Drei Tage schmerzte Victors Kopf. Aber noch mehr, viel mehr als die Beulen auf dem Kopf schmerzte sein verletzter Stolz. Hereingelegt von einer Bande Kinder! Mit den Zähnen knirschte er jedes Mal, wenn er daran dachte. Aufs Revier hatten die Carabinieri ihn geschleppt wie einen gemeinen Verbrecher, wie einen Kinderschänder hatten sie ihn behandelt, ihn herumgeschubst, beschimpft, und als er ihnen wutschnaubend seinen Detektivausweis vor die Nase halten wollte, musste er feststellen, dass die kleinen Ratten ihm auch noch sein Portemonnaie geklaut hatten. Schluss. Schluss mit dem Mitgefühl, das er für sie gehabt hatte. Schluss damit.
Während Victor seine Beulen mit Eis kühlte und seine erkältete Schildkröte mit Rotlicht wärmte, grübelte er über nichts anderes nach als darüber, wie er die Bande wieder finden konnte. Jedes Wort, das Bo von sich gegeben hatte, rief Victor sich ins Gedächtnis, bis ein Wort in seinem Kopf anschlug wie eine Kirchenglocke. Kino.
Wir wohnen in einem Kino.
Was, wenn das doch stimmte? Was, wenn das nicht nur die Spinnerei eines kleinen Jungen war?
Der Polizei hatte Victor nichts erzählt von Bos seltsamem Hinweis, obwohl die nun ebenfalls nach den Kindern suchte, nachdem sich herausgestellt hatte, dass Victors Portemonnaie weg und er wirklich der Detektiv war, für den er sich ausgegeben hatte. Aber Victor wollte nicht, dass die Polizei die kleinen Räuber fing. O nein, die werde ich mir selber schnappen, dachte er, während er auf dem Teppich hockte und seinen Schildkröten die faltigen Köpfe kraulte. Die werden schon sehen, dass ich nicht so vertrottelt bin, wie sie denken!
Verdammt! Die eine Schildkröte nieste wirklich ganz abscheulich. Wenn er sich nicht täuschte, war es Paula. Der Tierarzt behauptete, dass sie Lando nicht anstecken würde. Also saßen die beiden immer noch im selben Pappkarton, natürlich nicht mehr draußen auf Victors Balkon, wo die Nächte immer kälter wurden, sondern unter dem Schreibtisch in seinem Büro. Ist auch besser, dass ich sie nicht trennen muss, dachte Victor, sonst würden sie womöglich noch beide an Einsamkeit eingehen. Ein Kino.
Was hatte Bo erzählt? Dass die Stühle fehlten und kein Projektor mehr da war. Es musste also ein Kino sein, das nicht mehr in Betrieb war. Natürlich. Ein Kino, das geschlossen war und das der Besitzer leer stehen ließ, weil er noch nicht wusste, was er damit anfangen sollte. Es gab nicht viele Kinos in Venedig. Victor schlug im Telefonbuch nach, auch in dem vom letzten Jahr, und rief jedes Kino an, das er finden konnte, selbst die, die weiter außerhalb lagen, am Lido oder in Burano. Meistens wurde er gefragt, ob er Karten reservieren wollte, aber bei einem, dem FANTASIA, ging niemand ans Telefon, und bei einem weiteren stand keine Adresse hinter dem Namen. STELLA hieß es, und die Nummer stand nur in dem Telefonbuch vom letzten Jahr.
STELLA und FANTASIA, na bitte, zwei Kandidaten haben wir schon mal!, dachte Victor und wärmte sich den Risotto vom Vortag auf. Dann brachte er die verschnupfte Schildkröte noch mal zum Tierarzt und machte auf dem Rückweg einen Abstecher zum FANTASIA, wo niemand ans Telefon gegangen war. Als Victor vor dem Kino ankam, öffnete es gerade für die Nachmittagsvorstellung. Es herrschte nicht gerade großer Andrang, nur zwei Kinder kauften sich eine Karte und ein Liebespaar, das gleich in dem dunklen Vorführraum verschwand. Victor trat an die Kasse und räusperte sich.
»Vorn oder lieber weiter hinten?«, fragte die Kartenverkäuferin und schob sich einen Kaugummi zwischen die Zähne. »Wo wollen Sie sitzen?« »Nirgendwo«, antwortete Victor. »Aber ich wüsste gern, ob Sie schon mal was von einem Kino gehört haben, das STELLA heißt.« Die Kartenverkäuferin formte mit den rot geschminkten Lippen eine Kaugummiblase und ließ sie zerplatzen. »STELLA? Das ist geschlossen. Seit ein paar Monaten schon.«
Victors Herz tat einen Sprung, einen kleinen, aufgeregten Sprung. »Ja, das hatte ich gehofft«, sagte er und beantwortete den verblüfften Blick der Kartenverkä uferin mit einem zufriedenen Lächeln. »Wissen Sie zufällig die Adresse.« Er stellte den Karton mit seiner kranken Schildkröte neben die Kasse. Die Kartenverkäuferin ließ noch eine Kaugummiblase zerplatzen und musterte neugierig den Karton. »Was haben Sie denn dadrin?«
»Eine erkältete Schildkröte«, antwortete Victor. »Aber es geht ihr schon besser. Also, wissen Sie die Adresse?«
»Kann ich sie mal sehen?«, fragte die Verkäuferin. Mit einem Seufzer zog Victor das Handtuch zur Seite, das er zum Schutz gegen den kalten Wind über den Karton gelegt hatte. Paula schob den faltigen Kopf heraus, blinzelte erschrocken und verschwand in ihrem Panzer. »Niedlich!«, seufzte die Verkäuferin und warf ihren
Kaugummi in den Papierkorb. »Nein, die Adresse weiß ich nicht. Aber Sie könnten Dottor Massimo fragen. Er ist der Besitzer dieses Kinos, und das STELLA gehörte ihm auch. Eigentlich müsste er ja noch wissen, wo es liegt, oder?«
»Anzunehmen.« Victor holte seinen Notizblock heraus. »Wo finde ich diesen Dottor Massimo?«
»Fondamenta Bollani«, antwortete die Kartenverkäuferin gelangweilt. Sie gähnte. »Die Nummer weiß ich nicht, aber das größte Haus, das Sie finden können, das ist seins. Ist ein sehr reicher Mann, unser Besitzer. Die Kinos hält er sich nur zum Spaß, aber trotzdem hat er das STELLA schließen lassen.«
»So, so«, murmelte Victor und breitete das Handtuch sorgfältig wieder über Paulas Karton. »Na gut, dann werde ich ihm mal gleich einen Besuch abstatten, diesem Dottor Massimo. Oder haben Sie zufällig seine Telefonnummer?«
Die Kartenverkäuferin kritzelte die Nummer auf einen Zettel und schob ihn Victor hin. »Wenn Sie mit ihm sprechen«, sagte sie, »dann erzählen Sie ihm bitte, dass die Vorstellung fast ausverkauft war, ja? Sonst kommt er auf die Idee und lässt das FANTASIA auch noch schließen.«
Victor sah sich vor dem leeren Kino um. »Ich weiß gar nicht, was Sie haben? Die Schlange steht doch bis auf die Gasse«, sagte er - und machte sich auf die Suche nach einer Telefonzelle. Die Batterie seines Handys war schon wieder leer. Er hätte sich nie so ein Ding kaufen sollen.
»Pronto«, raunzte eine tiefe Stimme in Victors Ohr, als er endlich ein funktionierendes Telefon gefunden hatte. »Spreche ich mit Dottor Massimo, dem Besitzer des alten STELLA-Kinos?«, fragte Victor. Paula raschelte in ihrem Karton herum, als suche sie nach einem Ausgang aus dem langweiligen Pappgefängnis.
»Ja, in der Tat«, antwortete Dottor Massimo. »Interesse an dem Kino? Dann kommen Sie vorbei. Fondamenta Bollani 233. Ich bin noch etwa eine halbe Stunde zu sprechen.«
Klack!, machte es in Victors Ohr. Überrascht starrte er den Hörer an. Na, das ist ja ein ganz Schneller!, dachte Victor, während er sich wieder mit seinem Karton aus der Telefonzelle zwängte. Eine halbe Stunde, und die nächste Vaporettostation war weit. Blieben nur die schmerzenden Füße.
Dottor Massimos Haus war nicht nur das größte an der Fondamenta Bollani, sondern auch das schönste. Die Säulen, die es schmückten, sahen aus wie zu Stein gewordene Blumen, die Brüstungen der Balkone schienen aus Marmorspitze gemacht und die schmiedeeisernen Gitter vor den Fenstern im Erdgeschoss und dem Eingangsportal schlangen sich zu Blüten und Blättern, als wäre nichts leichter aus Eisen zu formen.
Ein Dienstmädchen ließ Victor ein und führte ihn zwischen Säulen hindurch auf einen Innenhof, von dem eine prächtige Freitreppe steil in den ersten Stock führte. Das Mädchen stieg die breiten Stufen so schnell hinauf, dass Victor kaum Zeit blieb, sich etwas umzusehen. Als er sich über die Brüstung lehnte, um noch einen Blick auf den Brunnen im Hof zu werfen, drehte seine Führerin sich ungeduldig zu ihm um. »Dottor Massimo ist nur noch zehn Minuten zu sprechen«, erklärte sie spitz.
»Was hat der dottore denn so Dringendes vor?«, konnte Victor sich nicht verkneifen zu fragen.
Das Mädchen musterte ihn so ungläubig, als hätte er nach der Farbe von Dottor Massimos Unterhosen gefragt. Und Victor folgte ihr weiter, gerade so schnell, dass er sie nicht aus den Augen verlor in dem Labyrinth von Fluren und Türen, durch das sie ihn führte. So ein
Theater wegen einer Adresse, dachte er. Ich hätte einfach noch mal anrufen sollen.
Endlich, als er schon etwas außer Atem war und Paula in ihrem Karton bestimmt seekrank, blieb das Mädchen stehen und klopfte an eine Tür, die hoch genug für einen Riesen gewesen wäre. »Ja, bitte?«, rief die gleiche klangvolle Stimme, die Victor am Telefon ins Ohr geraunzt hatte. Dottor Massimo saß an seinem gewaltigen Schreibtisch in einem Arbeitszimmer, das größer als Victors ganze Wohnung war, und empfing seinen Besucher mit einem kühlen, abschätzenden Blick.
Victor räusperte sich. Er kam sich lächerlich vor in diesem prächtigen Raum, mit seinem Schildkrötenkarton unterm Arm und Schuhen, denen man die Laufarbeit deutlich ansah. Außerdem hatte er in Räumen, deren Decke so hoch über seinem Kopf schwebte, immer das unangenehme Gefühl zu schrumpfen. »Guten Tag, dottore«, sagte er. »Victor Getz. Wir haben gerade telefoniert. Leider haben Sie so schnell den Hörer aufgelegt, dass ich Ihnen gar nicht erklären konnte, worum es geht. Ich bin nicht hier, um Ihr altes Kino zu kaufen, sondern.«
Bevor Victor fortfahren konnte, öffnete sich hinter ihm die Tür. »Vater«, sagte eine Jungenstimme. »Ich glaube, die Katze ist krank.«
»Scipio!« Dottor Massimos Gesicht verfärbte sich vor Ärger. »Du siehst doch, dass ich Besuch habe. Wie oft soll ich dir noch sagen, dass du anklopfen sollst. Wenn die Herren aus Rom nun schon da wären? Wie würde das aussehen, wenn mein Sohn in unsere Besprechung hereinplatzte wegen einer kranken Katze?« Victor drehte sich um und blickte in ein Paar erschrockene schwarze Augen. »Es geht ihr wirklich nicht gut«, murmelte Dottor Massimos Sohn und senkte hastig den Kopf, aber Victor hatte ihn sofort erkannt. Sein Haar war zu einem strengen, kleinen Zopf zusammengebunden und seine schwarzen Augen blickten nicht so selbstbewusst wie bei ihrer letzten Begegnung, aber er war es ohne Zweifel: der Junge, der Prosper und Bo geholfen hatte zu entkommen, der Junge, der Victor so unschuldig nach der Zeit gefragt hatte, bevor er und seine Freunde ihn auf die hinterlistigste Weise hereingelegt hatten.
Die Welt steckte voller Überraschungen.
»Dass sie krank ist, liegt wahrscheinlich daran, dass sie Junge hatte«, verkündete Dottor Massimo mit gelangweilter Stimme. »Da lohnt es sich nicht, einen Tierarzt zu bezahlen. Wenn sie eingeht, bekommst du eine neue.« Ohne seinen Sohn weiter zu beachten, wandte der dottore sich wieder Victor zu. »Also, fahren Sie fort, Signor.«
»Getz«, wiederholte Victor, während Scipio immer noch stocksteif hinter ihm stand. »Also, wie ich schon sagte, ich will das STELLA keineswegs kaufen.« Aus dem Augenwinkel sah Victor, wie Scipio zusammenfuhr, als er den Namen des Kinos hörte. »Ich schreibe einen Artikel über die Kinos der Stadt, das STELLA würde ich gern einbeziehen, und deshalb brauche ich von Ihnen die Erlaubnis, es zu besichtigen.«
»Interessant«, sagte der dottore und warf einen Blick aus dem Fenster, wo unten auf dem Kanal gerade ein Wassertaxi anlegte. »Entschuldigen Sie, aber ich glaube, mein Besuch aus Rom trifft gerade ein. Selbstverständlich haben Sie meine Erlaubnis, das STELLA zu besichtigen. Es liegt in der Calle del Paradiso. Schreiben Sie, dass es eine Schande für diese Stadt ist, dass ein so gutes Filmtheater geschlossen werden musste. Hier hat offensichtlich nur noch Bestand, was die Touristen interessiert.«
»Warum wurde es geschlossen?«, fragte Victor. Scipio stand immer noch an der Tür und lauschte mit angstvollem Gesicht dem, was Victor und sein Vater besprachen. »Ein Gutachter vom Festland erklärte es für baufällig!« Dottor Massimo stand von seinem Schreibtisch auf, trat auf einen Schrank mit zahllosen Schubladen zu und zog eine heraus. »Baufällig! Die ganze Stadt ist baufällig«, stellte er verächtlich fest. »Man hat von mir eine Renovierung verlangt, die nicht zu bezahlen war. Unsummen hätte das gekostet! Wo ist denn der Schlüssel? Mein Verwalter hat ihn doch schon vor Monaten hergebracht.« Ungeduldig suchte er in der Schublade herum. »Scipio, komm, hilf mir suchen, wenn du schon da rumstehst.«
Victor hatte den Eindruck, dass Scipio gerade zu dem Entschluss gekommen war, sich davonzuschleichen. Die Klinke hatte er schon heruntergedrückt, aber als der Dottore ihn zu sich winkte, schob er sich mit blassem Gesicht an Victor vorbei und ging zögernd zu seinem Vater.
»Dottore!« Das Dienstmädchen steckte den Kopf durch die Tür. »Ihr Besuch aus Rom wartet. Empfangen Sie die Herrn in der Bibliothek oder soll ich sie herauf führen?«
»Ich komme in die Bibliothek«, antwortete Dottor Massimo schroff. »Scipio, du lässt dir von Herrn Getz eine Quittung für den Schlüssel geben. Diese Aufgabe wirst du ja wohl bewältigen, oder? Es hängt ein Schild an dem Schlüsselring mit dem Namen des Kinos.«
»Ich weiß«, murmelte Scipio, ohne seinen Vater anzusehen. »Schicken Sie mir eine Kopie Ihres Artikels, sobald er erschienen ist«, sagte der dottore, als er an Victor vorbeihastete. Totenstill war es, nachdem er den Raum verlassen hatte. Scipio stand neben der geöffneten Schublade und beobachtete Victor wie die Maus die Katze. Dann stürzte er plötzlich auf die Tür zu. »Halt, halt!«, rief Victor und stellte sich ihm in den Weg. »Wo willst du denn hin? Vielleicht deine Freunde warnen? Das ist nicht nötig. Ich habe nicht vor, sie zu fressen. Ich werde sie nicht mal der Polizei ausliefern, obwohl ihr mir mein Portemonnaie geklaut habt. Mich interessiert auch nicht, dass du dir im alten Kino deines Vaters offenbar eine kleine Bande hältst. Geschenkt! Mich interessieren nur die zwei Brüder, die ihr bei euch aufgenommen habt: Prosper und Bo.« Scipio starrte ihn wortlos an.
»Elender Schnüffler!«, flüsterte er verächtlich. Dann bückte er sich und zog an dem Teppich, auf dem Victor stand, so heftig, dass Victor den Halt verlor und mit Wucht auf dem Hintern landete. Er konnte gerade noch verhindern, dass ihm der Karton mit der Schildkröte aus den Händen rutschte. Wie ein Wiesel schoss Scipio an ihm vorbei auf die Tür zu. Victor warf sich zur Seite, um seine Beine zu erwischen, aber der Junge sprang einfach über ihn hinweg, und ehe Victor wieder auf den Füßen stand, war er verschwunden.
Wutschnaubend stürmte Victor hinterher, so schnell ihn seine kurzen Beine trugen. Aber als er schwer atmend oben an der Brüstung stand, sprang Scipio schon die letzten Stufen hinunter. »Bleib stehen, du kleine Ratte!«, brüllte Victor ihm hinterher. Seine Stimme hallte so laut durch das riesige Haus, dass zwei Dienstmädchen erschrocken auf den Hof gelaufen kamen. »Bleib stehen!« Victor lehnte sich so weit über die Brüstung, dass ihm schwindelig wurde. »Ich finde euch! Hast du gehört?«
Aber Scipio schnitt ihm nur eine Grimasse und lief aus dem Haus.