8

So überrascht Tommy auch war, er zauderte keinen Augenblick. Leise stieg er die baufällige Treppe hinauf. Das Haus war unvorstellbar schmutzig. Die schmierige Tapete hing in losen Fetzen von den Wänden.

Als er schließlich am nächsten Treppenabsatz anlangte, hörte er unten den Mann in einem Hinterzimmer verschwinden. Offensichtlich hatte er keinen Argwohn geweckt. Es schien etwas völlig Natürliches und Selbstverständliches zu sein, in diesem Haus nach «Mr Brown» zu fragen.

Oben blieb Tommy stehen und überlegte. Vor sich sah er einen engen Flur, von dem nach beiden Seiten Türen abgingen. Hinter der einen war ein leises Gemurmel vernehmbar. Es war die Tür, die der Mann ihm gewiesen hatte. Aber weit mehr interessierte ihn eine kleine Nische rechts, die von einem zerrissenen Samtvorhang halb verdeckt war. Sie lag der Tür zur Linken genau gegenüber und man konnte von dort aus auch den oberen Teil der Treppe gut im Auge behalten. Als Versteck für einen Mann, zur Not für zwei, war diese Nische außerordentlich geeignet.

An der Haustür war wieder das charakteristische Klopfen zu vernehmen und Tommy schlüpfte kurz entschlossen in die Nische und zog behutsam den Vorhang ganz vor. In dem zerschlissenen Stoff waren Risse und Löcher, so dass er beobachten und erst einmal die weiteren Ereignisse abwarten konnte. Der Mann, der leichtfüßig die Treppe heraufkam, war ihm unbekannt. Er gehörte offensichtlich dem untersten Bodensatz der Gesellschaft an. Die Brutalität, die in seiner ganzen Haltung zum Ausdruck kam, deutete auf die Sorte, die Scotland Yard auf den ersten Blick erkennt.

Der Mann blieb an der Tür gegenüber stehen und wiederholte das Klopfzeichen. Eine Stimme rief etwas und der Mann öffnete die Tür und trat ein, wobei Tommy einen flüchtigen Blick hineinwerfen konnte. Es saßen vier oder fünf Männer um einen langen Tisch. Am meisten fiel ihm ein großer Mann mit kurz geschnittenem Haar und einem kleinen Spitzbart auf. Er saß an dem einen Ende des Tisches und hatte vor sich Papiere liegen. Als der Neuankömmling eintrat, fragte er mit einer seltsam akzentuierten Betonung: «Deine Nummer, Genosse?»

«Vierzehn, Chef», antwortete der andere rau.

«Richtig.»

Die Tür fiel hinter ihm ins Schloss.

«Das könnte gut ein Deutscher sein», sagte Tommy zu sich selber. «Ein Glück, dass ich nicht hineingewalzt bin. Bestimmt hätte ich die falsche Nummer angegeben und dann wäre der Teufel los gewesen. Donnerwetter, da klopft es ja schon wieder.»

Der neue Besucher unterschied sich erheblich von dem Vorhergehenden. Tommy stufte ihn als Angehörigen der Irischen Freiheitsbewegung ein. Ganz gewiss war Mr Browns Organisation ein weit verzweigtes Unternehmen. Der Verbrechertyp, der wohlerzogene Ire, der bleiche Russe und der tüchtige deutsche Zeremonienmeister. Und wer war der Mann, der all diese Glieder einer unbekannten Kette in Händen hielt?

In rascher Folge wurde unten an der Tür geklopft. Der erste Mann ließ sich nirgends einordnen, bestenfalls als Büroangestellter. Ein stiller, intelligent aussehender Mann, der ziemlich schäbig gekleidet war. Der zweite war wohl ein Arbeiter und sein Gesicht kam dem jungen Mann bekannt vor.

Drei Minuten später kam noch einer, ein Mann, der hervorragend gekleidet und anscheinend aus gutem Hause war. Man sah ihm an, dass er zu denen gehörte, die etwas zu sagen haben. Seltsamerweise schien auch sein Gesicht Tommy nicht unbekannt.

Nach seinem Eintreffen musste Tommy lange warten. Er glaubte schon, die Versammlung sei vollständig, als ein neues Klopfen ertönte.

Der letzte Ankömmling war ein kleiner, sehr blasser Mann, mit geschmeidigen, fast femininen Bewegungen. Seine etwas hochliegenden Backenknochen ließen auf slawische Abstammung schließen. Als er an der Nische vorbeiging, wandte er langsam den Kopf. Die seltsam hellen Augen schienen durch den Vorhang hindurchzublicken. Tommy konnte kaum glauben, dass der Mann ihn nicht entdeckt hatte. Er erinnerte an eine Giftschlange.

Einen Augenblick später erwies sich sein Eindruck als richtig. Der Neue klopfte ebenso wie alle anderen, aber es wurde ihm ein ganz anderer Empfang zuteil. Der bärtige Mann erhob sich, und alle anderen folgten ihm. «Es ist uns eine große Ehre», sagte er. «Ich fürchtete schon, es sei unmöglich.»

«Es hat Schwierigkeiten gegeben. Noch einmal wird es nicht möglich sein, fürchte ich. Aber die Versammlung ist unbedingt notwendig; ich muss meine weiteren Pläne darlegen. Ich kann ohne Mr Brown nichts unternehmen. Ist er hier?»

«Es ist ihm nicht möglich, persönlich anwesend zu sein.»

Langsam glitt ein Lächeln über das Gesicht des anderen. «Ich verstehe schon. Ich habe von seinen Methoden gehört. Er arbeitet im Dunkeln und traut niemandem. Dennoch ist es möglich, dass er sich auch in diesem Augenblick unter uns befindet…»

Der Russe strich sich über die Wangen. «Lassen wir das und fangen wir an!»

Der Deutsche schien sich zusammenzureißen. Er deutete auf seinen Platz am oberen Ende des Tisches. Der Russe winkte ab, aber der andere bestand darauf.

«Es ist der einzige Platz, der in Frage kommt», sagte er, «für – Nummer eins. Würde Nummer vierzehn bitte die Tür schließen!»

Einen Augenblick später sah Tommy wieder nur kahle Holzwände vor sich und die Stimmen auf der anderen Seite waren erneut zu einem unverständlichen Gemurmel abgesunken. Tommy wurde unruhig. Die soeben mit angehörte Unterhaltung hatte seine Neugier geweckt. Er musste auf Biegen oder Brechen mehr in Erfahrung bringen.

Aus dem unteren Teil des Hauses war nichts mehr zu hören und es war nicht wahrscheinlich, dass der Hausmeister nach oben kommen würde. Nachdem Tommy ein Weilchen angestrengt gelauscht hatte, steckte er den Kopf hinaus. Der Flur lag verödet da. Tommy schlich zur Tür, kniete nieder und legte sein Ohr vorsichtig an eine Ritze. Zu seinem großen Ärger konnte er kaum besser hören. Er blickte um sich. Ein wenig weiter befand sich zur Linken noch eine Tür. Leise schlich er hin. Einen Augenblick lauschte er und drehte dann den Knauf. Die Tür gab nach und er schlüpfte hinein.

Der Raum war als Schlafzimmer eingerichtet. Wie alles in diesem Haus befanden sich auch diese Möbel in einem trostlosen Zustand.

Tommy interessierte sich jedoch nur für das, was er zu finden gehofft hatte: eine Verbindungstür zwischen den beiden Zimmern. Er betrachtete sie genau: Ein Riegel war vorgeschoben; er war sehr rostig. Tommy gelang es schließlich, ihn ohne allzu viel Geräusch zurückzuziehen. Die Tür öffnete sich – einen Spalt weit, aber ausreichend für Tommy, um mit anzuhören, was drinnen vorging. Auf der anderen Seite der Tür hing ein Plüschvorhang, so dass er nichts sehen konnte. Doch er erkannte die Stimmen wieder.

Nun sprach der Ire. Sein Akzent war unverkennbar. «Schön und gut, aber wir brauchen mehr Geld. Ohne Geld kein Erfolg.»

Eine andere Stimme, die Tommy Boris zuschrieb, erwiderte: «Kannst du uns garantieren, dass es Erfolge geben wird?»

«Von heute ab in einem Monat garantiere ich euch in Irland eine Terrorwelle, die das britische Reich in seinen Grundfesten erschüttern wird.»

Es folgte eine Pause und dann die leise, etwas zischende Stimme von Nummer eins. «Gut. Du sollst das Geld bekommen. Boris, du sorgst dafür.»

Boris hatte eine Frage: «Über die Irisch-Amerikaner und Mr Potter, wie gewöhnlich?»

«Ich glaube, es wird sich machen lassen», erklärte eine neue Stimme mit amerikanischem Akzent, «ich möchte aber darauf hinweisen, dass die Verhältnisse immer schwieriger werden. Wir können nicht mehr mit der gleichen Sympathie rechnen wie früher. Es verbreitet sich immer mehr die Ansicht, dass die Iren ihre Angelegenheiten ohne Einmischung Amerikas regeln sollten.»

Tommy hatte das Gefühl, dass Boris mit den Schultern zuckte, als er antwortete: «Ist denn das von irgendwelcher Bedeutung? Das Geld kommt doch nur dem Namen nach aus den Staaten.»

«Die Hauptschwierigkeit besteht nach wie vor darin, die Munition an Land zu schaffen», erklärte der Ire. «Das Geld kommt ja – dank unserem Kollegen hier – ziemlich ungehindert herein.»

Eine andere Stimme sagte nun: «Bedenkt doch, was die Leute in Belfast empfinden würden, wenn sie euch hören könnten!»

«Das wäre also geregelt», fiel die leise Stimme wieder ein. «Nun noch die Angelegenheit des Kredits für eine englische Zeitung. Hast du die entsprechenden Maßnahmen getroffen, Boris?»

«Ich denke, es ist in Ordnung.»

«Gut. Falls nötig, wird Moskau dementieren.»

Es trat eine Pause ein, dann brach die klare Stimme des Deutschen das Schweigen: «Ich bin von Mr Brown beauftragt, euch die Berichte über die verschiedenen Gewerkschaften vorzulegen. Der von den Bergleuten ist zufrieden stellend. Wir müssen nur die Eisenbahner zurückhalten. Es könnte zu Schwierigkeiten mit der Gruppe der Lokomotivführer kommen.»

Wieder folgte eine längere Stille. Dann hörte Tommy, wie ein paar Finger auf den Tisch trommelten.

«Und das Datum, mein Freund?», fragte Nummer eins.

«Der Neunundzwanzigste.»

Der Russe schien zu überlegen. «Das ist schon bald.»

«Ich weiß. Es wurde jedoch von den Führern der Arbeiterbewegung so festgesetzt und wir können es uns nicht leisten, uns da allzu viel einzumischen. Sie müssen immer das Gefühl haben, es sei ihr Unternehmen.»

Der Russe lachte leise auf. «Ja», sagte er, «sie dürfen keinesfalls wittern, dass wir sie für unsere Zwecke ausnutzen. Ohne solche anständigen, ehrbaren Leute ist keine Revolution zu machen. Der Instinkt der Masse ist nicht leicht zu täuschen.»

Dann sagte der Deutsche wieder: «Clymes muss verschwinden. Er ist zu weit blickend. Nummer vierzehn wird dafür sorgen.»

Ein raues Murmeln war die Antwort.

«Geht in Ordnung.» Nach einem Augenblick des Nachdenkens: «Was wird, wenn sie mich schnappen?»

«Wir werden dir den besten Rechtsanwalt stellen», antwortete der Deutsche. «Auf jeden Fall wirst du Handschuhe mit dem Fingerabdruck eines berüchtigten Einbrechers tragen. Du hast also wenig zu befürchten.»

«Fürchte ja auch nichts. Ist alles nur für die Sache. In den Straßen wird Blut fließen, sagt man.» In seinen Worten klang eine grausame Genugtuung. «Manchmal träume ich davon. Und Diamanten und Perlen werden in die Gosse rollen. Jeder kann sie aufheben!»

Tommy hörte, wie ein Stuhl gerückt wurde. Dann sprach Nummer eins: «Es ist also alles vorbereitet. Der Erfolg ist uns wohl so gut wie sicher?»

«Ich glaube wohl.» Aber der Deutsche sprach dieses Mal nicht mit der gewohnten Sicherheit.

Die Stimme von Nummer eins hatte plötzlich einen gefährlichen Unterton: «Was ist schief gegangen?»

«Nichts; aber…»

«Was heißt: aber?»

«Die Leute von der Arbeiterbewegung… Ohne sie können wir nichts unternehmen. Wenn sie am Neunundzwanzigsten keinen Generalstreik ausrufen…»

«Warum sollten sie nicht?»

«Wie du schon sagtest – es sind Biedermänner. Trotz allem, was wir getan haben, bin ich nicht sicher, ob sie…»

«Kommen wir zum Wesentlichen, mein Freund. Man hat mir zu verstehen gegeben, dass es ein gewisses Dokument gäbe, das uns den Erfolg sichert.»

«Das stimmt auch. Wenn man den Führern dieses Dokument vorhielte, würden sie es in ganz England verbreiten und sich ohne auch nur einen Augenblick zu zögern, für die Revolution erklären. Es würde der Regierung unweigerlich das Genick brechen.»

«Was willst du also noch?»

«Das Dokument», erwiderte der Deutsche.

«Ach! Ist es denn nicht in eurem Besitz? Aber ihr wisst doch, wo es sich befindet?»

«Nein.»

«Weiß jemand, wo es ist?»

«Ein Mensch – vielleicht. Und da sind wir nicht sicher.»

«Und wer ist dieser Mensch?»

«Ein Mädchen.»

Tommy hielt den Atem an.

«Ein Mädchen?» Die Stimme des Russen erhob sich nun voller Verachtung. «Und ihr habt sie nicht zum Sprechen gebracht?»

«Dieser Fall liegt anders», erklärte der Deutsche mürrisch.

«Wieso?»

Aber Tommy hörte nichts mehr. Ein betäubender Schlag traf seinen Kopf und alles um ihn her versank in Dunkelheit.

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