Vergebliche Lügen


Victor verspätete sich. Es war schon Viertel vor vier, als er die vornehme Eingangshalle des Gabrielli Sandwirth betrat. Vor knapp einem Monat war er zuletzt hier gewesen. Da hatte er jemanden beschattet, der in diesem Hotel abgestiegen war. Viele Hotels der Stadt hatte Victor auf diese Weise kennen gelernt. Im Sandwirth hatte er, soweit er sich erinnerte, einen schwarzen Vollbart getragen und eine abscheuliche Brille. Er hatte sich selbst kaum im Spiegel erkannt, ein sicheres Zeichen für eine gelungene Verkleidung. Heute trug er sein eigenes Gesicht, was ihm eigenartigerweise immer das Gefühl gab, ein Stück kleiner zu sein. »Buona sera«, sagte er, als er an den Empfangstresen trat. Hinter einem gewaltigen Blumenstrauß tauchte der Kopf der Empfangsdame auf. »Buona sera. Was kann ich für Sie tun?«

»Mein Name ist Victor Getz. Ich habe eine Verabredung mit dem Ehepaar Hartlieb.«, Victor lächelte entschuldigend, ». zu der ich mich bedauerlicherweise etwas verspätet habe. Könnten Sie wohl nachfragen, ob die Herrschaften sich noch auf ihrem Zimmer befinden?«

»Aber natürlich.« Die Frau strich sich lächelnd das schwarze Haar hinter die Ohren. »Was sagen Sie zu dem Schnee?«, fragte sie, während sie zum Telefonhörer griff. »Können Sie sich erinnern, wann es in Venedig zuletzt geschneit hat?« Sie ließ das Wort »Schnee« wie eine Praline auf den Lippen zergehen. Victor konnte sich ihr Kindergesicht so deutlich vorstellen, als hätte sie ihm ein altes Foto von sich gezeigt. Er musste lächeln, als er beobachtete, wie ihr Blick immer wieder nach draußen wanderte, zu den Flocken, die so langsam an den großen Fenstern vorbeischwebten, als drehe sich die Welt plötzlich im Zeitlupentempo.

»Hallo, Signora Hartlieb«, sagte sie in den Hörer. »Hier ist ein Signor Victor Getz für Sie.«

Die Hartliebs hatten keinen Blick für den Schnee übrig. Vor ihren Fenstern schwamm San Giorgio Maggiore auf der Lagune, als wäre es gerade daraus emporgetaucht. Der Anblick war so schön, dass es Victor einen Stich ins Herz gab, aber Esther und ihr Mann standen mit dem Rücken zum Fenster, Seite an Seite, und hatten nur Augen für ihn. Feindselige Augen. Unbehaglich verschränkte Victor die Finger auf dem Rücken.

Warum habe ich mir nicht wenigstens einen Schnurrbart angeklebt?, dachte er. Das hätte das Lügen wesentlich erleichtert. Aber die Kinder hatten ihm ja all seine wunderbaren Bärte gestohlen. Also waren sie auch schuld, wenn die spitznasige, scharfäugige Esther ihn beim Lügen ertappte.

»Ich bin froh, dass Sie meine Nachricht erhalten haben«, begann sie in perfektem Englisch. Sie sprach mit Victor nur in seiner Muttersprache. »Nach dem Telefonat mit Ihrer unfreundlichen Sekretärin hatte ich schon daran gezweifelt, dass Sie überhaupt noch in der Stadt sind.«

»Ich verlasse diese Stadt so gut wie nie«, antwortete Victor. »Ich vermisse sie zu sehr, wenn ich fort bin.« »Wirklich!« Esther hob die schmal gezupften

Augenbrauen um fast einen Zentimeter.

Erstaunlich, dachte Victor, das schaffe ich nicht. »Also bitte, Signor Getz.« Herr Hartlieb war immer noch groß wie ein Schrank und fast so blass wie die Schneeflocken, die draußen vorbeiwirbelten. »Berichten Sie uns von Ihren Ermittlungen.«

»Meine Ermittlungen, ja.« Victor wippte nervös auf den Zehenspitzen. »Das Ergebnis meiner Ermittlungen ist leider eindeutig. Der Kleine ist nicht mehr in der Stadt, ebenso wenig wie sein großer Bruder.«

Die Hartliebs wechselten einen raschen Blick. »Ihre Sekretärin hatte so etwas angedeutet«, sagte Max Hartlieb. »Aber.«

»Meine Sekretärin?«, unterbrach Victor ihn - und erinnerte sich noch gerade rechtzeitig daran, dass Wespe, Prosper und Riccio in seinem Büro gewesen waren, um die Schildkröte zu füttern. »Ach ja, natürlich, meine Sekretärin.« Er zuckte bedauernd die Schultern. »Wie Sie wissen, war ich Bo und seinem Bruder schon dicht auf den Fersen. Das Foto, das ich Ihnen geschickt habe, beweist das ja wohl. Leider hatte ich damals keine Gelegenheit, mir die zwei zu schnappen. All die Leute, Sie verstehen schon, aber ich fand heraus, dass Ihre Neffen sich mit einer Bande junger Diebe zusammengetan hatten. Leider hat mich einer von ihnen erkannt, ich habe ihn vor langer Zeit bei einem Handtaschendiebstahl ertappt. Tja, dieser kleine Langfinger hat Ihre Neffen wohl davon überzeugt, dass sie in Venedig nicht mehr sicher sind. Meine Nachforschungen haben zu meinem Bedauern ergeben.« Er räusperte sich. Warum bekam er beim Lügen bloß immer einen Kloß in den Hals? ». hm, meine Nachforschungen ergaben, dass die beiden sich vor zwei oder drei Tagen auf eine der großen Fähren geschmuggelt haben, die hier regelmäßig festmachen. Sie haben von Ihrem Fenster aus einen guten Blick auf die Anlegestellen.« Verwirrt drehten die Hartliebs sich um und blickten hinunter zum Kai, wo sich ein Schwarm frierender Touristen auf einen Ausflugsdampfer drängte. »Aber.«, Esther Hartlieb sah so enttäuscht aus, dass sie Victor fast Leid tat, »... wohin fuhr dieses Schiff, um Gottes willen?«

»Korfu«, antwortete Victor. Wie kaltblütig ihm das über die Lippen kam, mal abgesehen von dem Kloß im Hals. Was tue ich da?, dachte er. Belüge meine Auftraggeber! Wenn ich Pinocchio wäre, würde meine Nase jetzt da vorn durch die Scheibe stoßen und alle Tauben der Stadt könnten darauf Platz nehmen.

»Korfu!«, rief Esther Hartlieb und blickte ihren Mann an, als müsste er sie auf der Stelle vorm Ertrinken retten. »Sie sind sich da hundertprozentig sicher?«, fragte Max Hartlieb misstrauisch.

Victor erwiderte seinen Blick mit der unschuldigsten Miene, die er zustande brachte. Nur räuspern musste er sich schon wieder. Was für ein Glück, dass sein Gegenüber nicht ahnte, was das bedeutete. »Nun, ganz sicher kann ich natürlich nicht sein«, sagte er. »Wenn man sich auf ein Schiff schmuggelt, steht man schließlich nicht auf der Passagierliste, aber ich habe einigen Matrosen das Foto der Jungen gezeigt, als das Schiff heute Mittag wieder hier anlegte, und zwei haben sie eindeutig wieder erkannt. Sie konnten sich nur nicht darauf einigen, an welchem Tag die beiden an Bord waren.« Tröstend drückte Max Hartlieb seine Frau an sich. Steif wie eine Schaufensterpuppe ließ sie sich umarmen und blickte dabei Victor an. Einen Atemzug lang hatte er das ungute Gefühl, dass ihm die Lüge mit roter Farbe auf die Stirn geschrieben stand. »Das kann nicht sein!«, sagte Esther Hartlieb und löste sich von ihrem Mann. »Ich habe Ihnen doch erzählt, dass es kein Zufall ist, dass Prosper nach Venedig gekommen ist. Diese Stadt erinnert ihn an seine Mutter Ich glaube nicht, dass er wieder fortgehen würde. Wohin denn, um Himmels willen?«

»Wahrscheinlich ist er auf das Schiff gestiegen, weil er gemerkt hat, dass es hier nicht so paradiesisch ist wie in den Geschichten seiner Mutter«, meinte ihr Mann.

». und dass sie nicht hier ist, selbst wenn es so aussieht wie das Paradies«, murmelte Victor und sah aus dem Fenster. »Nein. Nein. Nein.« Esther Hartlieb schüttelte energisch den Kopf. »Unsinn. Ich habe immer noch das Gefühl, dass er hier ist, und wenn Prosper hier ist, dann ist Bo es auch.« Victor blickte auf seine Schuhe. Es klebte noch etwas Schneematsch daran. Was konnte er sagen?

»Ich habe das Foto vervielfältigen lassen, das Sie uns von den Jungen geschickt haben, Signor Getz«, fuhr Esther Hartlieb fort. »Es kam kurz nach dem Telefonat mit Ihrer Sekretärin bei uns an, und ich habe Plakate davon drucken lassen. Die Belohnung, die wir aussetzen, ist beträchtlich. Ich weiß, Sie haben mir schon einmal davon abgeraten, die Jungen auf diese Weise zu suchen, und ich gebe zu, mit einer Belohnung lockt man immer auch Gesindel an, aber ich werde die Plakate aufhängen lassen, an jedem Kanal, in jeder Bar, jedem Cafe und jedem Museum. Der Auftrag ist sogar schon erteilt. Ich werde Bo finden, bevor er in dieser elenden Stadt an Lungenentzündung oder Schwindsucht stirbt. Man muss ihn vor seinem selbstsüchtigen Bruder schützen!«

Da schüttelte Victor nur müde den Kopf. »Haben Sie es denn immer noch nicht begriffen?«, sagte er ungeduldig. »Die beiden sind nur weggelaufen, weil Sie Bo von diesem Bruder trennen wollten.«

»Was nehmen Sie sich denn für einen Ton heraus?«, rief Esther Hartlieb entgeistert. »Jetzt sollen plötzlich wir schuld an allem sein?«

»Die zwei hängen aneinander!«, rief Victor. »Verstehen

Sie das denn nicht?«

»Wir werden Bo einen Hund schenken«, antwortete Max Hartlieb gelassen. »Sie werden sehen, wie schnell er da seinen großen Bruder vergisst.«

Victor musterte ihn, als hätte der große Mann gerade sein Hemd aufgeknöpft und ihm mit einem Lächeln gezeigt, dass er kein Herz in der Brust hatte. »Beantworten Sie mir mal eine Frage«, sagte Victor. »Mögen Sie eigentlich Kinder?«

Max Hartlieb runzelte die Stirn. Hinter ihm setzte der Schnee den Engeln von San Giorgio weiße Mützen auf. »Kinder allgemein? Nein, nicht unbedingt. Sie sind zappelig, laut und ziemlich oft schmutzig.«

Victor guckte wieder auf seine Schuhe.

». und außerdem«, fuhr Max Hartlieb fort, »haben sie nicht die geringste Ahnung, was wichtig ist.«

Victor nickte. »Tja.«, sagte er langsam, »seltsam, dass aus so nutzlosen Wesen einmal etwas so Großartiges und Vernünftiges wie Sie wird, nicht wahr?«

Dann drehte er sich um und ging. Hinaus aus dem Zimmer mit der wunderschönen Aussicht, den langen Hotelflur hinunter. Im Aufzug klopfte Victor das Herz bis zum Hals, ohne dass er wusste, warum. Die Frau am Empfang lächelte ihm zu, als er durch die Halle ging. Dann blickte sie wieder nach draußen, wo es langsam dunkel wurde und immer noch schneite.

Der Bootsanleger vor dem Hotel war verlassen, als hätte der eisige Wind ihn leer gefegt. Nur zwei eingemummte Gestalten warteten am Wasser auf das nächste Vaporetto. Victor wollte sich erst auch eine Karte kaufen, aber dann beschloss er zu laufen. Er brauchte Zeit zum Denken und ein Spaziergang würde sein aufgebrachtes Herz beruhigen. Zumindest hoffte er das. Müde stemmte er sich gegen den Wind, ging vorbei am Dogenpalast, vor dem gerade die rosafarbenen Laternen aufleuchteten, und stapfte über den Markusplatz, der fast menschenleer in der Dämmerung lag. Nur die Tauben waren noch da und pickten zwischen den verlassenen Kaffeehausstühlen nach heruntergefallenen Krümeln. Ich muss die Jungen warnen, dachte Victor, während der Wind ihm Eisnadeln ins Gesicht blies. Ich muss ihnen erzählen, wie es steht: dass sie bald ein Plakat mit ihrem Foto an jeder Ecke finden werden. Und dann? Was für eine hinterhältige Frage. Wie sollte er das wissen? Er wusste gar nichts mehr. Nur, dass es lausig kalt war. Nicht mal einen Hut habe ich dabei, dachte Victor, und der Weg zu diesem Kino ist weit. Ich werde morgen früh hingehen. Bei Tageslicht hören sich schlechte Nachrichten nicht ganz so schlimm an. Müde machte er sich auf den Weg nach Hause. Vor der Haustür fiel ihm ein, dass er in dieser Nacht noch jemanden beobachten musste. Seufzend stieg er die Treppe hinauf. Für eine heiße Tasse Kaffee war noch Zeit.


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