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Whittington und sein Begleiter entfernten sich mit raschen Schritten. Tommy folgte ihnen schnell und als er an der Ecke anlangte, war der Abstand zwischen ihnen bereits erheblich geringer. Die kleinen Straßen in Mayfair waren verhältnismäßig menschenleer und er hielt es für besser, sich damit zu begnügen, ihnen in einer gewissen Entfernung zu folgen.

Für ihn war es ein neuer Sport und er musste bald feststellen, dass es mancherlei Schwierigkeiten gab, von denen er nichts geahnt hatte. Die Männer verfolgten einen Zickzackkurs, mit dem sie offenbar so schnell wie möglich zur Oxford Street zu gelangen suchten. Als sie schließlich in sie einbogen und in östlicher Richtung weitergingen, beschleunigte Tommy ein wenig seinen Schritt. Nach und nach holte er sie ein. In Anbetracht der vielen Menschen war es höchst unwahrscheinlich, dass er ihre Aufmerksamkeit auf sich zog.

Kurz vor der U-Bahn-Station Bond Street überquerten sie die Straße; Tommy blieb ihnen unauffällig auf den Fersen. Dann betraten sie das große Lokal von Lyons. Sie stiegen in den ersten Stock und setzten sich an einen kleinen Tisch am Fenster. Es war schon spät und die meisten Leute verließen den Raum. Tommy setzte sich an den Nebentisch, hinter Whittington, für den Fall, dass der ihn doch erkennen würde. Außerdem konnte er den anderen Mann auf diese Weise ungehindert betrachten. Er war blond und hatte ein unangenehmes Gesicht. Tommy hielt ihn für einen Russen oder Polen. Er mochte etwa fünfzig Jahre alt sein. Seine kleinen, listigen Augen waren unaufhörlich in Bewegung.

Tommy schnappte das Wort «Irland» auf, mehrfach auch «Propaganda», von Jane Finn war nicht die Rede. Plötzlich aber – das Summen und Klappern im Raum war gerade einmal abgebrochen – vermochte er mehrere Sätze aufzufangen. Es war Whittington, der sprach: «Ach, und Sie kennen Flossie nicht. Sie ist ein reines Wunder. Ein Erzbischof würde einen Eid darauf ablegen, sie sei seine eigene Mutter. Jedes Mal trifft sie die Stimme ganz genau, und das ist es ja, worauf es ankommt, Boris.»

Tommy konnte Boris’ Antwort nicht hören, aber in Erwiderung darauf sagte Whittington etwas, das klang wie: «Natürlich… nur im Notfall…»

Dann verlor er wieder den Faden. Nach einer Weile jedoch wurden die Sätze wieder deutlich. Zwei Worte übten auf ihn eine geradezu elektrisierende Wirkung aus. Boris hatte sie ausgesprochen: «Mr Brown.»

Whittington schien Einwendungen zu machen, aber Boris lachte nur.

«Warum denn nicht, mein Freund? Es ist doch ein höchst achtbarer Name – und ganz alltäglich. Hat er ihn sich nicht aus diesem Grunde zugelegt? Ach, ich würde ihn zu gern kennen lernen, diesen Mr Brown.»

In Whittingtons Stimme lag ein stählerner Klang, als er antwortete: «Vielleicht sind Sie ihm schon einmal begegnet?»

«Unsinn! Das ist doch Geschwätz. Vielleicht ist das alles nur ein Märchen, das sich der Innere Ring ausgedacht hat – ein Märchen für die Polizei. Und eine Vogelscheuche, um uns in Atem zu halten. Könnte es nicht so sein?»

«Und es könnte auch anders sein.»

«Ich frage mich – ist das wirklich wahr, dass er uns und allen, bis auf ein paar Auserwählten, unbekannt ist? In dem Fall hat er sein Geheimnis gut zu wahren verstanden. Der Gedanke ist natürlich gut. Wir sehen einander an – einer von uns ist Mr Brown – aber welcher? Er befiehlt – aber er führt auch aus. Irgendwo unter uns, irgendwo in unserer Mitte. Und niemand weiß, wer es ist…»

Der Russe blickte auf seine Uhr.

«Ja», sagte Whittington, «wir müssen gehen.»

Draußen rief Whittington ein Taxi und bat zum Bahnhof Waterloo gefahren zu werden.

An Taxis fehlte es hier nicht und bevor Whittington abgefahren war, hatte Tommy das nächste. Die Fahrt selber verlief ohne jede Aufregung. Tommys Taxi blieb gleich hinter Whittingtons an der Abfahrtsrampe stehen. Tommy stand auch am Schalter hinter Whittington. Er löste eine Fahrkarte erster Klasse nach Bournemouth; Tommy tat das Gleiche. Als er wieder in der Nähe der anderen stehen blieb, äußerte Boris, nachdem er einen Blick auf die Uhr geworfen hatte: «Sie sind früh dran. Sie haben noch fast eine halbe Stunde Zeit.»

Boris’ Worte hatten bei Tommy eine neue Folge von Gedanken ausgelöst. Offensichtlich unternahm Whittington die Reise allein, während der andere in London blieb. Tommy hatte also die Wahl, welchem von beiden er folgen wollte. Schließlich konnte er nicht beide zugleich verfolgen – es sei denn… Ebenso wie Boris blickte er nun zur Uhr hinauf und dann auf die Tafel mit den Abfahrtszeiten der Züge. Der Zug nach Bournemouth sollte um drei Uhr dreißig abfahren. Jetzt war es zehn Minuten nach drei. Whittington und Boris gingen vor dem Bücherstand auf und ab. Er warf ihnen einen zweifelnden Blick zu und eilte dann in die nächste Telefonzelle. Er versuchte gar nicht erst, mit Tuppence in Verbindung zu treten; höchstwahrscheinlich befand sie sich noch in der Nähe der South Audley Mansions. Aber er hatte ja noch einen anderen Verbündeten. Er rief das Ritz an und ließ sich mit Hersheimer verbinden. Ein Klicken und Summen. Ach, wenn nur der junge Amerikaner in seinem Zimmer wäre! Noch ein Klicken und dann, mit dem unmissverständlichen Akzent, das Wörtchen: «Hallo!»

«Hersheimer, sind Sie’s? Hier spricht Beresford. Ich bin am Bahnhof Waterloo. Ich bin Whittington und einem anderen Mann hierher gefolgt. Keine Zeit zur Erklärung. Whittington soll um drei Uhr dreißig nach Bournemouth abreisen. Können Sie bis dahin hier sein?»

Hersheimer bejahte. «Aber sicher. Ich beeile mich.»

Mit einem Seufzer der Erleichterung legte Tommy den Hörer zurück.

Whittington und Boris waren noch immer dort, wo er sie zuletzt gesehen hatte. Wenn Boris bis zur Abfahrt seines Freundes wartete, war alles in Ordnung. Dann durchsuchte Tommy seine Taschen. Trotz der Blankovollmacht für Spesen hatte er es sich noch immer nicht zur Gewohnheit gemacht, eine größere Geldsumme bei sich zu haben. Nachdem er die Fahrkarte erster Klasse nach Bournemouth bezahlt hatte, waren ihm nur nach ein paar Shillinge übrig geblieben. Es war zu hoffen, dass Hersheimer ein wenig besser ausgerüstet war.

Nun begannen die Minuten immer schneller zu verstreichen. Angenommen, Hersheimer käme nicht mehr rechtzeitig… Tommy packte die Verzweiflung. Da legte sich eine Hand auf seine Schulter.

«Da bin ich, mein Sohn. Dieser britische Verkehr spottet jeder Beschreibung. Zeigen Sie mir schnell die Kerle.»

«Der da ist Whittington – der jetzt einsteigt, der große dunkle. Der andere, mit dem er spricht, ist der Ausländer.»

«Verstanden. Und welcher von beiden ist nun mein Wild?»

«Haben Sie Geld bei sich?» Hersheimer schüttelte den Kopf, und Tommy machte ein mutloses Gesicht.

«Ich habe nicht mehr als drei- oder vierhundert Dollar bei mir», erklärte der Amerikaner.

Tommy stieß einen Seufzer der Erleichterung aus. «Mein Gott, ihr Millionäre! Da ist Ihre Fahrkarte. Whittington ist Ihr Mann.»

Der Zug fuhr gerade ab, als Hersheimer hineinsprang. «Bis bald, Tommy!» Dann glitt der Zug aus der Halle.

Von Waterloo nahm Boris die U-Bahn bis Piccadilly Circus. Dann ging er die Shaftesbury Avenue entlang und bog schließlich in ein Gewirr kleiner Gassen in Soho ein. Tommy folgte ihm vorsichtig.

Sie gelangten auf einen kleinen, unansehnlichen Platz. Boris blickte um sich und Tommy zog sich in einen Hauseingang zurück. Im Schutz des Eingangs sah er ihn die Stufen zu einem besonders übel aussehenden Haus hinaufsteigen und hörte ihn in einem bestimmten Rhythmus gegen die Tür schlagen. Sie wurde sogleich geöffnet, Boris sagte etwas und trat ein. Hinter ihm schloss sich wieder die Tür.

In diesem kritischen Augenblick verlor Tommy den Kopf. Er hätte geduldig dort stehen bleiben und warten müssen, bis der Mann wieder herauskam. Aber nicht Tommy. Ohne auch nur einen Augenblick zu überlegen, stieg er ebenfalls die Stufen hinauf und wiederholte, so gut es ging, den Klopfrhythmus.

Ebenso schnell wie zuvor ging die Tür auf. Ein Mann mit einem niederträchtigen Gesicht und bürstenartig kurz geschnittenen Haaren stand in der Tür. «Was gibt’s?»

In diesem Augenblick wurde Tommy das ganze Ausmaß seines wahnsinnigen Unterfangens bewusst. Nun aber wagte er nicht mehr zu zögern. Er stieß die ersten Worte aus, die ihm in den Sinn kamen. «Mr Brown?», fragte er.

Zu seiner Überraschung trat der Mann zur Seite. «Oben», sagte er, «erste Tür links.»

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