15

Hersheimer sprang auf. «Wie bitte?»

«Ich dachte, das wüssten Sie.»

«Wann ist sie denn abgereist?»

«Warten Sie mal. Es war am letzten Mittwoch – ja –, als Sie von meinem Baum fielen.»

«Vorher oder nachher?»

«Augenblick mal – nachher! Es traf ein Telegramm von Mrs Vandemeyer ein. Sie fuhren noch mit dem Nachtzug.»

Hersheimer ließ sich in seinen Sessel zurücksinken. «Schwester Edith reiste mit einer Patientin ab, dessen entsinne ich mich», murmelte er. «Mein Gott, so nah war ich!»

Dr. Hall sah ihn verwundert an. «Befindet sich die junge Dame denn nicht bei ihrer Tante?»

Tuppence schüttelte den Kopf. Sie wollte gerade etwas sagen, als ein warnender Blick von Sir James sie veranlasste, den Mund zu halten. Der Anwalt erhob sich.

«Ich bin Ihnen außerordentlich dankbar, lieber Hall. Ich fürchte nur, dass wir nun die Spur von Miss Vandemeyer aufs Neue suchen müssen. Wie steht es denn nun mit der Pflegerin, die sie begleitete? Wahrscheinlich wissen Sie nicht, wo sie ist?»

«Wir haben nichts mehr von ihr gehört. Ich wusste nur, dass sie noch eine Weile bei Miss Vandemeyer bleiben sollte. Man hat das Mädchen doch nicht entführt?»

«Das muss erst noch festgestellt werden!»

«Meinen Sie, ich sollte zur Polizei gehen?»

«Aber nein! Aller Wahrscheinlichkeit nach befindet sich die junge Dame bei anderen Verwandten.»

Der Arzt war mit dieser Erklärung nicht völlig zufrieden, er sah jedoch, dass Sir James entschlossen war, nichts mehr zu sagen. So verabschiedeten sie sich und die Besucher verließen das Hotel. Einige Minuten lang standen sie noch neben dem Wagen und besprachen die Angelegenheit.

«Es ist verrückt!», rief Tuppence. «Man stelle sich vor, dass sich Hersheimer unter dem gleichen Dach befand.»

«Was für ein Idiot ich war», sagte Hersheimer wütend.

«Das konnten Sie wirklich nicht wissen», tröstete Tuppence. «Oder?» Sie wandte sich an Sir James.

«Ich möchte Ihnen raten, sich nicht zu beunruhigen», erklärte dieser freundlich. «Sie wissen doch, dass es sinnlos ist, sich über Dinge aufzuregen, die nicht zu ändern sind.»

«Die Frage ist nur, was nun zu tun ist», meinte Tuppence, die wie immer zum Handeln drängte.

Sir James zuckte die Schultern. «Sie könnten durch eine Anzeige nach der Schwester forschen. Ich muss zugeben, dass meine Hoffnung auf ein günstiges Ergebnis nicht sehr groß ist. Im Übrigen lässt sich nichts unternehmen.»

«Nichts?», fragte Tuppence. «Und – Tommy?»

«Da können wir nur das Beste hoffen.» Sir James ergriff Tuppences Hand. «Sie lassen es mich wissen, sobald irgendetwas Neues eintritt? Briefe werden mir nachgeschickt.»

Tuppence sah ihn fassungslos an. «Fahren Sie denn weg?»

«Haben Sie das vergessen? Nach Schottland.»

«Ja, aber ich dachte doch…» Das Mädchen zögerte.

Sir James zuckte die Schultern. «Mein liebes Fräulein, ich fürchte, mehr kann ich nicht tun. Alle unsere Fährten haben ins Nichts geführt. Sollte sich eine neue Situation ergeben, werde ich Sie gern in jeder mir nur möglichen Weise beraten.»

«Sie haben wohl Recht. Ich danke Ihnen, dass Sie versucht haben, uns zu helfen. Auf Wiedersehen.»

Hersheimer wandte sich zum Wagen. In Sir James’ kühle Augen trat ein flüchtiger Ausdruck des Mitleids.

«Seien Sie nicht traurig, Miss Tuppence. Denken Sie daran, dass auch im Urlaub nicht immer die ganze Zeit mit Vergnügungen ausgefüllt ist.»

Es lag in seinem Tonfall etwas, das Tuppence veranlasste, jäh zu ihm aufzublicken.

«Nein, mehr sage ich nicht. Denken Sie daran: Erzählen Sie niemals alles, was Sie wissen – nicht einmal dem Menschen, den Sie am besten kennen. Auf Wiedersehen.»

Er entfernte sich. Tuppence blickte ihm nach. Allmählich begann sie, Sir James’ Methoden zu begreifen. Schon einmal hatte er ihr, ebenso beiläufig, einen Fingerzeig gegeben. War auch dies einer?

Hersheimer unterbrach ihre Gedanken. «Wollen wir ein wenig im Park spazieren fahren?»

«Ja, warum nicht.»

Eine Weile fuhren sie schweigend unter den Bäumen dahin. Es war ein prächtiger Tag. Der Fahrtwind munterte Tuppence auf.

«Was glauben Sie – werde ich Jane je wiederfinden?» Hersheimers Stimme klang sehr mutlos. Tuppence sah ihn erstaunt an. «Ja, die Sache setzt mir sehr zu. Sir James war so ganz ohne Hoffnung… Ich mag ihn ja nicht besonders, irgendwie passen wir nicht zueinander, aber er ist wohl sehr tüchtig.»

«Er hat doch vorgeschlagen, der Schwester wegen eine Anzeige aufzugeben», erinnerte sie ihn.

«Ja. Aber es klang nicht zuversichtlich. Vielleicht ist es das Beste, nach Amerika zurückzureisen.»

«Aber nein! Wir müssen doch Tommy finden!»

«Den habe ich tatsächlich im Augenblick vergessen», erklärte Hersheimer zerknirscht. «Aber seit ich diese Reise angetreten habe, ist so viel Unwahrscheinliches geschehen. Man bewegt sich wie in einem Traum. Hören Sie, Miss Tuppence, ich hätte Sie gern etwas gefragt.»

«Und das wäre?»

«Sie und Beresford… Wie steht es da?»

«Ich verstehe Sie nicht», antwortete Tuppence kühl und fügte inkonsequent hinzu: «Und im Übrigen irren Sie sich!»

«Besteht keine… keine nähere Beziehung zwischen Ihnen?»

«Sehe ich aus wie ein Mädchen, das sich in alle Männer, denen es begegnet, immer gleich verliebt?»

«Das nicht. Aber Sie sehen aus wie eins, in das sich immer gleich die Männer verlieben.»

«Ach was!», erwiderte Tuppence ziemlich verblüfft.

«Nehmen wir an, wir finden Beresford nie und… Wie wäre es denn mit Heiraten?», bohrte Hersheimer weiter. «Haben Sie sich jemals mit der Frage befasst?»

«Natürlich habe ich die Absicht, eines Tages zu heiraten. Das heißt, wenn… wenn ich einen finde, der so reich ist, dass es sich wirklich lohnt.»

«Wie haben Sie sich denn das im Einzelnen vorgestellt?»

«Sie meinen, wie er aussehen soll?»

«Nein – ich meine das Vermögen, das Einkommen.»

«Ach, das habe ich mir nicht so genau überlegt.»

«Wie wäre es mit mir –?»

«Mit Ihnen?»

«Warum denn nicht?»

«O nein! Das könnte ich nicht!»

«Warum nicht?»

«Es wäre so ganz und gar nicht anständig gehandelt.»

«Das kann ich nicht einsehen. Ich nehme ganz einfach Ihre Herausforderung an. Das ist alles. Ich bewundere Sie grenzenlos, Miss Tuppence, mehr als jedes andere Mädchen. Nur ein Wort und wir fahren zu einem Juwelier und besorgen uns die Ringe.»

«Ich kann nicht», stieß Tuppence hervor.

«Wegen Beresford?»

«Nein, nein, nein!»

«Sie können doch unmöglich mehr Dollar erwarten, als ich habe.»

«Ach, darum geht es auch nicht», rief Tuppence und lachte nervös. «Ich… ich glaube, es geht nicht.»

«Ich wäre Ihnen dankbar, Sie überlegten es sich bis morgen.»

«Es hat keinen Zweck.»

«Trotzdem finde ich, wir sollten es offen belassen.»

«Also gut», antwortete Tuppence besänftigend.

Sie schwiegen beide, bis sie das Ritz erreichten.

Tuppence ging hinauf in ihr Zimmer. Nach dem Gespräch mit Hersheimer fühlte sie sich am Ende ihrer Kräfte. Er war so mit Energie geladen… Sie setzte sich vor ihren Spiegel und betrachtete sich einige Minuten lang. Da fiel ihr Blick auf ein kleines Foto von Tommy, das in einem armseligen Rahmen auf ihrem Toilettentisch stand. Einen Augenblick lang kämpfte sie um ihre Selbstbeherrschung, dann brach sie in Schluchzen aus.

«Oh, Tommy, Tommy», rief sie, «ich liebe dich – und ich werde dich nie Wiedersehen…»

Nach fünf Minuten richtete sich Tuppence wieder auf, schnäuzte sich und strich ihr Haar zurück.

«Erledigt», erklärte sie energisch. «Sehen wir den Tatsachen ins Gesicht. Ich scheine mich in einen dummen Jungen verliebt zu haben, dem ich sicher völlig gleichgültig bin.» Hier hielt sie inne. «Ich weiß wirklich nicht, was ich Hersheimer sagen soll; er wird darauf bestehen, dass ich ihm einen Grund nenne… Ich frage mich nur, ob er eigentlich in diesem Safe etwas gefunden hat.»

Tuppences Gedanken schlugen nun eine andere Richtung ein. Sie ließ nochmals die Ereignisse der letzten Nacht an sich vorüberziehen. Sir James’ rätselhafte Worte schienen alles in neue Zusammenhänge zu rücken. Plötzlich sprang sie auf – die Farbe wich aus ihrem Gesicht. Es war ungeheuerlich – und doch war damit alles erklärt…

Sie setzte sich und schrieb einige Zeilen, bei denen sie sich jedes einzelne Wort genau überlegte. Schließlich nickte sie zufrieden und steckte das Schreiben in einen Umschlag, den sie an Hersheimer adressierte. Sie ging den Gang entlang, bis zu seinem Wohnzimmer und klopfte an die Tür. Wie erwartet, war kein Mensch im Zimmer. Da legte sie den Brief auf den Tisch. Als sie zu ihrer eigenen Tür zurückkehrte, stand ein Page davor. «Ein Telegramm für Sie.»

Tuppence riss es auf. Es war von Tommy!

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