19

Auf der Straße hielten sie kurz Kriegsrat. Sir James hatte seine Uhr aus der Tasche gezogen.

«Der Zug zur Fähre nach Holyhead hält um zwölf Uhr vierzehn in Chester. Wenn Sie gleich aufbrechen, können Sie meiner Ansicht nach noch den Anschluss erreichen.»

Tommy blickte verwundert auf. «Müssen wir uns denn so beeilen, Sir? Heute ist doch erst der Vierundzwanzigste.»

«Ich halte es immer für gut, eine Sache, die getan werden muss, gleich zu tun», mischte sich Hersheimer ein. «Wir gehen sofort zum Bahnhof.»

Sir James furchte ein wenig die Stirn. «Ich würde gerne mitkommen, aber ich muss leider um zwei Uhr eine Rede halten.»

Hersheimer schien eher erleichtert. «Ich glaube, dieser Teil der Angelegenheit ist wohl nicht weiter schwierig. Wir müssen nichts weiter als ein bisschen suchen – ganz, wie wir es als Kinder getan haben.»

«Man soll niemals seinen Gegner unterschätzen.»

Der Ernst seiner Stimme beeindruckte Tommy, übte jedoch auf Hersheimer nur geringe Wirkung aus. «Sie meinen, Mr Brown könnte erscheinen und ein wenig mitspielen? Na, wenn er es tut, bin ich bereit, ihn gebührend zu empfangen.» Er schlug sich auf die Tasche. «Ich habe eine Pistole bei mir. Dieser kleine Willi begleitet mich immer.» Er zog eine gefährlich aussehende Pistole hervor und streichelte sie, bevor er sie zurücksteckte. «Auf dieser Reise aber werden wir den kleinen Willi nicht brauchen. Niemand kann uns schließlich an Mr Brown verpfeifen.»

Der Anwalt zuckte mit den Schultern. «Es war auch niemand da, der es ihm hätte verpfeifen können, dass Mrs Vandemeyer ihn verraten wollte. Und doch ist Mrs Vandemeyer gestorben ohne das entscheidende Wort zu sprechen.» Damit war Hersheimer zum Schweigen gebracht, Sir James fügte etwas weniger ernst hinzu: «Ich möchte Sie ja nur warnen. Auf Wiedersehen. Wenn Grund zur Annahme besteht, dass man Sie beschattet und Ihnen die Papiere abnehmen könnte, vernichten Sie sie.» Er reichte beiden die Hand.

Zehn Minuten später saßen sie in einem Abteil erster Klasse, auf dem Weg nach Chester.

Lange Zeit sprach keiner ein Wort. Als schließlich Hersheimer das Schweigen brach, machte er eine völlig unerwartete Bemerkung. «Sagen Sie mal, haben Sie sich jemals eines Mädchengesichts wegen zum Narren gemacht?»

«Ich wüsste nicht. Wieso?»

«Weil ich mich während der letzten beiden Monate Janes wegen wie ein sentimentaler Idiot aufgeführt habe. Als ich zum ersten Mal ihr Bild erblickte, machte mein Herz sämtliche Saltos, von denen man in Romanen liest. Ich schäme mich, es zugeben zu müssen, aber ich kam mit dem festen Entschluss nach Europa, sie zu finden und sie als Mrs Hersheimer nach Hause zu führen.»

«Ach so!», rief Tommy überrascht.

Hersheimer schlug die Beine übereinander. «Das beweist nur, wie dämlich sich ein Mensch benehmen kann. Ein Blick auf das Mädchen selber – und ich war geheilt. Sie ähnelt so gar nicht dem Foto, das ich von ihr hatte. Gewiss ist sie hübsch. Ich habe sie ja auch gleich erkannt. Wäre ich ihr in einer Menschenmenge begegnet, hätte ich gesagt. ‹Das Gesicht kommt mir bekannt vor.› Aber auf diesem Bild war noch etwas anderes» – Hersheimer seufzte auf –, «na, unsere romantischen Gefühle sind ziemlich komisch.»

«Das kann man wohl sagen», erwiderte Tommy, «vor allem, wenn einer, in ein Mädchen verliebt, hierher kommt und innerhalb von vierzehn Tagen einem anderen einen Antrag macht.»

Hersheimer brachte den Anstand auf, etwas verlegen zu tun. «Verstehen Sie, ich hatte das Gefühl, ich würde Jane niemals finden, war der Sache ein wenig müde und dachte, es wäre alles im Grunde genommen ein großer Blödsinn. Die Franzosen zum Beispiel sind in ihrer Art, das Leben zu betrachten, sehr viel vernünftiger. Sie halten romantische Gefühle und Ehe auseinander –»

Tommy schoss das Blut ins Gesicht. «Verdammt. Wenn es das ist…»

Aber Hersheimer unterbrach ihn gleich.

«Halt, nur nicht so eilig. Ich meine nicht, was Sie meinen. Ich möchte behaupten, dass die Amerikaner im Allgemeinen eine viel strengere Moralauffassung haben als sogar Sie. Ich meinte nur, dass die Franzosen eine Ehe eben geschäftsmäßiger betrachten. Aber vielleicht stimmt’s auch gar nicht.»

«Wenn Sie mich fragen», erwiderte Tommy, «so sind wir heute alle viel zu nüchtern und geschäftsmäßig. Die Mädchen sind am schlimmsten.»

«Nun kühlen Sie sich mal etwas ab, mein Freund. Sie sollten sich nicht so heiß reden.»

Tommy fand Zeit genug sich abzukühlen, bevor sie nach Holyhead gelangten, und er hatte wieder sein altes, lustiges Gesicht, als sie an ihrem Bestimmungsort ausstiegen.

Nachdem sie sich eine Karte besorgt hatten, waren sie sich bald über die Richtung im Klaren und konnten nun ein Taxi besteigen und zur Trearddur Bay fahren. Sie sagten dem Chauffeur, er solle langsam fahren, um nicht den kleinen Weg zu verfehlen. Bald nachdem sie die Stadt hinter sich gelassen hatten, entdeckten sie ihn; Tommy ließ den Wagen halten und fragte leichthin, ob der Pfad zum Meer hinabführe. Der Fahrer bejahte und so bezahlte er ihn und gab ihm ein reichliches Trinkgeld.

Einen Augenblick später brummte der Wagen langsam wieder nach Holyhead zurück.

«Hoffentlich ist es der richtige?», meinte Tommy zweifelnd. «Es gibt hier sicher zahllose solche Pfade.»

«Ich glaube schon, dass er’s ist. Hier wächst auch viel Ginster. Erinnern Sie sich, was Jane sagte?»

Tommy betrachtete das dichte Gebüsch mit seinen goldgelben Blüten, das den Pfad auf beiden Seiten einengte, und war nun auch überzeugt. Hintereinander stiegen sie zum Strand hinab, Hersheimer voran. Zweimal wandte Tommy unruhig den Kopf zurück. Hersheimer blickte sich nach ihm um.

«Was ist?»

«Ich weiß nicht… Ich habe so ein komisches Gefühl. Ich bilde mir ein, dass uns jemand folgt.»

«Unmöglich. Dann müssten wir ihn doch sehen.»

Tommy musste das zugeben. Trotzdem vergrößerte sich seine Unruhe. Er konnte nicht anders, er glaubte nun einmal an die Überlegenheit ihres Gegners.

«Mir wäre es nur lieb, wenn sich der Kerl zeigte», erklärte Hersheimer. «Mein kleiner Willi sehnt sich geradezu nach Taten.»

«Tragen Sie den immer bei sich?»

«Man weiß nie, was einem zustößt.»

Tommy schwieg. Immerhin schien ihm der kleine Willi die Gefährdung durch Mr Brown ein wenig abzuschwächen.

Der Pfad lief nun quer zur Steilküste und parallel zum Strand. Plötzlich blieb Hersheimer stehen, so dass Tommy gegen ihn rannte. «Sehen Sie mal!»

Tommy blickte über seine Schulter. Halb auf dem Pfad lag ein großer Felsblock, der zweifellos einem sitzenden Hund ähnelte. «Na ja. Ist doch genau das, was wir erwarteten.»

Hersheimer schüttelte den Kopf. «Natürlich haben wir es erwartet – aber trotzdem verblüfft es einen doch.»

Tommy, dessen Ruhe ein bisschen erzwungen war, wurde ungeduldig. «Weiter. Wo ist denn nun das Loch?»

Sie musterten die Felswand eingehend und Tommy meinte: «Nach all den Jahren wird der Ginsterzweig nicht mehr da sein.»

«Da haben Sie wohl Recht.»

Plötzlich deutete Tommy auf einen Punkt: «Was ist das für ein Spalt?»

«Das ist er – bestimmt.»

Tommy betrachtete die Felswand und wurde plötzlich sehr aufgeregt. «Das ist unmöglich!», rief er. «Fünf Jahre! Man stelle sich das vor! Jungen, die nach Vogelnestern suchen, Ausflügler, Tausende von Menschen, die hier vorbeikommen… Es kann gar nicht da sein! Es widerspricht jeder vernünftigen Überlegung.»

«Jetzt sind Sie endlich ein bisschen durcheinander», erklärte Hersheimer. «So, und nun sehen wir mal!» Er drang mit seiner Hand in den Spalt ein und verzog dabei ein wenig das Gesicht. «Ist schon verdammt eng. Janes Hand muss ein paar Nummern kleiner sein als meine. Ich fühle gar nichts – nein, was ist denn das? Mein Gott!» Und strahlend hielt er ein kleines ausgeblichenes Päckchen in die Höhe. «Da haben wir’s ja! In Öltuch. Halten Sie mal, bis ich mein Taschenmesser gefunden habe.»

Das Unglaubliche war Tatsache geworden: Tommy hielt das kostbare Päckchen in den Händen.

«Ist doch seltsam», murmelte er leise, «man sollte meinen, die Nähte wären bereits verrottet. Aber sie sehen aus wie neu.»

Vorsichtig schnitten sie die Naht auf und rissen die Ölseide auseinander. Drinnen lag ein kleiner, zusammengefalteter Bogen Papier. Der Bogen war leer. Verblüfft sahen sie einander an.

«Was bedeutet denn nun das wieder?», stieß Hersheimer hervor. «Wollte Danvers nur eine falsche Spur legen?»

Tommy schüttelte den Kopf. Diese Erklärung gefiel ihm nicht. Plötzlich hellte sich sein Gesicht auf. «Ich hab’s! Geheimschrift! Unsichtbar!»

«Meinen Sie?»

«Es lohnt jedenfalls einen Versuch. Probiern wir’s mal mit Erhitzung – das ist ja wohl die übliche Methode. Suchen wir ein paar Stückchen Holz. Wir machen ein Feuer.»

Kurze Zeit darauf züngelte ein kleines Feuer aus Zweigen und trockenem Laub auf. Tommy hielt den Bogen darüber. Das Papier kräuselte sich ein wenig durch die Hitze. Plötzlich packte Hersheimer Tommys Arm und deutete auf Stellen auf dem Bogen, an denen in einer leicht braunen Tönung Buchstaben sichtbar wurden.

«Teufel! Wir haben es!»

Tommy hielt das Papier noch eine Weile über das Feuer. Einen Augenblick später stieß er einen Schrei aus. Quer über das Papier stand in deutlichen Druckbuchstaben geschrieben:

MIT DEN BESTEN EMPFEHLUNGEN VON MR BROWN.

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