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Der Premierminister trommelte nervös auf die Schreibtischplatte. Sein Gesicht war abgespannt und voller Sorge. «Ich verstehe nicht ganz», sagte er. «Wollen Sie wirklich damit sagen, dass die Lage doch nicht ganz so schlimm ist?»

«Unser junger Mann scheint dieser Ansicht zu sein.»

«Zeigen Sie den Brief noch mal!» Dann las er:

Sehr geehrter Mr Carter,

es ist etwas geschehen, was mir wieder Auftrieb gegeben hat. Natürlich ist es möglich, dass ich mich blamiere, aber ich glaube es nicht. Wenn meine Vermutungen richtig sind, war die Sache mit dem Mädchen in Manchester Schwindel. Die Geschichte war inszeniert, um bei uns den Eindruck hervorzurufen, das Spiel sei verloren – und daher glaube ich auch, dass wir unserem Ziel sehr nah waren.

Ich glaube heute zu wissen, wer die wirkliche Jane Finn ist, und ich habe sogar eine Ahnung wo sich die Papiere befinden. Letzteres ist natürlich nur eine Vermutung. Aber ich habe das Gefühl, dass sie sich bewahrheiten wird. Auf jeden Fall habe ich meine Vermutung zu Papier gebracht, das ich Ihnen in dem versiegelten Umschlag übergebe; ich bitte Sie, ihn erst im allerletzten Augenblick, also um Mitternacht des Achtundzwanzigsten, zu öffnen.

Sie werden gleich verstehen, warum. Ich bin zu der Ansicht gekommen, dass Tuppences aufgefundene Sachen ebenfalls nur einen Zug in diesem falschen Spiel darstellen; sie ist ebensowenig ertrunken wie ich. Ich sage mir Folgendes: Ihre letzte Chance liegt darin, Jane Finn entweichen zu lassen – in der Hoffnung dass sie den Verlust ihres Gedächtnisses nur simuliert hat und dass sie, einmal freigelassen, sogleich das Versteck aufsuchen wird. Selbstverständlich riskieren sie damit außerordentlich viel – aber es liegt ihnen ja alles daran, diesen Vertrag in die Hände zu bekommen. Wenn sie aber wissen, dass wir die Papiere haben, ist das Leben beider Mädchen keinen Pfifferling mehr wert. Ich muss also versuchen, Tuppence zu finden, bevor Jane entweichen kann. Ich hätte gern eine Kopie jenes Telegramms, das Tuppence ins Ritz geschickt wurde. Sir James Peel Edgerton sagte, Sie könnten es mir beschaffen.

Noch etwas – lassen Sie bitte das Haus in Soho Tag und Nacht überwachen.

Ihr

Thomas Beresford

«Und der beigelegte Umschlag?», fragte der Premierminister.

«Im Banksafe. Ich will nichts mehr riskieren.»

«Glauben Sie nicht», der Premierminister zögerte einen Augenblick, «es wäre besser, diesen Umschlag jetzt zu öffnen? Wir sollten uns doch dieses Dokument sogleich beschaffen, das heißt, vorausgesetzt, dass die Vermutung des jungen Mannes zutrifft. Die Tatsache, dass wir es getan haben, können wir ja ohne weiteres verheimlichen.»

«Dessen bin ich nicht so sicher. Wir müssen mit Spitzeln rechnen. Sobald es bekannt ist, würde ich nicht so viel für das Leben der beiden Mädchen geben», er schnipste mit den Fingern. «Nein, Beresford hat mir sein Vertrauen geschenkt, ich kann ihn nicht hintergehen.»

«Gut, dann belassen wir es dabei. Was ist denn mit diesem Beresford?»

«Er wirkt wie ein ganz alltäglicher, gut gewachsener, etwas eigensinniger junger Mann. Er hat wenig Fantasie und ist daher schwer zu täuschen. Er ist ungeheuer zäh, und hat er erst einmal etwas gepackt, lässt er es nicht mehr los. Die junge Dame ist da ganz anders. Mehr Intuition und weniger Nüchternheit. Sie ergänzen sich ausgezeichnet. Eine Mischung von Temperament und Zuverlässigkeit.»

«Er scheint sehr zuversichtlich.»

«Ja, und das ist es gerade, was mich hoffen lässt. Er gehört zu den Leuten, die sich selber gegenüber voller Misstrauen sind und einer Sache sehr sicher sein müssen, bevor sie überhaupt eine Ansicht äußern.»

«Und der junge Mann wird also diesen raffinierten Verbrecher zu Fall bringen?»

«Ja, das will er… Aber manchmal glaube ich, hinter ihm einen Schatten aufragen zu sehen – Peel Edgerton.»

«Peel Edgerton?»

«Ja, hier hat er sicher seine Hand im Spiel. So ist er – arbeitet verschwiegen und unauffällig. Übrigens schickte er mir neulich einen Ausschnitt aus einer amerikanischen Zeitung. Es war da von der Leiche eines Mannes die Rede, die vor etwa drei Wochen in der Hafengegend New Yorks gefunden wurde. Er bat mich, jede nur mögliche Information darüber einzuholen.»

«Na und?»

«Ich bekam nicht viel zusammen. Ein junger Mensch von etwa fünfunddreißig Jahren – ärmlich gekleidet –, das Gesicht übel zugerichtet. Er wurde niemals identifiziert.»

«Und Sie glauben, dass die beiden Angelegenheiten miteinander zusammenhängen?»

«Ich glaube schon. Natürlich kann ich mich irren.»

Es folgte eine Pause, nach der Mr Carter fortfuhr: «Ich habe ihn gebeten, herzukommen. Selbstverständlich werden wir nichts aus ihm herausholen, was er uns nicht zu sagen wünscht. Aber zweifellos könnte er den einen oder anderen Punkt in Beresfords Brief ein wenig erhellen. Ach, da ist er ja schon!»

Die beiden Männer erhoben sich, um den Ankömmling zu begrüßen.

«Wir haben einen Brief vom jungen Beresford erhalten», erklärte Mr Carter und ging damit gleich auf den Kern der Sache los. «Ich nehme an, dass Sie Beresford gesehen haben?»

«Er hat mich angerufenen», erwiderte der Anwalt.

«Dürfen wir wissen, was zwischen Ihnen besprochen wurde?»

«Natürlich. Er dankte mir für einen gewissen Brief, den ich ihm geschrieben hatte – ich hatte ihm darin eine Stellung angeboten. Dann erinnerte er mich an etwas, das ich ihm damals in Manchester über das falsche Telegramm gesagt hatte, wodurch Miss Cowley weggelockt wurde. Ich fragte ihn darauf, ob irgendetwas Ungewöhnliches geschehen sei. Und da teilte er mir mit, dass er im Schreibtisch in Mr Hersheimers Zimmer eine Fotografie entdeckt hätte.» Der Anwalt machte eine Pause und fuhr dann fort: «Meine Frage, ob die Fotografie den Namen und die Adresse eines Fotografen in Kalifornien aufwiese, bejahte er. Dann erzählte er mir etwas, wovon ich nichts wusste. Diese Fotografie stellte die Französin Annette dar, die ihm das Leben gerettet hatte.»

«Bitte?»

«Ja, die Französin. Ich fragte ihn darauf einigermaßen neugierig, was er denn mit der Fotografie gemacht hätte. Er antwortete, er habe sie zurückgelegt.» Wieder machte der Anwalt eine Pause. «Das war sehr richtig. Dieser junge Mensch versteht seine Sache. Seine Entdeckung war wirklich von höchster Bedeutung. Von dem Augenblick an, in dem sich herausstellte, dass das Mädchen in Manchester ein Bluff war, sah alles anders aus. Der junge Beresford wusste das sehr genau, ich brauchte es ihm nicht erst zu sagen. Er glaubte nun auch, dass Miss Cowley noch am Leben sei. Ich erwiderte ihm, nachdem ich mir das Für und Wider überlegt hatte, dass in der Tat sehr viel dafür spräche. Damit kamen wir wieder auf das Telegramm zurück.»

«Und weiter?»

«Ich riet ihm, sich von Ihnen eine Kopie besorgen zu lassen. Mir war der Gedanke gekommen, dass man möglicherweise manche Wörter ausradiert und verändert haben könnte – nachdem Miss Cowley das Telegrammformular zerknüllt und weggeworfen hatte –, mit der ausdrücklichen Absicht, etwaige Verfolger auf eine falsche Spur zu locken.»

Carter nickte. Er zog ein Stück Papier aus der Tasche und las laut vor:

«SOFORT KOMMEN, ASTLEY PRIORS, GATEHOUSE, KENT, VIEL GESCHEHEN – TOMMY.»

«Sehr einfach», sagte Sir James, «und sehr gerissen. Nur ein paar Wörter verändert – und schon war alles geschafft. Doch ein wichtiger Hinweis wurde dabei übersehen.»

«Und der war?»

«Die Behauptung des Hotelpagen, dass Miss Cowley zum Charing-Cross-Bahnhof gefahren sei.»

«Und wo befindet sich nun der junge Beresford?»

«Falls ich mich nicht sehr irre, in Gatehouse, Kent.» Mr Carter sah ihn seltsam an. «Ich wundere mich, dass Sie nicht auch dort sind!»

«Ach, ich habe alle Hände voll zu tun.»

«Ich dachte, Sie hätten sich etwas Urlaub genommen?»

«Oh, genauer gesagt, ich bin dabei, einen Prozess auszuarbeiten. Haben Sie übrigens noch irgendwelche Nachrichten über jenen unbekannten Amerikaner erhalten?»

«Leider nicht. Ist es wichtig, seine Identität festzustellen?»

«Ich weiß, wer es ist», erklärte Sir James. «Ich kann es nur noch nicht beweisen.»

Die beiden anderen stellten keine Frage mehr. Sie spürten, dass es vergebliche Mühe bedeutet hätte.

«Aber eines verstehe ich nicht», sagte der Premierminister plötzlich, «wie ist denn diese Fotografie in Mr Hersheimers Schublade geraten?»

«Vielleicht war sie immer drin», meinte der Anwalt.

«Und was ist mit dem falschen Inspektor? Inspektor Brown?»

«Ach, der!», meinte Sir James nachdenklich. Dann erhob er sich. «Ich will Sie nicht länger aufhalten. Außerdem muss ich mich wieder mit meinem Fall befassen.»

Zwei Tage später kehrte Hersheimer aus Manchester zurück. Auf seinem Tisch lag eine Mitteilung von Tommy:

Lieber Hersheimer,

es tut mir Leid, dass ich neulich meine Beherrschung verloren habe. Falls ich Sie nicht Wiedersehen sollte, leben Sie wohl. Man hat mir einen Posten in Argentinien angeboten und ich werde ihn wohl annehmen.

Ihr

Tommy Beresford

Ein seltsames Lächeln spielte einen Augenblick um Hersheimers Mund. Er warf den Brief in den Papierkorb. «Verdammter Idiot!», murmelte er.

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