16

Aus einer Finsternis, die von jähen Blitzen durchzuckt war, fanden Tommys Sinne allmählich wieder ins Leben zurück. Mühsam öffnete er die Augen. Das war doch nicht sein Schlafzimmer im Ritz? Und was war mit seinem Kopf?

«Er kommt zu sich», bemerkte eine Stimme. Tommy erkannte sie sogleich als die des bärtigen Mannes mit deutschen Akzent und blieb regungslos liegen. Mühsam versuchte er, sich klar zu werden, was geschehen war. Offensichtlich hatte sich jemand an ihn herangeschlichen, während er an der Tür lauschte… Nun wussten sie, dass er ein Spion war… Zweifellos befand er sich in einer üblen Klemme. Niemand wusste, wo er war…

«Verdammt!», rief er und dieses Mal gelang es ihm, sich aufzurichten.

Sogleich setzte der Mann ihm ein Glas an die Lippen. Dazu sagte er: «Trinken!» Tommy gehorchte. Das Getränk war so stärk, dass es ihm fast den Atem raubte, aber sein Kopf wurde klar.

Er lag auf einer Couch in dem Zimmer, in dem die Versammlung stattgefunden hatte. Auf der einen Seite stand der Deutsche, auf der anderen der Hausmeister. Die standen in einiger Entfernung etwas abseits. Tommy jedoch vermisste ein Gesicht. Der Mann, den man als Nummer eins bezeichnet hatte, war nicht mehr da.

«Sie haben Glück, junger Freund, dass Ihr Schädel so dick ist. Der gute Conrad hat einen harten Schlag.» Der Mann nickte dem üblen Hausmeister zu, der grinste. «Haben Sie noch etwas zu sagen, bevor Sie erledigt werden?»

«Allerdings. Und zwar sehr viel!»

«Wollen Sie leugnen, dass Sie an der Tür lauschten?»

«Keineswegs. Ich möchte mich dafür entschuldigen – Ihre Unterhaltung war so interessant, dass ich meine Skrupel überwand.»

«Wie sind Sie hereingekommen?»

«Der gute Conrad hat mich eingelassen.»

Conrad brummte, aber es klang recht schwach. Als der Mann mit dem Bart sich ihm heftig zuwandte, erklärte er mürrisch:

«Er hat das Losungswort gesagt. Wie konnte ich…»

«Ja», stimmte Tommy ihm zu. «Dem armen Kerl können Sie die Schuld dafür nicht geben. Aber seiner Vertrauensseligkeit verdanke ich das Vergnügen, Sie zu sehen.»

Es machte Tommy Spaß, dass seine Worte bei seinen Zuhörern einige Erregung hervorriefen.

«Tote können nicht reden», erklärte der Bärtige.

«So», erwiderte Tommy, «aber ich bin noch nicht tot.»

«Es ist bald so weit, mein junger Freund», erwiderte der Sprecher. Die anderen stimmten ihm zu.

Tommys Herz schlug schneller, äußerlich blieb er jedoch ruhig. «Warum haben Sie mich denn nicht gleich umgebracht?» Der Bärtige zögerte und Tommy nützte seinen Vorteil. «Weil Sie nicht wussten, wie viel ich wusste – und wo ich mein Wissen herhatte, nicht wahr? Wenn Sie mich jetzt töten, werden Sie es nie erfahren.»

Nun vermochte Boris seine Erregung nicht mehr zu unterdrücken. «Verdammter Hund! Gemeiner Spitzel!», schrie er. «Mit dir machen wir kurzen Prozess! Gleich umlegen!»

Tommy zuckte die Schultern. «Sie sollten sich das alles genau überlegen. Wie bin ich denn hier hereingekommen? Was hat der alte Conrad gesagt: mit Ihrem eigenen Losungswort? Wie bin ich dazu gekommen? Sie nehmen doch wohl nicht an, dass ich zufällig vor Ihre Tür geraten bin und das erstbeste gesagt habe, was mir einfiel?»

Tommy war mit den letzten Worten seiner kleinen Rede sehr zufrieden. Er bedauerte nur, dass Tuppence sie nicht hören konnte.

«Stimmt», sagte plötzlich der Mann im schäbigen Anzug, «man hat uns verraten.»

Es folgte ein drohendes Gemurmel. Tommy lächelte die Männer aufmunternd an.

«Sehen Sie! Wie können Sie aber hoffen, Erfolg zu haben, wenn Sie dabei so unüberlegt vorgehen?»

«Sie werden uns sagen, wer uns verraten hat», sagte der Bärtige. «Boris kennt sehr wirksame Methoden, um einen Menschen zum Sprechen zu bringen.»

«Unsinn!», rief Tommy verächtlich und kämpfte dabei ein sehr unangenehmes Gefühl in der Magengegend nieder. «Sie werden mich weder foltern noch töten.»

«Und warum nicht?», fragte Boris.

«Weil Sie damit sozusagen die Gans schlachten, die Ihnen die goldenen Eier legt.»

Es folgte eine kurze Pause. Die anderen fühlten sich ihrer Sache nicht mehr so sicher. Der Mann im schäbigen Anzug sah Tommy forschend an.

«Der macht uns was vor, Boris», erklärte er schließlich.

Tommy hätte ihn erschlagen können. Durchschaute ihn der Mann wirklich?

Der Bärtige schien auch unsicherer geworden. «Was wollen Sie damit sagen?», fragte er Tommy.

«Ich weiß etwas, das mich in die Lage versetzt, einen Kompromiss vorzuschlagen.»

«Einen Kompromiss?» Der bärtige Mann sah ihn scharf an.

«Ja – einen Kompromiss. Mein Leben und meine Freiheit gegen…» Er hielt inne.

«Wogegen?»

Langsam fuhr Tommy fort: «Gegen die Papiere, die Danvers auf der Lusitania bei sich trug.»

Seine Worte schlugen ein wie eine Bombe. Wer noch saß, war aufgesprungen. Der Bärtige beugte sich über Tommy.

«Tatsächlich? Sie haben sie also?»

Mit bewunderungswürdiger Ruhe schüttelte Tommy den Kopf. «Keineswegs.»

«Dann also…, dann also…» Zorn und Verblüffung erstickten seine Worte.

Tommy sah sich in der Runde um. Niemand schien daran zu zweifeln, dass seine Behauptungen mehr als nur Bluff waren. «Ich weiß zwar nicht, wo die Papiere sind – aber ich glaube, dass ich sie finden könnte. Ich habe eine Theorie…»

«Pah!»

Tommy hob die Hand. «Ich nenne es eine Theorie – aber ich bin der Tatsachen, die ihr zu Grunde liegen, ziemlich sicher. Es handelt sich um Dinge, die nur mir allein bekannt sind. Und was hätten Sie dabei zu verlieren? Wenn ich die Papiere bringe, geben Sie mir zum Tausch Leben und Freiheit. Ist das kein Geschäft?»

«Und wenn wir es ablehnen?»

Tommy ließ sich wieder auf die Couch zurücksinken. «Der Neunundzwanzigste», erklärte er, «ist keine vierzehn Tage mehr entfernt.»

Einen Augenblick lang zauderte der Bärtige. Dann machte er Conrad ein Zeichen. «Führ ihn in das andere Zimmer!»

Fünf Minuten hindurch saß Tommy auf dem Bett in dem schäbigen Zimmer. Er hatte alles auf eine Karte gesetzt. Wozu würden sie sich entschließen?

Endlich öffnete sich die Tür und man befahl Conrad schroff, mit Tommy wieder hereinzukommen.

Der Bärtige saß wieder am Tisch. Er gab Tommy ein Zeichen, sich ihm gegenüber niederzulassen.

«Wir nehmen Ihr Angebot an», erklärte er, «aber unter bestimmten Bedingungen. Die Papiere müssen uns ausgehändigt werden, bevor wir Sie freigeben.»

«Wie soll ich die Papiere suchen, wenn Sie mich anketten?»

«Was erwarten Sie denn?»

«Es muss mir die Freiheit gelassen werden, der Sache auf meine Art nachzugehen.»

Der Bärtige lachte auf. «Glauben Sie, wir sind kleine Kinder, dass wir Sie einfach laufen lassen?»

«Nein. Wie wäre es denn, wenn Sie mir Conrad mitgeben? Er ist zuverlässig und mit den Fäusten ziemlich schnell.»

«Wir ziehen es vor», erklärte der Bärtige, «dass Sie hier bleiben. Einer von uns wird Ihre Anweisungen ausführen. Ergeben sich Schwierigkeiten, können Sie weitere Instruktionen geben.»

Tommy war der Sache müde. «Belassen wir es also dabei. Eins aber ist wichtig: Ich muss mit dem Mädchen sprechen.»

«Mit welchem Mädchen?»

«Natürlich mit Jane Finn.»

Der andere betrachtete ihn eine Weile neugierig und sagte dann langsam: «Wissen Sie nicht, dass sie nichts erzählen kann?»

Tommys Herz schlug ein wenig schneller. «Ich werde sie nicht bitten, mir irgendetwas zu erzählen», antwortete er ruhig. «Das heißt, nicht mit Worten.»

«Warum wollen Sie sie dann aber aufsuchen?»

Tommy machte eine Pause. «Um ihr Gesicht zu sehen.»

«Und Sie glauben, dass Sie daraus irgendetwas erfahren können?» Er lachte kurz und unangenehm auf. Mehr denn je hatte Tommy das Gefühl, dass irgendein Umstand ins Spiel gekommen war, von dem er nichts verstand. Der Bärtige betrachtete ihn forschend. «Ich frage mich, ob Sie überhaupt so viel wissen, wie wir annahmen», sagte er leise.

Tommy war verwirrt. Was hatte er falsch gemacht?

«Ich habe nicht behauptet, in alle Einzelheiten Ihres Unternehmens eingeweiht zu sein. Aber ich habe gleichfalls etwas in der Tasche, von dem Sie nichts ahnen. Danvers war ein verdammt tüchtiger Bursche…» Er brach ab, als hätte er bereits zu viel gesagt.

Das Gesicht des Bärtigen hatte ein wenig von seiner Verschlossenheit verloren. «Danvers», murmelte er. «Ach so…» Er hielt eine Weile inne und machte dann Conrad ein Zeichen. «Führ ihn ab. Nach oben – du weißt schon.»

«Einen Augenblick», rief Tommy. «Was ist mit dem Mädchen?»

«Das lässt sich vielleicht einrichten.»

«Es muss sein.»

«Es gibt nur eine Person, die das entscheiden kann.»

«Wer?», fragte Tommy. Aber er kannte die Antwort schon.

«Mr Brown.»

Oben auf dem Gang öffnete Conrad eine Tür und Tommy trat in ein kleines Zimmer. Conrad entzündete eine zischende Gaslampe und verschwand. Tommy hörte, wie sich der Schlüssel im Schloss drehte.

Das Zimmer war klein und Tommy hatte das Gefühl, von jeder Luftzufuhr abgeschnitten zu sein. Dann bemerkte er, dass es keine Fenster gab. Die Wände waren entsetzlich schmutzig. Vier Bilder hingen dort, Szenen aus Faust: Margarete mit ihrem Schmuckkästchen, die Kirchenszene, Auerbachs Keller und Faust mit Mephisto. Bei seinem Anblick kehrten Tommys Gedanken wieder zu Mr Brown zurück. In dieser stickigen Kammer kam ihm dessen unheimliche Macht sehr viel realer vor. Er fühlte sich wie in einer Gruft…

Das Geräusch des Schlüssels, der sich im Schloss drehte, weckte Tommy. Er blinzelte zur Decke empor und fragte sich, wo er eigentlich sei. Dann erinnerte er sich und blickte auf seine Uhr. Es war acht.

Die Tür wurde geöffnet. Einen Augenblick später trat ein Mädchen ein. Es trug ein Tablett, das es auf dem Tisch absetzte.

Im schwachen Licht der Gaslampe stellte Tommy fest, dass es das schönste Mädchen war, das er jemals gesehen hatte. Das Haar war von einer satten braunen Farbe. Das Gesicht glich, wie ihm schien, einer Heckenrose. Die Augen waren haselnussbraun, mit goldenem Schimmer.

«Sind Sie Jane Finn?», fragte er atemlos.

Das Mädchen schüttelte den Kopf. «Mein Name ist Annette, Monsieur.» Sie sprach ein weiches, etwas gebrochenes Englisch.

«Ach!», sagte Tommy einigermaßen überrascht. «Francaise?»

«Oui, Monsieur. Monsieur parle Francais?»

«Nicht sehr fließend. Was ist das? Frühstück?»

Das Mädchen nickte. Tommy betrachtete das Tablett. Das Frühstück bestand aus etwas Brot, Margarine und einer Kanne Kaffee.

«Das Leben hier hält den Vergleich mit dem Ritz nicht ganz aus», bemerkte er seufzend. «Aber ich bin dankbar, überhaupt etwas zu bekommen.» Er zog einen Stuhl heran und das Mädchen wandte sich wieder zur Tür. «Warten Sie einen Augenblick», rief Tommy. «Annette, was tun Sie denn hier in diesem Haus?»

«Ich bin angestellt, Monsieur.»

«Ach so», antwortete Tommy. «Wissen Sie noch, was ich Sie vorhin gefragt habe? Haben Sie jemals diesen Namen gehört?»

«Ich habe schon jemand von Jane Finn reden hören.»

«Sie wissen nicht, wo sie ist?»

Annette schüttelte den Kopf.

«Sie lebt nicht hier in diesem Haus?»

«Aber nein, Monsieur. Ich muss jetzt gehen.»

Sie eilte hinaus. Der Schlüssel drehte sich im Schloss.

Ich frage mich, wer das ist, den sie mit «jemand» bezeichnet, überlegte Tommy, als er eine Scheibe Brot abschnitt. Wenn ich Glück habe, könnte mir das Mädchen helfen, hier herauszukommen. Es sieht nicht so aus, als gehörte es zur Bande.

Um ein Uhr erschien Annette wieder mit dem Tablett, von Conrad begleitet.

«Guten Morgen», sagte Tommy freundlich. «Von Seife scheinen Sie nicht viel zu halten.»

Conrad brummte missvergnügt.

«Schlagfertigkeit ist nicht gerade Ihre Stärke, nicht wahr? Nun ja, man kann nicht gleichzeitig schön und klug sein. Was haben wir denn zu essen? Gulasch – der Duft der Zwiebel ist unverkennbar.»

«Reden Sie nur», brummte der Mann. «Ihnen bleibt ja nicht mehr viel Zeit dazu.»

Diese Bemerkung klang nicht gerade sehr ermutigend, aber Tommy überhörte sie.

Um acht Uhr vernahm er das vertraute Geräusch des Schlüssels. Das Mädchen war allein.

«Schließen Sie bitte die Tür», sagte Tommy. «Ich möchte mit Ihnen sprechen.»

Sie tat es.

«Hören Sie, Annette, ich möchte, dass Sie mir helfen, hier herauszukommen.»

Sie schüttelte den Kopf. «Unmöglich! Unten im ersten Stock sind drei Männer.»

«Ach!» Tommy war auch für diese Information dankbar. «Aber Sie würden mir helfen, falls Sie es könnten?»

«Nein, Monsieur.»

«Und warum nicht?»

Das Mädchen zögerte. «Es sind meine eigenen Leute! Und Sie haben ihnen nachspioniert.»

«Es ist eine üble Bande, Annette. Wenn Sie mir helfen, befreie ich Sie von diesen Kerlen.»

Aber das Mädchen schüttelte den Kopf. «Das wage ich nicht, Monsieur. Ich habe Angst vor ihnen.»

«Würden Sie auch nichts tun, um einem anderen Mädchen zu helfen?», rief Tommy. «Sie ist etwa ebenso alt wie Sie. Wollen Sie sie wirklich nicht aus ihren Klauen befreien?»

«Sie meinen Jane Finn?»

«Ja.»

«Und nach ihr haben Sie hier gesucht? Ja?»

«Ja.»

Das Mädchen fuhr sich mit der Hand über die Stirn. «Jane Finn. Immer höre ich diesen Namen.»

Tommy trat erregt auf sie zu. «Sie müssen irgendetwas wissen!»

Aber das Mädchen wandte sich jäh ab.

«Ich weiß nichts – ich kenne nur den Namen.» Sie ging auf die Tür zu. Plötzlich stieß sie einen Schrei aus. Tommy sah sie überrascht an. Sie hatte das Bild von Faust und Mephisto erblickt, das er am Abend zuvor gegen die Wand gelehnt hatte, um es gegebenenfalls als Waffe zu benützen. Für den Bruchteil einer Sekunde sah er einen Ausdruck des Entsetzens in ihren Augen. Doch ebenso rätselhaft wich er gleich darauf einem Blick der Erleichterung. Danach ging sie ohne jedes weitere Wort aus dem Zimmer. Tommy war ihr Verhalten unerklärlich. Hatte sie sich eingebildet, dass er die Absicht hätte, sie damit anzugreifen? Wohl kaum. Er hängte das Bild nachdenklich wieder an die Wand.

Drei weitere Tage verstrichen in zermürbendem Nichtstun. Tommy spürte, wie alles an seinen Nerven zerrte. Er sah niemanden außer Conrad und Annette und das Mädchen redete kaum ein Wort. Eine Art dunklen Argwohns schwelte in ihren Augen. Tommy hatte das Gefühl, allmählich verrückt zu werden. Von Conrad erfuhr er nur, dass sie auf den Befehl Mr Browns warteten.

Der Abend des dritten Tages brachte ein raues Erwachen. Es war kaum sieben Uhr, als er laute Schritte draußen auf dem Gang vernahm. Einen Augenblick später wurde die Tür aufgestoßen. Conrad trat ein. In seiner Begleitung befand sich die üble Nummer vierzehn. Bei ihrem Anblick sank Tommy der Mut.

«Guten Abend, Chef», rief der Mann mit einem höhnischen Grinsen. «Hast du die Stricke, Kumpel?»

Schweigend holte Conrad einen dünnen Strick hervor. Einen Augenblick später fesselte Nummer vierzehn Tommy, während Conrad ihn festhielt.

«Hast wohl schon gedacht, du hättest uns eins ausgewischt? Mit dem, was du weißt und was du nicht weißt? Alles Schwindel!»

Offenbar hatte der allmächtige Mr Brown ihn durchschaut. Plötzlich jedoch kam Tommy ein Gedanke. «Aber wozu die Stricke? Warum schneidet mir dieser freundliche Herr nicht gleich die Kehle durch?»

«Unsinn», erklärte Nummer vierzehn unerwartet. «Hältst uns wohl für solche Anfänger? Wir haben den Wagen für morgen Früh bestellt, bis dahin wollen wir nichts mehr riskieren.»

Die beiden Männer verschwanden und die Tür fiel ins Schloss. Tommy blieb seinen Gedanken überlassen. Sie waren keineswegs erfreulich.

Es mochte etwa eine Stunde verstrichen sein, als er hörte, wie der Schlüssel leise im Schloss umgedreht wurde. Es war Annette. Tommys Herz schlug ein wenig schneller.

Plötzlich vernahm er Conrads Stimme: «Komm raus, Annette. Er will heute Abend kein Essen haben.»

«Oui, oui, je sais bien. Aber ich muss das andere Tablett holen. Wir brauchen das Geschirr.»

«Dann beeil dich», brummte Conrad.

Ohne Tommy anzusehen, trat Annette an den Tisch und ergriff das Tablett. Sie hob eine Hand und drehte das Licht aus. «Verdammt noch mal», Conrad war in die Tür getreten, «warum machst du das?»

«Ich drehe es immer aus. Soll ich es wieder anzünden, Monsieur Conrad?»

«Nein, komm jetzt raus.»

«Le beau petit monsieur», rief Annette und blieb in der Dunkelheit am Bett stehen. «Er ist wie ein zusammengeschnürtes Huhn!» Tommy fühlte zu seinem Erstaunen ihre Hand leicht über seine Fesseln streichen und etwas Kaltes wurde ihm in die Hand gedrückt.

Die Tür schloss sich hinter ihnen. Tommy hörte Conrad sagen: «Schließ ab und gib mir den Schlüssel.»

Die Schritte erstarben. Tommy lag wie erstarrt vor Verwunderung da. Der Gegenstand, den Annette ihm in die Hand gedrückt hatte, war ein kleines Taschenmesser. Sie hatte es vermieden, ihn anzusehen, und daraus schloss er, dass das Zimmer beobachtet wurde. Auch der Umstand, dass sie das Licht abgedreht hatte, ließ darauf schließen. Irgendwo in der Wand musste sich ein Guckloch befinden. Nun dachte er auch daran, dass sie sich ihm gegenüber stets sehr zurückhaltend benommen hatte. Hatte er irgendetwas gesagt, wodurch er sich hätte verraten können? Kaum.

Vorsichtig versuchte er, mit der Schneide auf dem Strick an seinen Händen hin und her zu fahren. Es war eine mühselige Angelegenheit. Kaum waren seine Hände frei, war alles andere nur noch ein Kinderspiel. Fünf Minuten später richtete er sich mit einiger Mühe auf; denn seine Glieder waren noch verkrampft. Er dachte nach. Conrad hatte den Schlüssel an sich genommen, so dass er von Annette kaum noch Hilfe erwarten konnte. Der einzige Ausgang aus diesem Zimmer war die Tür und so musste er warten, bis die beiden Männer kamen, um ihn zu holen. Er tastete sich bis zu dem Bild und nahm es wieder vom Haken. Jetzt blieb ihm nichts anderes mehr zu tun als zu warten.

Langsam verstrich die Nacht. Tommy durchlebte eine Ewigkeit, aber schließlich hörte er die Schritte. Aufrecht stand er da, holte tief Atem und hielt das Bild fest.

Die Tür wurde geöffnet. Ein schwaches Licht fiel von außen ein. Conrad ging sogleich zur Gaslampe, um sie anzuzünden. Tommy bedauerte, dass er es war, der als erster eintrat. Es wäre ihm ein Vergnügen gewesen, mit Conrad zuerst abzurechnen. Nummer vierzehn folgte. Als er über die Schwelle trat, ließ Tommy das Bild auf seinen Kopf niedersausen. Nummer vierzehn stürzte unter einem gewaltigen Krachen und dem Klirren splitternden Glases zu Boden. Sogleich war Tommy hinausgesprungen und hatte die Tür hinter sich zugezogen. Der Schlüssel steckte. Er drehte ihn um und zog ihn in dem Augenblick heraus, als Conrad von innen mit einem Schwall von Schimpfworten gegen die Tür rannte.

Tommy zögerte. Er hörte jemanden auf dem unteren Gang. Dann erklang die Stimme des Bärtigen von unten herauf. «Was ist los, Conrad?»

Tommy fühlte eine Hand in der seinen. Neben ihm stand Annette. Sie deutete auf eine wacklige Stiege, die zu irgendwelchen Speicherräumen hinaufführte. Einen Augenblick später standen sie in einer staubigen Dachstube. Das Mädchen legte den Finger auf die Lippen und lauschte.

Das Hämmern und Schlagen gegen die Tür donnerte durchs Haus. Der Bärtige und noch ein anderer versuchten die Tür einzudrücken. Annette erklärte flüsternd: «Sie glauben, dass Sie noch drin sind. Sie können nicht verstehen, was Conrad sagt. Die Tür ist zu dick.»

«Ich dachte, man könnte hören, was im Zimmer vorgeht?»

«Es gibt ein Guckloch vom anderen Zimmer aus. Das war klug, dass Sie das erraten haben. Daran werden sie aber nicht denken – denn jetzt wollen sie ja nichts als ins Zimmer hinein.»

«Ja, aber hören Sie…»

«Überlassen Sie alles mir.» Zu seiner Verwunderung sah Tommy, dass sie lange Schnüre an einen Pfosten und an einen Krug band. «Haben Sie den Schlüssel zur Tür?»

«Ja.»

«Geben Sie ihn mir!» Er reichte ihn ihr. «Ich gehe jetzt hinunter. Glauben Sie, dass Sie sich hinter der Stiege hinablassen können, damit man Sie nicht sieht?»

Tommy nickte.

«Es steht ein großer Schrank tief im Schatten auf dem Treppenabsatz. Treten Sie hinter ihn. Nehmen Sie das Ende der Schnur in Ihre Hand. Wenn ich die anderen herausgelassen habe, ziehen Sie.»

Bevor er Zeit fand, sie noch irgendetwas zu fragen, war sie leichtfüßig die Stiege hinabgeeilt und stürzte laut schreiend unter die anderen: «Mein Gott! Was ist denn los?»

Fluchend wandte sich der Bärtige ihr zu. «Mach, dass du wegkommst! Geh in dein Zimmer!»

Vorsichtig ließ sich Tommy inzwischen hinter der Stiege hinab. Hinter dem Schrank kauerte er sich hin.

«Ach!» Annette schien über etwas zu stolpern. Sie beugte sich nieder. «Mein Gott! Da ist ja der Schlüssel!»

Der Bärtige entriss ihn ihr und schloss die Tür auf. Schimpfend kam Conrad herausgestolpert. «Wo ist er? Habt ihr ihn?»

«Wir haben niemanden gesehen», erwiderte der Bärtige. Dann erbleichte er. «Wen meinst du denn?»

«Er ist entkommen!»

«Unmöglich. Er hätte an uns vorbei gemusst.»

In diesem Augenblick zog Tommy an der Schnur. In der Dachstube oben zerschellte der Krug. Die Männer drängten die schwankende Stiege hinauf.

Wie ein Blitz sprang Tommy aus seinem Versteck und stürzte die Treppe hinunter. Unten in der Diele war niemand.

Plötzlich hörte er oben einen Schrei und einen Ausruf des Bärtigen und dann Annettes klare hohe Stimme: «Er ist entkommen. Und wie schnell.»

Tommy stand noch immer wie angewurzelt da. War das für ihn eine Aufforderung zu gehen?

Dann drangen noch lauter die Worte zu ihm: «Es ist ein schreckliches Haus. Ich will zu Marguerite zurück. Zu Marguerite, zu Marguerite.»

Tommy war bis zur Treppe zurückgelaufen. Wollte sie, dass er ging und sie zurückließ? Aber warum? Dann sank ihm der Mut. Conrad kam die Treppe herabgestürzt.

Tommy stoppte ihn durch eine rechte Gerade, sprang zur Haustür und schlug sie hinter sich zu. Der Platz lag verödet. Vor dem Haus stand der Lieferwagen eines Bäckers. Der Fahrer versuchte, Tommy den Weg abzuschneiden. Wieder schoss Tommys Rechte vor und der Fahrer ging zu Boden.

Tommy machte, dass er davonkam. Es war höchste Zeit. Die Eingangstür wurde aufgerissen und es folgte ein Kugelregen. Er hatte Glück, keine Kugel traf. Dann war er um die nächste Ecke.

Lange saß Tommy in einem türkischen Bad, um wieder er selbst zu werden. Als er ans Tageslicht trat, war er fähig, neue Pläne zu schmieden.

Zunächst einmal musste er ordentlich essen. Er trat in ein ABC-Lokal und bestellte Eier mit Speck und Kaffee. Während er aß, las er die Morgenzeitung. Plötzlich durchfuhr es ihn. Da war ein Artikel über Kramenin, der als der «geheimnisvolle Mann hinter dem Bolschewismus», eingetroffen sei. In der Mitte der Seite war sein Bild.

«Das ist also Nummer eins», sagte Tommy. «Kein Zweifel.» Er bezahlte sein Frühstück und begab sich nach Whitehall. Dort sandte er eine Nachricht mit seinem Namen nach oben, es sei dringend. Einige Minuten später stand er dem Mann gegenüber, der dort nicht unter dem Namen «Carter» bekannt war. Seine Stirn war gerunzelt.

«Hören Sie, es geht nicht, dass Sie herkommen und nach mir fragen. Ich dachte, das hätte ich Ihnen deutlich klar gemacht.»

«Gewiss, Sir. Ich halte aber diese Angelegenheit für so wichtig, dass keine Zeit zu verlieren ist.»

So kurz und gedrängt wie nur möglich schilderte er ihm seine Erlebnisse während der letzten Tage.

Als er etwa bis zur Mitte seines Berichtes gekommen war, unterbrach ihn Mr Carter und gab einige geheimnisvolle Anweisungen. Er nickte energisch, als Tommy geendet hatte.

«Ganz richtig. Hier ist jeder Augenblick von Bedeutung. Ich fürchte, dass wir ohnehin zu spät kommen. Dennoch könnten sie etwas hinterlassen haben, was uns als Hinweis dienen kann. Sie sagen, Sie hätten in Nummer eins Kramenin erkannt? Wir brauchen dringend etwas gegen ihn. Wie steht es mit den anderen? Sie sagen, zwei Gesichter wären Ihnen bekannt gewesen? Und einer sei ein Arbeiter? Sehen Sie sich diese Bilder an, ob Sie sie darauf erkennen.»

Kurz darauf hielt Tommy ein Bild hoch. Mr Carter verriet einige Überraschung. «Westway? Schau an! Wir hatten einen Verdacht, waren aber nicht sicher. Was den anderen anlangt, glaube ich, eine Ahnung zu haben.» Er reichte Tommy noch ein Bild und lächelte bei dem Ausruf des anderen. «Ich habe also Recht. Ein Ire. Nach außen hin ein Verfechter des Unionsgedankens. Natürlich alles Tarnung. Auch das vermuteten wir, hatten aber keine Beweise. Ja, das haben Sie ausgezeichnet gemacht, junger Mann. Sie sagen, der neunundzwanzigste sei das Datum? Na gut, damit bleibt uns noch etwas Zeit – wenn auch nicht sehr viel…»

«Aber…» Tommy zögerte.

Mr Carter erriet seine Gedanken. «Wenn der Vertragsentwurf auftauchen sollte, sieht es übel aus. Ja, bitte? Der Wagen? Kommen Sie, Beresford, jetzt sehen wir uns mal das Haus an.»

Zwei Polizisten standen vor dem Haus in Soho Wache. Ein Inspektor berichtete Mr Carter mit leiser Stimme. Der wandte sich an Tommy. «Die Vögel sind ausgeflogen – wie zu erwarten war. Nun, sehen wir einmal nach.»

Tommy kamen seine Erlebnisse wie ein Traum vor. Alles war noch so, wie er es gesehen hatte. Die Gefängniskammer mit den seltsamen Bildern, der zerbrochene Krug in der Dachstube und der Versammlungsraum mit dem langen Tisch. Nirgends waren Papiere zu finden. Von Annette fehlte jede Spur.

«Was Sie mir von diesem Mädchen erzählten, erscheint mir höchst rätselhaft», sagte Mr Carter. «Sie meinen, dass sie aus freien Stücken zurückging?»

«Ich kann nicht glauben, dass sie wirklich eine von ihnen ist, Sir, sie… sie schien mir anders zu sein.»

«Sah wohl gut aus?», meinte Mr Carter mit einem Lächeln.

Tommy gestand Annettes Schönheit verlegen ein.

«Sind Sie eigentlich bereits mit Miss Tuppence in Verbindung getreten?», fragte Mr Carter. «Sie hat mich Ihretwegen mit Briefen bombardiert.»

«Tuppence? Ist sie zur Polizei gegangen?»

Mr Carter schüttelte den Kopf.

«Dann verstehe ich nicht, wieso sie mich durchschaut haben…»

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