichnete Arbeit geleistet, es ist nur höchst bedauerlich, dass dieser – wie hat er sich Ihnen gegenüber genannt –, dieser Mr Carter zwei so junge Leute in eine solche Sache hineinschlittern lässt. Übrigens, wie ist eigentlich Mr Hersheimer dazugestoßen? Das haben Sie mir noch nicht erklärt.»

Hersheimer gab selber die Antwort.

«Ich bin Janes Vetter», erklärte er.

«So –?»

«Oh, Sir James», mischte sich nun Tuppence wieder ein, «was ist Ihrer Ansicht nach aus Tommy geworden?»

«Tja.» Der Anwalt erhob sich und begann langsam auf und ab zu gehen. «Als Sie kamen, stand ich gerade im Begriff, meine Sachen zu packen, um auf ein paar Tage nach Schottland zum Fischen zu fahren. Ich wollte den Nachtzug nehmen. Aber es gibt ja verschiedene Arten von Fischzügen. So bleibe ich lieber und sehe einmal zu, ob wir nicht die Spur dieses jungen Mannes aufnehmen können.»

«Ach!» Tuppence schlug begeistert die Hände zusammen.

«Wie gesagt – es ist von Carter nicht zu verantworten, dass er solche Kinder, wie Sie beide, an eine solche Aufgabe gesetzt hat. Seien Sie jetzt nicht beleidigt, Miss… wie ist doch Ihr Name?»

«Cowley. Prudence Cowley. Aber alle meine Freunde nennen mich Tuppence.»

«Also gut, dann nenne ich Sie Tuppence, da ich ja bestimmt zu Ihren Freunden zählen werde. Zurück zu Ihrem Tommy. Offen gesagt, die Sache sieht für ihn ziemlich übel aus. Kein Zweifel. Aber geben Sie die Hoffnung nicht auf.»

«Und Sie wollten uns wirklich helfen? Sehen Sie, Hersheimer! Er wollte mich nämlich nicht zu Ihnen gehen lassen», fügte sie zur Erklärung hinzu.

«Soso», sagte der Anwalt und ließ seinen scharfen Blick erneut auf Hersheimer ruhen. «Und warum nicht?»

«Ich fand, man könnte Sie mit einer so unwesentlichen Angelegenheit nicht belästigen.»

«Diese unwesentliche Angelegenheit, wie Sie sie nennen, ist aber mit einer sehr wesentlichen eng verbunden. Sie ist vielleicht noch wesentlicher, als Sie oder Miss Tuppence ahnen können. Wenn dieser junge Mann noch lebt, wird er uns sehr wichtige Informationen geben können. Deshalb müssen wir ihn finden.»

«Ja, aber wie?»

Sir James lächelte. «Und doch gibt es einen Menschen in Ihrer nächsten Umgebung, der mit größter Wahrscheinlichkeit weiß, wo er sich befindet.»

«Und wer wäre das?», fragte Tuppence verwundert.

«Mrs Vandemeyer.»

«Ja, aber sie würde es uns doch niemals sagen!»

«Richtig. Und genau dort beginnt meine Aufgabe. Ich halte es für sehr wahrscheinlich, dass ich Mrs Vandemeyer dazu bringen kann, mir das zu erzählen.»

«Und wie?», fragte Tuppence und riss die Augen auf.

«Indem ich ihr eine Reihe von Fragen stelle», antwortete Sir James leichthin. «Das ist unsere Methode.»

«Und wenn sie nun nichts sagt?», fragte Hersheimer.

«Ich glaube, sie wird reden. Ich verfüge über ein paar recht wirkungsvolle Hebel, die ich ansetzen kann. Aber sollte dennoch dieser Fall eintreten, was höchst unwahrscheinlich wäre, bliebe noch immer die Möglichkeit der Bestechung.»

«Ausgezeichnet!», rief Hersheimer. «Und da komme ich ins Spiel. Falls nötig, können Sie bei mir mit Summen bis zu einer Million Dollar rechnen. Jawohl.»

Sir James musterte Hersheimer eine ganze Weile. «Mr Hersheimer», erklärte er schließlich, «das ist ein sehr hoher Betrag.»

«Gewiss. Aber diesen Leuten kann man kein Trinkgeld anbieten. Ich kann den Betrag sogleich zur Verfügung stellen, wobei auch noch ein entsprechendes Honorar für Sie herausspringt.»

Sir James errötete ein wenig. «Von einem Honorar kann nicht die Rede sein. Ich bin kein Privatdetektiv.»

«Entschuldigen Sie. Ich war wohl wieder ein wenig übereilt. Ich hatte die Absicht, eine hohe Belohnung für etwaige Nachforschungen über Jane auszusetzen, aber bei Scotland Yard hat man mir dringend davon abgeraten. Aber diese Burschen sind ja verkalkt.»

«Wahrscheinlich hatten sie Recht», entgegnete Sir James.

«Auf Mr Hersheimer können Sie sich in dieser Hinsicht verlassen», warf Tuppence ein. «Er macht Ihnen da nichts vor. Geld hat er haufenweise.»

«Mein Alter hat es großartig verstanden, Geld zu machen», erklärte Hersheimer. «Wie denken Sie sich die Sache?»

Sir James überlegte eine Weile. «Es ist keine Zeit mehr zu verlieren. Je eher wir zuschlagen, desto besser.» Er wandte sich an Tuppence: «Wissen Sie, ob Mrs Vandemeyer heute Abend zum Essen ausgeht?»

«Ja, ich glaube wohl, aber sie wird nicht lange wegbleiben, denn sonst hätte sie den Schlüssel vom Sicherheitsschloss mitgenommen.»

«Gut. Ich werde sie gegen zehn Uhr aufsuchen. Um wie viel Uhr müssen Sie zu Hause sein?»

«Um halb zehn bis zehn etwa.»

«Kommen Sie gegen halb zehn. Und ich bin um zehn Uhr da. Mr Hersheimer kann ja unten in einem Taxi warten.»

«Er hat sich bereits einen Rolls-Royce gekauft», erklärte Tuppence stolz, als wäre sie selber die Besitzerin des Wagens.

«Noch besser. Falls es mir gelingt, die Adresse zu erfahren, können wir uns gleich dorthin begeben und, wenn nötig, Mrs Vandemeyer mitnehmen. Verstehen Sie?»

«Ja.» Tuppence erhob sich. «Jetzt fühle ich mich schon sehr viel wohler!»

«Verlassen Sie sich noch nicht zu sehr darauf, Miss Tuppence.» Hersheimer wandte sich dem Anwalt zu. «Ich hole Sie also, falls es Ihnen recht ist, gegen halb zehn Uhr ab.»

«Das wird wohl am besten sein.» Er gab beiden die Hand und einen Augenblick später standen sie wieder draußen.

«Ist er nicht großartig?», meinte Tuppence begeistert.

«Nun ja, ich geb’s zu. Der ist in Ordnung. Wie wär’s, fahren wir gleich ins Ritz zurück?»

«Ich glaube, ich muss ein wenig laufen. Ich bin viel zu aufgeregt. Setzen Sie mich doch am Park ab. Oder wollen Sie mitkommen?»

Hersheimer schüttelte den Kopf. «Ich fahre erst tanken. Und dann muss ich noch ein paar Telegramme abschicken.»

«Gut. Ich bin um sieben Uhr im Ritz. Aber wir werden auf dem Zimmer essen müssen. In diesem Fähnchen kann ich mich unten nicht sehen lassen.»

Tuppence ging raschen Schrittes durch den Park. Sie warf einen Blick auf ihre Uhr. Es war nun fast sechs. Sie fühlte sich nach der frischen Luft und der körperlichen Bewegung sehr viel wohler. Je näher sie Hyde Park Corner kam, umso stärker wurde die Versuchung, sogleich zum South Audley Mansions zu gehen.

Sie meinte, es könnte nichts schaden, das Haus wenigstens aus der Ferne zu betrachten. Vielleicht fiele es ihr dann leichter, bis halb zehn zu warten.

Das Haus sah aus wie immer. Was Tuppence eigentlich erwartet hatte, hätte sie nicht zu sagen vermocht. Sie wandte sich gerade ab, als sie einen schrillen Pfiff vernahm. Der treue Albert kam aus dem Haus auf sie zugerannt.

Tuppence furchte die Stirn. Es passte keineswegs zu ihrem Programm, dass man ihre Anwesenheit hier bemerkte. Albert war vor Erregung rot im Gesicht. «Sie reist ab!», schrie er.

«Wer reist ab?», fragte Tuppence scharf.

«Die Verbrecherin. Die tolle Rita. Sie hat mir gerade sagen lassen, ich soll ein Taxi besorgen.»

«Albert», rief Tuppence, «du bist ein toller Kerl! Ohne dich wäre sie uns jetzt entwischt.»

Albert errötete bei diesem Lob vor Stolz noch mehr.

«Es ist keine Zeit mehr zu verlieren», sagte Tuppence und überquerte die Straße. «Ich muss sie aufhalten. Ich muss sie um jeden Preis so lange aufhalten, bis…» Sie unterbrach sich. «Albert, hier ist doch eine Telefonzelle, nicht wahr?»

Der Junge schüttelte den Kopf. «Die meisten Wohnungen haben ihr eigenes Telefon. Aber um die Ecke ist eine Zelle.»

«Geh und ruf gleich im Ritz an. Frag nach Mr Hersheimer. Er soll sofort Sir James abholen und herkommen. Wenn du ihn nicht erreichst, rufst du Sir James Peel Edgerton an. Seine Nummer findest du im Telefonbuch. Erzähl ihm, was los ist. Die Namen vergisst du doch nicht?»

«Verlassen Sie sich nur auf mich. Das mache ich schon.»

Tuppence holte tief Atem, betrat das Haus und lief zur Nummer 20 hinauf. Wie sie Mrs Vandemeyer aufhalten sollte, war ihr unklar, aber irgendwie musste es ihr gelingen. Was hatte wohl diese plötzliche Abreise veranlasst? Hatte Mrs Vandemeyer Verdacht geschöpft?

Tuppence drückte energisch auf die Klingel. Vielleicht würde sie von der Köchin etwas erfahren.

Nichts geschah. Nachdem Tuppence eine Weile gewartet hatte, klingelte sie wieder und drückte mit dem Finger längere Zeit auf den Klingelknopf. Endlich vernahm sie Schritte, und einen Augenblick später öffnete Mrs Vandemeyer selbst. Beim Anblick des Mädchens zog sie die Augenbrauen hoch.

«Sie?»

«Ich hatte Zahnschmerzen, gnädige Frau», erklärte Tuppence. «Ich wollte lieber zu Hause sein und einen ruhigen Abend verbringen.»

«Das ist aber Pech», sagte Mrs Vandemeyer kalt. «Sie sollten sich zu Bett legen.»

«Ach, ich kann ein wenig in der Küche sitzen, gnädige Frau. Die Köchin wird ja…»

«Die Köchin ist ausgegangen», erwiderte Mrs Vandemeyer scharf. «Ich habe sie weggeschickt. Sie gehen wirklich besser zu Bett.»

Plötzlich hatte Tuppence Angst. In Mrs Vandemeyers Stimme war ein Unterton, der ihr nicht gefiel.

«Ich will nicht…»

Und schon berührte, ehe sie sichs versah, kalter Stahl ihre Schläfe. Unerbittlich und drohend sagte Mrs Vandemeyer. «Sie Dummkopf! Glauben Sie etwa, ich wüsste nicht Bescheid? Wenn Sie sich wehren oder schreien, schieße ich Sie nieder.»

Der Stahl drückte etwas fester gegen die Schläfe des Mädchens.

«Und nun marsch», fuhr Mrs Vandemeyer fort. «Hier – in mein Zimmer! Wenn ich mit Ihnen fertig bin, gehen Sie ins Bett. Und Sie werden schlafen, meine kleine Spionin, gut schlafen werden Sie.»

Das Zimmer befand sich in wilder Unordnung; überall lagen Kleidungsstücke herum. Mitten auf dem Fußboden standen ein halb gepackter Koffer und ein Hutkoffer.

Tuppence riss sich zusammen. Ihre Stimme zitterte ein wenig, aber sie hatte den Mut noch nicht verloren. «Hören Sie», sagte sie, «das ist doch Unsinn. Sie können mich doch nicht erschießen. Im Haus würde man den Knall hören.»

«Das riskiere ich», rief Mrs Vandemeyer munter. «Aber solange Sie nicht um Hilfe rufen, passiert Ihnen nichts. Also setzen Sie sich aufs Bett. Heben Sie die Hände über den Kopf – und wenn Ihnen Ihr Leben lieb ist, rühren Sie sich nicht.»

Tuppence gehorchte.

Mrs Vandemeyer legte ihre Pistole in Reichweite auf den Rand des Waschbeckens, nahm, während sie Tuppence nicht aus den Augen ließ, eine kleine geschlossene Flasche von der Marmorplatte und schüttete einen Teil des Inhalts in ein Glas, das sie mit Wasser füllte.

«Was ist das?», fragte Tuppence heftig.

«Sie werden gut schlafen», erklärte Mrs Vandemeyer.

«Wollen Sie mich vergiften?»

«Seien Sie nicht blöde! Glauben Sie wirklich, dass ich wegen Mordes steckbrieflich verfolgt werden will? Wenn Sie nicht den Verstand verloren haben, muss Ihnen doch klar sein, dass es mir nichts nützen würde, Sie zu vergiften. Es ist ein Schlaftrunk, mehr nicht. Ich will mir nur die Mühe ersparen, Sie zu fesseln und zu knebeln. Notfalls täte ich aber auch das – und es würde Ihnen nicht sehr gefallen, das garantiere ich Ihnen. Ich kann ziemlich brutal sein, wenn mir gerade so zumute ist. Trinken Sie, es wird Ihnen nichts schaden.»

Tuppence war ein Mensch, der rasch zu überlegen wusste. Blitzschnell schossen ihr Gedanken durch den Kopf und sie sah tatsächlich die Möglichkeit eines Ausweges, so fragwürdig er auch sein mochte. So ließ sie sich plötzlich vom Bett gleiten, fiel vor Mrs Vandemeyer in die Knie und umklammerte ihre Beine.

«Ich glaube es nicht», stöhnte sie. «Es ist Gift – ich weiß, dass es Gift ist.»

Mrs Vandemeyer blickte verächtlich auf sie hinab. «Stehen Sie auf, Sie dumme Gans. Heulen Sie mir hier nichts vor. Wie Sie jemals den Mut aufgebracht haben, Ihre Rolle zu spielen, ist mir unklar.»

Tuppence umklammerte weiter ihre Beine und schluchzte und stammelte unzusammenhängende Worte. Jede Minute, die sie so gewann, bedeutete einen Schritt vorwärts… Außerdem näherte sie sich dabei unauffällig ihrem Ziel.

Mrs Vandemeyer verlor die Geduld und riss sie hoch. «Trinken Sie, aber gleich!» Sie presste ihr das Glas an den Mund.

Tuppence stöhnte noch einmal. «Schwören Sie, dass es mir nichts schadet?»

«Natürlich schadet es Ihnen nichts!»

«Wollen Sie es beschwören?»

«Ja, ja, ich schwöre!»

Tuppence hob zitternd ihre linke Hand. «Na gut.» Sie öffnete den Mund und sah sehr kläglich aus.

Mrs Vandemeyer ließ einen Seufzer der Erleichterung hören; einen Augenblick lang war sie nicht auf der Hut. Mit blitzartiger Schnelligkeit schüttete ihr Tuppence den Inhalt des Glases ins Gesicht und im selben Augenblick griff sie mit der rechten Hand nach der Pistole, die auf dem Rand des Waschbeckens lag. Und schon war sie einen Schritt zurückgesprungen, die Pistole auf Mrs Vandemeyers Herz gerichtet, und ihre Hand zitterte nicht.

Einen Augenblick glaubte Tuppence, Mrs Vandemeyer würde sie angreifen, was sie in ein sehr unangenehmes Dilemma gebracht hätte, nämlich zu schießen oder nicht. Mit größter Überwindung gelang es jedoch Mrs Vandemeyer, sich zu beherrschen, und schließlich zog ein leichtes Lächeln über ihr Gesicht.

«Also doch keine dumme Gans! Dafür werden Sie bezahlen – o ja! Ich habe ein gutes Gedächtnis!»

«Ich wundere mich, dass man Sie so leicht hereinlegen kann», erwiderte Tuppence verächtlich. «Haben Sie wirklich geglaubt, dass ich zu den Leuten gehöre, die sich auf den Boden werfen und um Gnade flehen?»

«Eines Tages werden Sie es noch tun.»

Die kalte Bösartigkeit ihrer Worte ließ Tuppence erschauern, aber sie hatte keine Angst mehr.

«Wie wäre es, wenn wir uns setzten», sagte sie freundlich. «Die Szene, die wir hier einander vorspielen, ist zu melodramatisch. Nein, nicht aufs Bett. Ziehen Sie sich einen Stuhl an den Tisch. So. Nun können wir uns unterhalten.»

«Worüber?»

Tuppence betrachtete sie eine Weile nachdenklich. Es ging ihr Verschiedenes durch den Kopf. Boris’ Worte: «Manchmal glaube ich, Sie würden auch uns verkaufen!», und die Antwort, dass der Preis dafür riesig sein müsste. Sollte sich Rita Vandemeyer als der schwache Punkt in Mr Browns Organisation erweisen?

Während sie die andere nicht aus den Augen ließ, antwortete Tuppence ruhig: «Über Geld.»

Mrs Vandemeyer fuhr auf. Eine solche Antwort hatte sie offensichtlich nicht erwartet. «Was wollen Sie damit sagen?»

«Das werde ich Ihnen jetzt auseinander setzen. Sie haben eben behauptet, ein gutes Gedächtnis zu haben. Ein gutes Gedächtnis ist nur halb so viel wert wie eine volle Brieftasche. Ich nehme an, dass es Sie erheblich erleichtern würde, wenn Sie mir etwas antun könnten; aber ist das eigentlich praktisch? Rache ist etwas sehr Unbefriedigendes. Aber Geld… Geld ist alles andere als unbefriedigend.»

«Halten Sie mich wirklich für einen Menschen, der seine Freunde verkaufen würde?»

«Ja», erwiderte Tuppence, «vorausgesetzt, dass das Angebot hoch genug ist. Sagen wir mal – hunderttausend Pfund.»

Ihr Hang zur Sparsamkeit erlaubte ihr nicht, die ganze Million Dollar zu erwähnen, die Hersheimer genannt hatte.

Eine leichte Röte stieg in Mrs Vandemeyers Gesicht. «Was sagen Sie da?», fragte sie und ihre Finger spielten nervös mit einer Brosche an ihrer Brust. Da wusste Tuppence, dass sie den Fisch an der Angel hatte, und zum ersten Mal empfand sie Abscheu vor ihrem eigenen Hang zum Geld.

«Hunderttausend Pfund», wiederholte sie.

Das Licht in Mrs Vandemeyers Augen erlosch. «Unsinn! Sie haben das Geld gar nicht.»

«Ich nicht – aber ich kenne einen, der es hat.»

«Wer?»

«Einer meiner Freunde.»

«Das müsste ja ein Millionär sein.»

«Das ist er. Er ist Amerikaner. Er zahlt ohne mit der Wimper zu zucken. Ich gebe Ihnen mein Wort darauf.»

Eine Weile herrschte Schweigen, dann blickte Mrs Vandemeyer auf. «Was will denn Ihr Freund wissen?»

Tuppence kämpfte einen Augenblick mit sich selber, aber da es Hersheimers Geld war, waren seine Interessen an erster Stelle zu berücksichtigen.

«Er möchte wissen, wo Jane Finn ist.»

Mrs Vandemeyer war keineswegs überrascht. «Ich könnte Ihnen nicht mit Sicherheit sagen, wo sie sich zur Zeit aufhält.»

«Aber Sie könnten es feststellen?»

«Ja, ohne weiteres.»

«Und dann», Tuppences Stimme zitterte ein wenig, «ist da ein junger Mann, ein Freund von mir. Ich fürchte, ihm ist etwas zugestoßen, und zwar hat Ihr Bekannter, Boris, etwas damit zu tun.»

«Wie heißt er?»

«Tommy Beresford.»

«Ich habe nie von ihm gehört. Aber ich werde Boris fragen.»

«Ich danke Ihnen.» Tuppence fühlte plötzlich eine starke Zuversicht in sich aufsteigen. «Da wäre noch etwas.»

«Ja?»

Tuppence senkte ihre Stimme. «Wer ist Mr Brown?»

Sie sah das schöne Gesicht jäh erbleichen. Es kostete Mrs Vandemeyer Mühe, ihre Fassung wiederzugewinnen. «Sie können über uns nicht viel erfahren haben, wenn Sie nicht wissen, dass niemand weiß, wer Mr Brown ist…»

«Aber Sie wissen es», erwiderte Tuppence ruhig.

Mrs Vandemeyer starrte längere Zeit vor sich hin. «Ja», erklärte sie schließlich mit rauer Stimme. «Ich weiß es. Ich war schön, verstehen Sie mich, sehr schön…»

«Sie sind es noch immer», warf Tuppence ein.

Mrs Vandemeyer schüttelte den Kopf. In ihren strahlend blauen Augen leuchtete ein seltsamer Schimmer auf. «Nicht schön genug», sagte sie. «Nicht schön genug! Und in letzter Zeit habe ich manchmal Angst… Es ist gefährlich, zu viel zu wissen.» Sie beugte sich über den Tisch. «Schwören Sie, dass mein Name niemals in diese Sache hineingezogen wird – dass niemand jemals etwas erfährt?»

«Ich schwöre es. Und sobald wir ihn haben, gibt es für Sie keine Gefahr mehr.»

Ein Ausdruck des Schreckens trat in Mrs Vandemeyers Gesicht. «Werde ich das je erleben?» Sie umklammerte Tuppences Arm. «Sind Sie sich auch in der Frage des Geldes ganz sicher?»

«Völlig sicher.»

«Wann?»

«Mein Freund wird bald kommen. Er tut alles immer sehr schnell.»

Mrs Vandemeyers Gesicht verriet Entschlossenheit. «Ich tue es. Es ist ein großer Betrag. Und abgesehen davon», sie lächelte unergründlich, «ist es nicht klug gehandelt, eine Frau wie mich ausbooten zu wollen!»

Sie trommelte mit den Fingern auf den Tisch. Plötzlich fuhr sie zusammen. «Was war das?»

«Ich habe nichts gehört.»

«Vielleicht belauscht uns jemand.»

«Unsinn!»

«Auch die Wände können Ohren haben», flüsterte die andere. «Ich habe Angst. Sie kennen ihn nicht!»

«Denken Sie an die hunderttausend Pfund!»

Mrs Vandemeyer fuhr sich mit der Zunge über ihre trockenen Lippen. «Sie kennen ihn nicht! Es ist…»

Mit einem Schrei des Entsetzens sprang sie auf. Mit ausgestreckter Hand deutete sie über Tuppences Kopf hinweg. Dann stürzte sie ohnmächtig zu Boden. Tuppence blickte sich um.

In der Tür standen Sir James Peel Edgerton und Julius Hersheimer.

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