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Der nächste Tag verlief recht träge. Es erwies sich als notwendig, die Ausgaben etwas einzuschränken. Glücklicherweise war gutes Wetter. «Spazierengehen ist billig», verkündete Tuppence. Ein Vorstadtkino sorgte für ihre Zerstreuung.

Der Tag der großen Enttäuschung war ein Mittwoch gewesen. Am Donnerstag war die Anzeige erschienen. Am Freitag konnte man damit rechnen, dass Briefe in Tommys Club eintreffen würden.

Er hatte sich durch heilige Eide verpflichtet, keinen der Briefe zu öffnen, sondern sich zur Nationalgalerie zu begeben, wo Tuppence ihn um zehn Uhr erwarten wollte.

Tuppence traf zuerst ein. Sie ließ sich auf einem roten Plüschsessel nieder und betrachtete ohne sie wirklich zu sehen Turners Bilder, bis endlich die vertraute Gestalt auftauchte.

«Nun?»

Tommy schüttelte in übertriebener Melancholie den Kopf. «Schade. Das gute Geld ist vertan.» Er seufzte. «Ganze zwei Antworten.»

«Tommy, du ekelhafter Kerl!» Tuppence hatte es fast geschrien. «Gib sie her! Auf der Stelle!»

«Aber Tuppence, was für Worte. Vergiss nicht, worauf ich dich schon früher hingewiesen habe, dass die Tochter eines Geistlichen…»

Tuppence entriss ihm die beiden Umschläge und betrachtete sie aufmerksam.

«Dickes Papier, der eine. Sieht ziemlich wohlhabend aus. Den lesen wir zuletzt und öffnen erst den anderen.» Tuppence riss mit ihrem Daumen den Umschlag auf und holte den Brief hervor.

Sehr geehrte Herren, unter Bezugnahme auf Ihre Anzeige in der heutigen Morgenzeitung teile ich Ihnen mit, dass ich Ihnen von gewissem Nutzen sein könnte. Vielleicht könnten Sie mich morgen Vormittag um elf Uhr aufsuchen.

Ihr ergebener

A. Carter.

«Die Adresse ist Carshalton Terrace 27», sagte Tuppence. «Zeit genug, mit der U-Bahn hinzukommen.»

«Das wäre unser neuer Feldzugsplan», erklärte Tommy. «Jetzt bin ich an der Reihe. Wenn wir also Mr Carter gegenüberstehen, werden er und ich einander wie üblich guten Morgen wünschen. Dann sagt er: ‹Nehmen Sie doch bitte Platz, Mr…?› Worauf ich bedeutungsvoll erwidere: ‹Edward Whittington!› Daraufhin wird Mr Carter rot anlaufen und keuchend hervorstoßen: ‹Wie viel?› Nachdem ich dann das übliche Honorar von fünfzig Pfund eingesteckt habe, komme ich wieder zu dir auf die Straße, wir begeben uns zur nächsten Adresse und wiederholen das Ganze.»

«Sei nicht so albern, Tommy. Jetzt der andere Brief. Oh, der kommt sogar aus dem Ritz.»

«Also hundert Pfund anstatt fünfzig.»

«Ich lese ihn dir vor.»

Sehr geehrte Herren, ich habe Ihre Anzeige gelesen und würde mich freuen, wenn Sie etwa zur Essenszeit vorbeikämen.

Ihr ergebener

Julius R Hersheimer.

«Nanu», sagte Tommy. «Ein Deutscher? Oder nur ein amerikanischer Millionär deutscher Herkunft? Auf jeden Fall werden wir uns zur Mittagsstunde bei ihm einfinden. Sehr gute Zeit – führt häufig zu freier Verpflegung.»

Carshalton Terrace erwies sich als eine makellose Reihe von Häusern, von denen Tuppence behauptete, sie sähen sehr «damenhaft» aus. Bei Nummer 27 läuteten sie. Ein Dienstmädchen öffnete. Es wirkte so achtbar, dass Tuppence allen Mut verlor. Als Tommy nach Mr Carter fragte, führte sie das Mädchen in ein kleines Arbeitszimmer im Erdgeschoss und ließ sie allein. Kaum war eine Minute verstrichen, als sich die Tür wieder öffnete und ein hoch gewachsener Mann mit hagerem, adlerartigem Gesicht eintrat. In seinen Bewegungen lag etwas Müdes.

«Mr J. A.?», fragte er. Sein Lächeln war sympathisch. «Nehmen Sie doch bitte Platz.»

Sie folgten seiner Aufforderung. Er selber setzte sich Tuppence gegenüber. Da er nicht geneigt schien, das Gespräch zu eröffnen, sah sich Tuppence gezwungen, es zu tun.

«Wir hätten gern gewusst – das heißt –, würden Sie so freundlich sein und uns alles sagen, was Sie von Jane Finn wissen?»

«Jane Finn.» Mr Carter schien nachzudenken. «Nun, die Frage sollte eigentlich lauten: Was wissen denn Sie von ihr?»

Tuppence richtete sich auf. «Ich verstehe nicht!»

«Nicht? Sie müssen schließlich irgendetwas über sie wissen – wieso sonst diese Anzeige?» Er beugte sich ein wenig vor. Seine leise Stimme hatte etwas Suggestives. «Warum wollen Sie es mir nicht erzählen?» Unzweifelhaft besaß Mr Carter eine starke Anziehungskraft.

Tuppence sagte: «Das können wir doch nicht tun, nicht wahr, Tommy?» Aber zu ihrer Überraschung unterstützte Tommy sie nicht. Seine Augen waren fest auf Mr Carter gerichtet und als er dann sprach, lag ein Ton ungewöhnlicher Ehrerbietung in seinen Worten.

«Ich möchte annehmen, dass das Wenige, was wir wissen, Ihnen nicht viel nützen kann, Sir.»

«Aber Tommy!», rief Tuppence verwundert.

Tommy nickte. «Ja, Sir, ich habe Sie sofort erkannt. Ich habe Sie in Frankreich gesehen, als ich dem Geheimdienst zugeteilt war. Gleich, als Sie das Zimmer betraten, wusste ich…»

Mr Carter hob eine Hand. «Keine Namen, bitte! Ich bin hier als Mr Carter bekannt. Es ist übrigens das Haus meiner Kusine. Sie überlässt es mir manchmal, wenn ich einer Sache möglichst diskret nachgehen möchte. Ja», und er blickte von einem zum anderen, «wer erzählt mir nun also die Geschichte?»

«Schieß los, Tuppence!», befahl Tommy.

Gehorsam schilderte sie den Hergang, angefangen bei der Gründung der Jungen Abenteurer GmbH.

Mr Carter lauschte schweigend. Hin und wieder fuhr er sich mit der Hand über den Mund, als wollte er ein Lächeln verbergen. Als sie geendet hatte, nickte er ernst. «Nicht allzu viel. Aber aufschlussreich. Ich weiß nicht… Sie könnten möglicherweise Erfolg haben, wo andere versagten. Ich glaube an das Glück. Ich habe immer an das Glück geglaubt.» Er hielt einen Augenblick inne und fuhr dann fort: «Sie suchen das Abenteuer. Wollen Sie nicht für mich arbeiten? Ganz inoffiziell, verstehen Sie? Spesen werden bezahlt und ein bescheidenes Honorar.»

Tuppence starrte ihn an und ihre Augen wurden immer größer. «Was hätten wir denn zu tun?»

Mr Carter lächelte. «Nichts anderes, als was Sie bereits angefangen haben. Jane Finn suchen.»

«Ja, sehr schön – aber wer ist sie eigentlich?»

«Ja, das müssen Sie nun wohl wissen.» Carter lehnte sich zurück, schlug ein Bein über das andere und begann mit leiser Stimme zu erzählen: «Die Geheimdiplomatie (die übrigens fast immer schlechte Politik ist) bringt es mit sich, dass ich Ihnen nicht alles sagen kann. Aber es wird Ihnen sicher genügen, wenn ich Ihnen mitteile, dass zu Anfang des Jahres 1915 ein gewisses Dokument verfasst wurde: der Entwurf eines Geheimabkommens oder eines Vertrages – nennen Sie es, wie Sie wollen. Es wurde von verschiedenen Regierungsvertretern aufgesetzt und es fehlten nur noch die Unterschriften. Das geschah in Amerika, das damals noch neutral war. Der Vertrag wurde durch einen Sonderkurier, einen jungen Mann namens Danvers, nach England geschickt. Man hoffte, dass die ganze Sache streng geheim bleiben würde. Aber solche Hoffnungen werden meist enttäuscht. Irgendeiner redet immer.

Danvers reiste auf der Lusitania nach England. Er trug die wichtigen Papiere in einem in Öltuch eingeschlagenen Päckchen unmittelbar auf dem Körper. Auf dieser Reise wurde die Lusitania torpediert und sank. Danvers stand auf der Verlustliste. Sein Leichnam wurde an der Küste angespült und unzweifelhaft identifiziert. Das Päckchen aber fehlte!

Nun erhob sich die Frage: Hatte man es ihm weggenommen oder hatte er selber es jemandem zur Aufbewahrung gegeben? Es gab einige Anhaltspunkte, die für die zweite Annahme sprechen. Nachdem das Torpedo das Schiff getroffen hatte, sah man Danvers in den wenigen Augenblicken, die bis zum Besteigen der Boote blieben, mit einer jungen Amerikanerin sprechen. Es hat zwar niemand tatsächlich beobachtet, dass er ihr das Päckchen gab, es besteht jedoch die Möglichkeit, dass er es getan hat. Ich halte es jedenfalls für durchaus wahrscheinlich, dass er die Papiere diesem Mädchen übergab, weil sie als Frau größere Aussicht besaß, wohlbehalten an Land zu kommen.

Wenn das so war – wo war dann das Mädchen und was hatte sie mit den Papieren getan? Nach späteren Mitteilungen aus Amerika war so gut wie sicher, dass man Danvers auf der Überfahrt beschattet hatte. Stand das Mädchen in Verbindung mit dem Feind? Oder war es seinerseits beschattet worden und hatte man es durch List oder Gewalt dahin gebracht, das Päckchen auszuliefern?

Wir machten uns an die Arbeit, sie aufzuspüren. Es erwies sich als ungewöhnlich schwierig. Ihr Name war Jane Finn und dieser Name erschien auch auf der Liste der Überlebenden. Aber das Mädchen war wie vom Erdboden verschluckt. Die Nachforschungen nach ihren Eltern halfen uns wenig. Sie war eine Waise und hatte in einem kleinen Nest im Westen als Hilfslehrerin gearbeitet. Sie wollte nach Paris, zum Dienst in einem Lazarett. Sie hatte sich freiwillig gemeldet und nach einigem Hin und Her hatte man sie angenommen. Nachdem die Leitung des Lazaretts ihren Namen auf der Liste der Überlebenden gelesen hatte, wunderte man sich, dass sie nicht erschien, um ihre Stelle anzutreten, und auch nichts von sich hören ließ.

Man hat keine Mühe gescheut, das Mädchen zu finden. Aber es war alles umsonst. Wir verfolgten ihre Spur noch durch Irland, doch es war nichts mehr ausfindig zu machen, seit sie ihren Fuß auf englischen Boden gesetzt hatte. Der Vertrag wurde in keiner Weise benutzt, was ja leicht hätte geschehen können, und so lag der Schluss nahe, dass Danvers ihn doch wohl vernichtet hatte. Der Krieg trat in eine neue Phase ein, die diplomatischen Beziehungen änderten sich, und der Vertrag wurde niemals mehr von neuem aufgesetzt. Jane Finns Verschwinden geriet in Vergessenheit.»

Mr Carter hielt inne und Tuppence warf ungeduldig ein: «Warum ist denn jetzt alles wieder aufgewirbelt worden? Der Krieg ist doch vorbei.»

Mr Carters Reaktion verriet eine gewisse Unruhe. «Es sieht nun wieder so aus, als wären diese Papiere doch nicht vernichtet worden. Sie könnten heute wieder ins Spiel geworfen werden und hätten dann eine neue, gefährliche Wirkung.»

Tuppence sah ihn aufmerksam an. Mr Carter nickte.

«Ja, vor fünf Jahren war dieser Vertragsentwurf eine Waffe in unseren Händen. Heute ist er eine Waffe gegen uns. Es handelt sich dabei um einen gewaltigen politischen Missgriff, der für uns katastrophale Auswirkungen haben könnte, falls sein Inhalt bekannt würde. In letzter Konsequenz könnte das fast zu einem Krieg führen – dieses Mal nicht mit Deutschland. Nun, daran glaube ich zwar nicht im Ernst, aber die Sache belastet zweifellos eine Reihe unserer Politiker, die wir im gegenwärtigen Zeitpunkt unmöglich in dieser Weise diskreditiert sehen können. Und als Wahlparole für die Opposition wäre es unwiderstehlich. Doch ein Regierungswechsel bei den augenblicklichen Schwierigkeiten wäre für den britischen Handel von großem Nachteil. Dies alles bedeutet jedoch nichts gegenüber der wirklichen Gefahr.» Er machte eine Pause und sagte dann ruhig: «Sie haben vielleicht davon gehört, dass hinter den gegenwärtigen Schwierigkeiten bolschewistische Einflüsse zu suchen sind?»

Tuppence nickte.

«Und das stimmt tatsächlich. Bolschewistisches Gold strömt zur Zeit für ganz besondere Zwecke in dieses Land. Und da gibt es einen Mann, sein Name ist uns nicht bekannt, der im Dunkeln seine eigenen Ziele verfolgt. Die Bolschewisten stehen bis zu einem gewissen Grade hinter den Schwierigkeiten, aber hinter den Bolschewisten steht dieser Mann. Wer ist er? Wir wissen es nicht. Man nennt ihn nichts sagend Mr Brown. Aber eines steht fest: Er ist ein Meisterverbrecher. Er beherrscht eine exakt funktionierende Organisation. Was er zu erreichen sucht, wissen wir nicht, vielleicht die höchste Macht im Staat. Wir haben nicht die geringsten Anhaltspunkte, wer er sein könnte. Sogar seine eigenen Anhänger sollen keine Ahnung haben. Manchmal sind wir auf seine Spur gestoßen, aber da schob er dann immer geschickt einen anderen vor. Mr Brown ist uns bis jetzt stets entwischt.»

«Ach!» Tuppence fuhr hoch. «Ich frage mich…»

«Bitte?»

«Jetzt entsinne ich mich, dass Mr Whittington in seinem Büro seinen Angestellten stets mit Brown anredete. Aber Sie glauben doch nicht etwa –?»

«Möglich ist alles. Sonderbarerweise tauchte der Name Brown in diesem Zusammenhang tatsächlich immer wieder auf. Können Sie ihn beschreiben?»

«Er hat sich mir nicht eingeprägt. Er war so alltäglich.»

Mr Carter seufzte. «Genauso wird Mr Brown immer beschrieben! Hat diesem Whittington einen Zettel über eine telefonische Mitteilung hingelegt, nicht wahr? Haben Sie im ersten Büro ein Telefon bemerkt?»

Tuppence dachte nach. «Nein, ich glaube nicht.»

«Vielleicht war diese ‹telefonische Mitteilung› nichts anderes als ein Befehl Mr Browns an seinen Untergebenen. Selbstverständlich hatte er Ihr Gespräch mit angehört. Hat Ihnen Whittington nicht gleich danach das Geld ausgezahlt und Ihnen gesagt, Sie sollten am nächsten Tag wiederkommen?»

Tuppence nickte.

«Ja, das sieht fast nach Mr Brown aus.» Mr Carter machte eine Pause. «Sie sehen also, in was Sie sich da einlassen wollen. Wahrscheinlich ist er die größte Verbrecherintelligenz unserer Zeit. Und deshalb gefällt mir die Sache nicht ganz. Es täte mir Leid, wenn Sie in Gefahr gerieten.»

«Mir passiert nichts», behauptete Tuppence zuversichtlich.

«Ich werde schon auf sie aufpassen, Sir!», rief Tommy.

«Dafür passe ich dann auf dich auf», erwiderte Tuppence, der diese männliche Überheblichkeit missfiel.

«Passen Sie nur gegenseitig aufeinander auf», sagte Mr Carter und lächelte. «Aber nun zurück zu unserer Aufgabe. Um diesen Vertragsentwurf hat es immer Rätsel gegeben – die wir bisher nicht lösen konnten. Man hat uns ganz unmissverständlich damit gedroht. Von Seiten unserer Gegner ist behauptet worden, er befände sich in ihrer Hand und sie würden ihn zum gegebenen Augenblick veröffentlichen. Andererseits sind sie sich offensichtlich über manche seiner Punkte keineswegs im Klaren. Die Regierung betrachtet das Ganze als Bluff und hat einfach alles abgestritten – ob mit Recht oder nicht, dessen bin ich nicht sicher. Es hat immer wieder Andeutungen und Hinweise gegeben, dass hier eine Gefahr bestehe. Das ist so, als ob jemand ein belastendes Dokument in Händen hat, das er aber nicht lesen kann, weil es in Geheimschrift abgefasst ist. Aber der Entwurf ist durchaus nicht in Geheimschrift abgefasst. Das war nach Lage der Dinge gar nicht möglich. Hier ist also vieles unklar. Und noch etwas anderes ist seltsam. Natürlich könnte Jane Finn tot sein – denn was wissen wir schon von ihr? Aber ist es nicht merkwürdig, dass sie versuchen, von uns Informationen über sie zu erlangen?»

«Wie ist das möglich?»

«Ja, das sind ein paar Kleinigkeiten, die zu denken geben. Und Ihre Geschichte bestärkt mich in meiner Vorstellung. Die anderen wissen, dass wir Jane Finn suchen. Nun, sie werden also ihre eigene Jane Finn auf die Beine stellen – sagen wir mal in einem Pensionat in Paris.» Tuppence verschlug es den Atem. Mr Carter lächelte. «Niemand ahnt ja auch nur, wie sie aussieht, da kann also nichts passieren. Ihr wird irgendeine Geschichte eingetrichtert, die sie uns zu servieren hat, ihre eigentliche Aufgabe aber besteht darin, so viel Informationen wie nur möglich aus uns herauszuholen. Sehen Sie jetzt, worum es geht?»

«Dann glauben Sie also…» – Tuppence hielt inne, um sich diese Möglichkeit ganz klar zu vergegenwärtigen –, «dass sie mich als Jane Finn nach Paris schicken wollten?»

Mr Carter lächelte noch müder als sonst. «Ich glaube an ein Zusammentreffen verschiedener Zufälle», sagte er.

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