Herr der Diebe Cornelia Funke

Für Rolf - und Bob Hoskins, der genau wie Victor aussieht.

Erwachsene erinnern sich nicht daran, wie es war, ein Kind zu sein.

Auch wenn sie es behaupten.

Sie wissen es nicht mehr. Glaub mir.

Sie haben alles vergessen.

Wie viel größer die Welt ihnen damals erschien.

Dass es mühsam sein konnte, auf einen Stuhl zu klettern.

Wie fühlte es sich an, immer hochzublicken?

Vergessen.

Sie wissen es nicht mehr.

Du wirst es auch vergessen.

Manchmal reden die Erwachsenen davon, wie schön es war,

ein Kind zu sein.

Sie träumen sogar davon, wieder eins zu sein.

Aber wovon haben sie geträumt, als sie Kinder waren? Weißt du es?

Ich glaube, sie träumten davon, endlich erwachsen zu sein.

Kundschaft für Victor


Es war Herbst in der Stadt des Mondes, als Victor zum ersten Mal von Prosper und Bo hörte. Die Sonne spiegelte sich in den Kanälen und überzog die alten Mauern mit Gold, aber der Wind blies eisig vom Meer herüber, als wollte er die Menschen daran erinnern, dass der Winter kam. In den Gassen schmeckte die Luft plötzlich nach Schnee, und die Herbstsonne wärmte nur den Engeln und Drachen hoch oben auf den Dächern die steinernen Flügel. Das Haus, in dem Victor wohnte und arbeitete, stand dicht an einem Kanal, so dicht, dass das Wasser unten gegen die Mauern schwappte. Manchmal träumte Victor nachts, dass das Haus in den Wellen versank, mitsamt der ganzen Stadt. Dass das Meer den Damm fortspülte, mit dem Venedig am Festland hing wie eine Kiste Gold an einem dünnen Faden, und alles verschluckte: die Häuser und Brücken, Kirchen und Paläste, die die Menschen dem Wasser so frech aufs Gesicht gebaut hatten. Aber noch stand alles fest auf seinen hölzernen Beinen, und Victor lehnte an seinem Fenster und blickte durch die staubige Scheibe nach draußen. Kein anderer Ort auf der Welt konnte so unverschämt mit seiner Schönheit prahlen wie die Stadt des Mondes. Das Sonnenlicht ließ die Spitzen und Bögen, Kuppeln und Türme um die Wette leuchten. Pfeifend kehrte Victor dem Fenster den Rücken zu und trat vor den Spiegel. Genau das richtige Wetter, um den neuen Bart auszuprobieren, dachte er, während die Sonne ihm den stämmigen Nacken wärmte. Erst gestern hatte er sich das Schmuckstück gekauft: einen gewaltigen Schnurrbart, so dunkel und buschig, dass ein Walross ihn darum beneidet hätte. Vorsichtig klebte er ihn unter seine Nase, stellte sich auf die Zehenspitzen, um etwas größer zu erscheinen, wandte sich nach links, dann nach rechts... und war so versunken in sein Spiegelbild, dass er die Schritte auf der Treppe erst hörte, als sie vor seiner Tür Halt machten. Kundschaft. Verdammt. Musste ihn ausgerechnet jetzt jemand stören?

Mit einem Seufzer setzte er sich hinter seinen Schreibtisch. Vor der Tür flüsterte jemand. Wahrscheinlich bewundern sie mein Schild, dachte Victor. Es war schwarz und glänzend, sein Name stand in goldenen Buchstaben darauf: Victor Getz, Detektiv. Ermittlungen aller Art. In drei Sprachen hatte er das prägen lassen, schließlich kamen oft Kunden aus anderen Ländern zu ihm. Den Türklopfer neben dem Schild, einen Löwenkopf mit einem Messingring im Maul, hatte Victor gerade heute Morgen poliert. Worauf warten die da draußen?, dachte er und trommelte mit den Fingern auf die Stuhllehne. »Avanti!«, rief er ungeduldig. Die Tür ging auf und ein Mann und eine Frau betraten Victors Büro, das gleichzeitig sein Wohnzimmer war. Argwöhnisch sahen sie sich um, musterten seine Kakteen, die Bärtesammlung, den Garderobenständer mit den Mützen, Hüten und Perücken, den riesigen Stadtplan an der Wand und den geflügelten Löwen, der als Briefbeschwerer auf dem Schreibtisch stand. »Sprechen Sie Englisch?«, fragte die Frau, obwohl ihr Italienisch nicht schlecht klang. »Selbstverständlich!«, antwortete Victor und wies auf die Stühle vor seinem Schreibtisch. »Englisch ist meine Muttersprache. Was kann ich für Sie tun?«

Zögernd nahmen die beiden Platz. Der Mann verschränkte mit mürrischem Gesicht die Arme und die Frau starrte auf Victors Walrossbart.

»Oh. Das. Das ist nur eine neue Tarnung!«, erklärte er und zog sich den Bart von der Oberlippe. »In meinem Beruf ist so etwas unerlässlich. Was kann ich für Sie tun? Irgendetwas verloren, gestohlen, entlaufen?« Wortlos griff die Frau in ihre Handtasche. Sie hatte aschblondes Haar und eine spitze Nase, und ihr Mund sah nicht so aus, als ob sie ihn allzu oft zum Lächeln benutzte. Der Mann war ein Riese, mindestens zwei Köpfe größer als Victor. Auf seiner Nase schälte sich ein Sonnenbrand und seine Augen waren klein und farblos. Versteht wahrscheinlich keinen Spaß, dachte Victor und legte die Gesichter der beiden in seinem Gedächtnis ab. Telefonnummern konnte er sich schwer merken, aber ein Gesicht vergaß er nie.

»Uns ist etwas verloren gegangen«, sagte die Frau und schob ihm ein Foto über den Schreibtisch. Ihr Englisch war besser als ihr Italienisch.

Zwei Jungen blickten Victor an, der eine blond und klein, mit einem breiten Lächeln auf dem Gesicht, der andere älter, ernst, mit dunklem Haar. Der Größere hatte den Arm um die Schultern des Kleinen gelegt, als wollte er ihn beschützen - vor allem Bösen in der Welt. »Kinder?« Erstaunt hob Victor den Kopf. »Ich habe ja schon so einiges aufspüren müssen: Koffer, Ehemänner, Hunde, entlaufene Eidechsen, aber Sie sind die Ersten, die zu mir kommen, weil Sie Ihre Kinder verloren haben, Herr und Frau...« Fragend sah er die beiden an.

»Hartlieb«, antwortete die Frau. »Esther und Max Hartlieb.«

»Und es sind nicht unsere Kinder«, stellte ihr Mann fest. Seine spitznasige Frau warf ihm einen ärgerlichen Blick zu. »Prosper und Bonifazius sind die Söhne meiner verstorbenen Schwester«, erklärte sie. »Sie hat die Jungen allein großgezogen. Prosper ist gerade zwölf geworden, Bo ist fünf.«

»Prosper und Bonifazius«, murmelte Victor. »Ungewöhnliche Namen. Bedeutet Prosper nicht >der Glückliche

»Natürlich.« Esther Hartlieb schnappte aufgebracht nach Luft.

»Dort war man alles andere als hilfsbereit. Nichts haben sie herausgefunden, dabei kann es doch nicht so schwer sein, zwei Kinder zu finden, die mutterseelenallein.«

»... ich muss leider aus beruflichen Gründen dringend zurück nach Hause«, unterbrach sie ihr Mann. »Deshalb möchten wir Sie, Herr Getz, mit der weiteren Suche nach den Jungen beauftragen. Der Portier unseres Hotels hat Ihre Dienste empfohlen.«

»Nett von ihm«, brummte Victor und spielte mit dem falschen Bart. Das Ding sah aus wie eine tote Maus, wie es da so neben dem Telefon lag. »Aber wieso sind Sie so sicher, dass die beiden nach Venedig gekommen sind? Doch wohl kaum zum Gondelfahren.«

»Ihre Mutter ist schuld.« Esther Hartlieb kniff die Lippen zusammen und warf einen Blick aus Victors staubigem Fenster. Eine Taube hockte aufgeplustert draußen auf dem Balkongitter, die Federn zerzaust vom Wind. »Meine Schwester hat den Jungen ständig von dieser Stadt erzählt. Dass es hier Löwen mit Flügeln gibt und eine Kirche aus Gold, dass auf den Dächern Engel und Drachen stehen und die Treppen an den Kanälen aussehen, als würden nachts Wassermänner hinaufsteigen, um einen Landspaziergang zu machen.« Ärgerlich schüttelte sie den Kopf. »Meine Schwester konnte so etwas auf eine Art erzählen, dass selbst ich ihr fast geglaubt hätte. Venedig, Venedig, Venedig! Bo hat pausenlos Löwen mit Flügeln gemalt und Prosper hat seiner Mutter sowieso jedes Wort von den Lippen gesogen. Wahrscheinlich hat er gedacht, dass er und Bo geradewegs im Märchenland landen, wenn sie hierher kommen! Mein Gott.« Sie rümpfte die Nase und blickte verächtlich hinaus zu den alten Häusern, von denen der Putz bröckelte.

Ihr Mann rückte sich die Krawatte zurecht. »Es hat uns viel Geld gekostet, die Spur der Jungen bis hierher zu verfolgen, Herr Getz«, sagte er. »Und die beiden sind hier, das versichere ich Ihnen. Irgendwo.«

»... in diesem Durcheinander«, beendete Esther Hartlieb den Satz. »Nun, wenigstens gibt es hier keine Autos, die sie überfahren könnten«, murmelte Victor, wandte sich seinem Stadtplan zu und musterte das Gewirr der

Gassen und Kanäle. Dann drehte er sich wieder um und kratzte mit seinem Brieföffner gedankenversunken Strichmännchen in die Schreibtischplatte. Bis Max Hartlieb sich räusperte.

»Herr Getz, nehmen Sie den Auftrag an?«

Victor betrachtete noch einmal das Foto, die beiden so verschiedenen Gesichter, die ernste Miene des Älteren und das unbeschwerte Lächeln des Jüngeren - und nickte. »Ja, ich übernehme ihn«, sagte er. »Ich werde die beiden schon finden. Sie sehen wirklich noch etwas zu jung aus, um allein zurechtzukommen. Sind Sie als Kinder auch mal weggelaufen?«

»Du meine Güte, nein!« Esther Hartlieb blickte ihn entgeistert an. Ihr Mann schüttelte nur spöttisch den Kopf. »Ich schon.« Victor klemmte das Foto der beiden Jungen unter den geflügelten Löwen. »Aber allein. Ich hatte leider keinen Bruder. Weder einen kleinen noch einen großen. Lassen Sie mir Anschrift und Telefonnummer hier und kommen wir zu meinem Honorar.«

Während die Hartliebs sich wieder die enge Treppe hinunterquälten, trat Victor auf seinen Balkon hinaus. Der Wind fuhr ihm kalt ins Gesicht, er schmeckte nach Salz vom nahen Meer, und Victor stützte sich fröstelnd auf das rostige Geländer und beobachtete, wie die Hartliebs die Brücke betraten, die zwei Häuser weiter den Kanal überspannte. Es war eine schöne Brücke, aber das bemerkten sie nicht. Mit mürrischen Gesichtern hasteten sie hinüber, ohne einen Blick für den struppigen Hund, der sie von einem vorbeifahrenden Boot ankläffte. Natürlich spuckten sie auch nicht über die Brüstung, wie Victor es immer tat. »Na ja, wer sagt, dass man seine Auftraggeber mögen muss!«, brummte er und beugte sich über seine zwei Schildkröten, die die faltigen Hälse aus ihrem Pappkarton reckten. »Solche Eltern sind immer noch besser als gar keine Eltern. Oder? Was meint ihr? Haben Schildkröten überhaupt Eltern?« Gedankenversunken blickte Victor den Kanal hinunter, an all den Häusern entlang, deren steinerne Füße Tag und Nacht das Wasser umspülte. Mehr als fünfzehn Jahre lebte er nun schon in Venedig, aber er kannte immer noch nicht alle verborgenen Winkel der Stadt. Niemand tat das. Es würde nicht leicht sein, die zwei Jungen zu finden, wenn sie nicht gefunden werden wollten. So viele Gassen, so viele Schlupfwinkel, enge Straßen mit Namen, die keiner sich merken konnte. Manche hatten nicht einmal einen Namen. Vernagelte Kirchen, leer stehende Häuser. Das lud ja geradezu zum Versteckspielen ein. Was soll's, Verstecken habe ich auch immer gern gespielt, dachte Victor, und bisher habe ich noch jeden gefunden. Acht Wochen kamen die beiden schon allein zurecht. Du meine Güte. Als er von zu Hause weggelaufen war, hatte er die Freiheit gerade mal einen Nachmittag ausgehalten. Bei Anbruch der Dunkelheit war er reumütig und mit klopfendem Herzen wieder nach Hause geschlichen.

Die Schildkröten zupften an dem Salatblatt, das er ihnen hinhielt. »Ich glaube, ich muss euch heute Nacht hereinholen«, sagte Victor. »Dieser Wind riecht nach Winter.«

Lando und Paula schauten ihn mit ihren wimpernlosen Augen an. Manchmal verwechselte er sie, aber das schien ihnen nichts auszumachen. Auf dem Fischmarkt hatte er die beiden entdeckt, als er Ausschau nach einer Perserkatze gehalten hatte. Victor hatte die vornehme Katzendame aus einem Fass stinkender Sardinen gefischt, und als er es endlich geschafft hatte, sie kratzsicher in einem Pappkarton zu verstauen, hatte er die zwei Schildkröten gesehen - wie sie ungerührt zwischen all den Menschenfüßen herumstapften. Erst als Victor sie aufsammelte, hatten sie sich erschrocken in ihren Panzern versteckt.

Wo fange ich mit der Suche nach den Jungen an?, dachte Victor. In den Kinderheimen? Den Krankenhäusern? Traurige Orte. Aber die Besuche dort kann ich mir wahrscheinlich sparen. Das haben die Hartliebs bestimmt längst erledigt. Er lehnte sich weit übers Balkongitter und spuckte hinunter in den dunklen Kanal. Bo und Prosper. Schöne Namen, dachte er, auch wenn sie seltsam sind.

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