Prosper spürte, dass Scipio vor Ungeduld zitterte, als sie Renzo durch das große Portal nach draußen folgten. Er selbst wusste nicht, ob er aufgeregt war. Alles kam ihm seltsam unwirklich vor, seit sie die Insel betreten hatten. Wie ein Traum. Und er hätte nicht sagen können, ob es ein guter oder ein böser Traum war. Morosina kam nicht mit ihnen. Sie blieb oben zwischen den Säulen stehen und sah ihnen nach, die Hunde an ihrer Seite. Renzo ging mit Prosper und Scipio zu einem Laubengang hinter dem Haus, von dessen hölzernen Streben erfrorene Herbstblätter hingen. Der Gang führte zu einem Labyrinth, auf dessen verschlungenen Wegen die Vallaresso sich früher wohl die Zeit vertrieben hatten. Jetzt waren die Hecken zwischen den Wegen verwildert und das Labyrinth zu einem fast undurchdringlichen Dickicht geworden. Trotzdem zögerte Renzo nur selten, als er Prosper und Scipio hindurchführte. Aber einmal blieb er plötzlich stehen und lauschte. »Was ist?«, fragte Scipio.
Der Klang einer Glocke hallte durch die kalte Luft, es hörte sich an, als läute sie jemand heftig und ungeduldig.
»Das ist die Glocke am Tor«, sagte Renzo. »Wer kann das sein? Barbarossa wollte erst morgen kommen.« Er sah besorgt aus. »Barbarossa?« Prosper sah ihn überrascht an. Renzo nickte. »Ich habe euch doch gesagt, es war seine Idee, euch mit Falschgeld zu bezahlen. Er hat es mir auch besorgt. Aber der Rotbart lässt sich für solche Dienste natürlich bezahlen. Morgen will er sich seinen Lohn abholen. Das alte Spielzeug. Er hat schon lange ein Auge darauf geworfen.«
»So ein Mistkerl!«, murmelte Prosper. »Dann hat er also von Anfang an gewusst, dass wir nur Falschgeld für den Auftrag bekommen.«
»Macht euch nichts draus! Auf Barbarossa fällt jeder herein«, sagte Renzo und lauschte noch einmal. Aber die Glocke war verstummt. Nur die Hunde bellten. »Wahrscheinlich ein Touristenboot«, murmelte Renzo. »Morosina erzählt immer, wenn sie in der Stadt ist, scheußliche Geschichten über die Insel, trotzdem verirrt sich ab und zu ein Boot hierher. Aber die Doggen verscheuchen selbst die Neugierigsten.«
Prosper und Scipio sahen sich an. Das konnten sie sich vorstellen. »Ich mache seit langem Geschäfte mit dem Rotbart«, erzählte Renzo, während er sich weiter durch die verwilderten Hecken kämpfte. »Er ist der einzige Antiquitätenhändler, der nicht zu viele Fragen stellt. Und er ist der Einzige, den Morosina und ich je auf die Insel gelassen haben. Er glaubt natürlich, dass er es mit dem Conte Vallaresso zu tun hat, der so verarmt ist, dass er ihm ab und zu etwas von seinen Familienschätzen verkauft. Morosina und ich leben schon lange von dem, was die Vallaresso zurückgelassen haben. Aber wenn er morgen vor dem Tor steht, um das Spielzeug abzuholen, wird ihm niemand öffnen. Der Conte ist für alle Zeiten verschwunden.«
»Barbarossa hat immer so getan, als wüsste er nicht, was wir für den Conte stehlen sollen«, sagte Prosper.
»Das habe ich ihm auch nicht erzählt«, antwortete Renzo. »Weiß er von dem Karussell?«, fragte Scipio. Renzo lachte. »Nein, Gott bewahre, der Rotbart wäre der Letzte, dem ich es zeigen würde. Er würde auf der Stelle Eintrittskarten dafür verkaufen, für eine Million Lire das Stück. Nein, er hat es nie gesehen. Denn zum Glück«, Renzo schob ein paar dornige Zweige auseinander, »ist es sehr, sehr gut versteckt.« Er zwängte sich zwischen zwei Büsche - und war verschwunden. Die Dornen zerkratzten Prosper und Scipio das Gesicht, als sie ihm folgten. Doch dann standen sie plötzlich auf einer Lichtung, umgeben von Büschen und Bäumen, die die Zweige ineinander schlangen, als wollten sie verbergen, was auf verschneitem Moos zwischen ihnen stand.
Das Karussell sah genau so aus, wie Ida Spavento es beschrieben hatte. Vielleicht hatte Prosper es sich etwas prächtiger und bunter vorgestellt. Die Farben auf dem Holz waren verblasst, abgetragen von Wind, Regen und Salzluft, doch der Anmut der Figuren hatte die Zeit nichts anhaben können.
Alle fünf waren da: das Einhorn, die Meerjungfrau, der Wassermann, das Seepferd und der Löwe, der beide Flügel spreizte, als hätte ihm nie einer gefehlt. Sie hingen an Stangen unter einem hölzernen Baldachin, sodass es schien, als schwebten sie. Der Wassermann hielt einen Dreizack in der hölzernen Faust, die Meerjungfrau blickte mit blassgrünen Augen in die Ferne, als träumte sie von Wasser und vom weiten Meer. Und das Seepferd mit seinem Fischschwanz war so schön, dass man bei seinem Anblick fast vergaß, dass es auch Pferde mit vier Beinen gab. »War es immer hier?«, fragte Scipio. Fast andächtig ging er auf das Karussell zu und streichelte dem Löwen die geschnitzte Mähne.
»Seit ich mich erinnern kann«, antwortete Renzo.
»Morosina und ich waren noch sehr klein, als unsere Mutter mit uns auf die Insel kam, weil die Vallaresso eine Küchenmagd suchten. Niemand erzählte uns von dem Karussell, es wurde ein großes Geheimnis darum gemacht, aber wir erfuhren trotzdem davon. Es stand schon damals hier hinter dem Labyrinth, und manchmal schlich ich her, um zuzusehen, wie die reichen Kinder darauf fuhren. Zusammen mit Morosina lag ich im Gebüsch, und wir träumten davon, nur ein einziges Mal auch darauf zu fahren. Bis man uns erwischte und zurück an die Arbeit scheuchte. Die Jahre vergingen, unsere Kindheit verging, unsere Mutter starb, wir wurden älter und älter, die Vallaresso verloren ihr Vermögen und verließen die Insel, und Morosina und ich suchten uns Arbeit in der Stadt. Da hörte ich eines Tages in einer Bar die Geschichte von dem Karussell der Barmherzigen Schwestern. Ich wusste sofort, dass es das Karussell auf der Insel sein musste. Plötzlich verstand ich, warum die Vallaresso so ein Geheimnis daraus gemacht hatten. Die Geschichte ging mir nicht mehr aus dem Sinn, ich träumte davon, den echten Flügel des Löwen zu finden, den Zauber des Karussells wieder zu erwecken und mit meiner Schwester darauf zu reiten. Morosina hat mich ausgelacht, doch sie kam mit, als ich beschloss, auf die Insel zurückzukehren. Das Karussell stand noch da und ich beschloss, mich auf die Suche nach dem Flügel zu machen. Fragt mich nicht, wie viele Jahre es gedauert hat, bis ich herausfand, wo er war.« Renzo kletterte auf das Karussell und lehnte sich gegen das Einhorn. »Es hat sich gelohnt«, sagte er und strich ihm über den Rücken. »Ihr habt mir den Flügel gebracht, und Morosina und ich sind mit dem Karussell gefahren.«
»Ist es egal, auf welche Figur man steigt?« Scipio sprang auf das Podest und schwang sich auf den Rücken des Löwen. »Nein.« Für einen Moment stand
Renzo so gebeugt da wie der alte Mann, der er einmal gewesen war. »Für mich war der Löwe das richtige Reittier. Du und dein Freund, ihr müsst auf eins der Wasserwesen steigen.«
»Komm, Prop!'«, rief Scipio und winkte Prosper zu sich herauf. »Such dir eine Figur aus. Welche willst du, das Seepferd, den Wassermann?« Prosper trat zögernd auf das Karussell zu. Er hörte in der Ferne die Hunde jaulen.
Auch Renzo hatte es offenbar gehört. Mit gerunzelter Stirn trat er an den Rand des Podests. »Steigt auf«, sagte er zu Scipio. »Ich glaube, ich muss zurück zum Haus, nach Morosina sehen.« Scipio war schon vom Rücken des Löwen gerutscht und hangelte sich auf das Seepferd. »Prosper, worauf wartest du noch?«, rief er ungeduldig, als er sah, dass Prosper immer noch unten vor dem Podest stand.
Aber Prosper rührte sich nicht. Er konnte nicht. Er konnte einfach nicht. Er stellte sich vor, wie er groß und erwachsen ins Gabrielli Sandwirth trat, Esther und seinen Onkel einfach zur Seite schob und mit Bo an der Hand davonging. Aber trotzdem konnte er nicht auf das Karussell steigen.
»Hast du es dir anders überlegt?«, fragte Renzo und schaute ihn neugierig an.
Prosper antwortete nicht. Er sah zu dem Einhorn hoch, zum Wassermann mit seinem blassgrünen Gesicht und zum Löwen, dem geflügelten Löwen. »Fahr du zuerst, Scip«, sagte er. Die Enttäuschung fiel wie ein Schatten auf Scipios Gesicht. »Wie du willst«, sagte er und drehte sich zu Renzo um. »Du hast es gehört. Lass es fahren.«
»Halt, halt, du hast es weiß Gott eilig!« Renzo zog ein Bündel unter seinem altmodischen Umhang hervor und warf es Scipio zu. »Wenn du nicht gleich aus deinen Hosen platzen willst, dann zieh dir etwas davon an. Es
sind alte Sachen von mir, oder sagen wir, vom Conte.« Scipio kletterte nur widerstrebend von dem Seepferd herunter. Als er in Renzos Kleider geschlüpft war, musste Prosper sich das Lachen verkneifen.
»Lach nicht!«, knurrte Scipio und warf ihm seine Sachen zu. Dann krempelte er die viel zu langen Ärmel um, zog die um seine Beine schlackernde Hose hoch und stieg umständlich wieder auf das Seepferd. »Die Schuhe werden mir von den Füßen fliegen!«, schimpfte er.
»Solange du nicht selbst herunterfällst.« Renzo ging zu Scipio hinüber und legte die Hand auf den Rücken des Seepferds. »Halte dich gut fest. Nur ein Stoß und es wird sich drehen, schneller und schneller, bis du abspringst. Noch kannst du es dir anders überlegen.« Scipio knöpfte sich die weite Jacke zu. »Abspringen, auch das noch«, sagte er. »Nicht, dass ich es vorhabe, aber - kann man es auch wieder rückgängig machen?« Renzo zuckte die Achseln. »Wie du siehst, habe ich es noch nicht versucht.«
Scipio nickte und blickte zu Prosper hinunter, der ein paar Schritte zurückgetreten war. Die Schatten der Bäume verschluckten ihn fast. »Komm doch auch, Prop!«
Scipio sah Prosper so bittend an, dass der nicht wusste, wo er hinsehen sollte. Trotzdem schüttelte er den Kopf. »Na gut, selber schuld!« Scipio setzte sich kerzengerade auf. Die Jackenärmel rutschten ihm über die Hände. »Los geht es!«, rief er.
»Und ich schwöre, dass ich erst abspringen werde, wenn ich mich rasieren muss!«
Da gab Renzo dem Seepferd einen Stoß.
Mit sanftem Ruck setzte das Karussell sich in Bewegung, das alte Holz ächzte und knarrte. Renzo trat zurück an Prospers Seite. »Juuuh!«, hörte Prosper Scipio rufen. Er sah, wie Scipio sich tief über den Hals des fischschwänzigen Pferdes beugte. Schneller und schneller drehten sich die Figuren, als stieße die Zeit selbst sie mit unsichtbarer Hand an. Prosper wurde schwindelig, als er versuchte Scipio mit den Augen zu folgen. Er hörte ihn lachen, und plötzlich spürte er, wie sich ein seltsames Glücksgefühl in ihm breit machte. Das Herz wurde ihm leicht, als die Figuren an ihm vorbeiwirbelten, so leicht wie seit langem nicht mehr. Er schloss die Augen und ihm war, als verwandelte er sich in den geflügelten Löwen. Er breitete die Schwingen aus, flog davon. Hoch. Höher.
Renzos Stimme holte ihn zurück auf die Erde. »Spring ab!«, hörte Prosper ihn rufen.
Erschrocken öffnete er die Augen. Das Karussell drehte sich langsamer. Da kam der Wassermann, den Dreispitz in der Hand, da die Seejungfrau und der Löwe, da schwebte das Einhorn heran, viel langsamer jetzt - und da kam das Seepferd. Das Karussell hielt an - und der Rücken des Seepferds war leer. »Scipio?«, rief Prosper und lief um das Karussell herum. Renzo folgte ihm.
Auf der anderen Seite war es dunkel. Hohe, immergrüne Bäume wuchsen dort, ihre Zweige ragten weit in die Lichtung hinein. Unruhig wiegten sie sich im Wind. In ihrem Schatten bewegte sich etwas. Eine Gestalt richtete sich auf, hoch gewachsen und schmal. Prosper blieb stehen.
»Das war knapp«, sagte eine fremde Stimme. Prosper wich ohne es zu wollen zurück.
»Sieh mich nicht so an.« Der Fremde lachte verlegen. Das heißt, so fremd war er Prosper nicht. Er sah aus wie eine jüngere Ausgabe von Scipios Vater. Nur das Lächeln war anders, ganz anders. Scipio streckte die Arme aus - wie lang sie waren! - und drückte Prosper ungestüm an sich.
»Es hat funktioniert, Prop!«, rief er. »Sieh doch. Sieh doch nur.« Er ließ Prosper los und fuhr sich übers Kinn.
»Bartstoppeln! Unglaublich. Willst du mal fühlen?« Lachend drehte er sich um sich selbst, die langen Arme ausgestreckt. Er packte den protestierenden Renzo und hob ihn hoch. »Stark wie Herkules!«, rief er und stellte Renzo wieder auf die Füße. Dann betastete er sein Gesicht, fuhr sich mit dem Finger über den Nasenrücken, die Augenbrauen. »Wenn ich doch bloß einen Spiegel hätte!«, sagte er. »Wie seh ich aus, Prop? Ganz anders?«
Wie dein Vater, wollte Prosper sagen, aber er schluckte die Worte herunter.
»Erwachsen«, antwortete Renzo an seiner Stelle. »Erwachsen!«, flüsterte Scipio und betrachtete seine Hände. »Ja, erwachsen. Was meinst du, Prop, bin ich größer als mein Vater? Ein kleines Stück bestimmt, oder?« Suchend sah er sich um. »Hier muss doch irgendwo ein Brunnen oder ein Teich sein, in dem ich mein Spiegelbild sehen kann.«
»Im Haus ist ein Spiegel«, antwortete Renzo. Er musste lächeln. »Kommt. Ich muss sowieso zurück.« Aber mitten auf der Lichtung blieb er stehen. Irgendwo zwischen den Büschen knackte es, als würde sich ein großes Tier durch die Zweige zwängen. »Wo führst du mich hin, du kleines Biest?«, hörten sie eine Stimme schimpfen. »Ich bin schon mit Dornen gespickt wie ein Kaktus.«
»Das ist der Weg. Wir sind gleich da!«, hörten sie Morosina antworten. Erschrocken sah Renzo sich zu Prosper und Scipio um. Er wollte loslaufen, in die Richtung, aus der die Stimmen gekommen waren, aber Scipio zerrte ihn zurück hinter das Karussell. »Duckt euch!«; flüsterte er Prosper und Renzo zu und kauerte sich mit ihnen hinter das Podest.
»Das werden Sie bereuen!«, hörten sie Morosinas helle Stimme rufen. »Sie haben kein Recht, hier herumzuschnüffeln. Wenn der Conte erfährt.« »Ach was, der Conte!«, höhnte eine tiefe Stimme, die Prosper bekannt vorkam. »Der ist heute nicht da. Er hat es mir selbst gesagt. Nein, du bist allein hier, wer immer du bist! Was denkst du, warum Ernesto Barbarossa dieser verfluchten Insel gerade heute einen Besuch abstattet?«
Renzo fuhr zusammen. »Barbarossa!«, flüsterte er. Er wollte aufspringen, aber Scipio hielt ihn fest. Vorsichtig schoben die drei sich vor und lugten über den Rand des Podests. »Denkst du, ich bin umsonst über diese verfluchte Mauer geklettert?«, hörten sie Barbarossa schnaufen. »Ich will jetzt endlich wissen, worum sich diese ganze Geheimniskrämerei dreht. Und wenn ich es nicht gleich erfahre, dann werde ich sehr, sehr ungemütlich!«
Noch einmal knackten die Zweige, dann stapfte Barbarossa schwer atmend auf die Lichtung. Morosina zerrte er an ihrem langen Zopf hinter sich her wie an einer Hundeleine. »Zum Teufel, was ist das?«, brüllte der Rotbart, als er das Karussell sah. »Willst du mich veralbern? Ich suche etwas mit Diamanten, mit riesigen Diamanten und Perlen. Ich wusste doch gleich, dass du mich an der Nase herumführst. Aber jetzt gehen wir zwei zum Haus zurück und wehe, dort zeigst du mir nicht, was ich suche!«
»Prosper!«, flüsterte Scipio, so leise, dass Prosper ihn kaum verstand. »Sehe ich meinem Vater ähnlich? Sag schon.« Prosper zögerte. Und nickte.
»Gut. Sehr gut.« Scipio strich sich die Jacke glatt und leckte sich die Lippen wie ein Kater, der sich auf die Jagd freut. »Ihr wartet hier erst mal«, flüsterte er. »Ich glaube, jetzt wird es sehr, sehr lustig.« Geduckt schob er sich an Renzo und Prosper vorbei, sah sich noch einmal nach ihnen um - und richtete sich zu seiner vollen Größe auf.
Er war wirklich noch ein paar Zentimeter größer als sein
Vater. Das Kinn vorgestreckt, so wie Dottor Massimo es auch gerne tat, schritt Scipio auf Barbarossa zu.
Der Rotbart starrte ihm mit offenem Mund entgegen. Er hielt Morosinas Zopf immer noch in der Hand.
»Dottore... Dottor Massimo!«, stammelte er entgeistert. »Was. machen Sie denn hier?«
»Das wollte ich gerade Sie fragen, Signor Barbarossa«, antwortete Scipio. Prosper staunte, wie täuschend echt er den herablassenden Ton seines Vaters nachahmte. »Und was in Gottes Namen machen Sie denn da mit der Contessa?«
Barbarossa ließ Morosinas Zopf so erschrocken los, als hätte er sich daran verbrannt. »Contessa? Vallaresso?« »Natürlich, die Contessa ist oft bei ihrem Großvater zu Besuch. Nicht wahr, Morosina?« Scipio lächelte ihr zu. »Aber was treibt Sie auf diese Insel, Signor Barbarossa? Geschäfte?«
»Wie? Ja, ja.« Barbarossa nickte verdattert. »Geschäfte.« Er war immer noch viel zu verblüfft, um zu bemerken, dass Morosina Scipio ebenso erstaunt ansah wie er.
»Ah ja. Nun, mich hat der Conte hergebeten, damit ich dieses Karussell begutachte.« Scipio drehte Barbarossa den Rücken zu und zupfte sich am Ohrläppchen, wie es die Angewohnheit seines Vaters war. »Die Stadt will es eventuell ankaufen. Aber ich fürchte, es ist in einem bedauerlich schlechten Zustand. Sie erkennen es natürlich, nicht wahr?«
»Erkennen?« Barbarossa trat verdutzt an seine Seite - und riss die Augen auf.
»Natürlich! Einhorn, Seejungfrau, Löwe, Wassermann«, er schlug sich gegen die Stirn, als wolle er seinem trägen Verstand Beine machen, »und da ist das Seepferd. Das Karussell der Barmherzigen Schwestern! Unfassbar!« Er senkte die Stimme und blickte Scipio verschwörerisch an. »Was ist mit den Geschichten? Den
Geschichten, die man sich darüber erzählt?« Scipio zuckte die Achseln. »Wollen Sie es ausprobieren?«, fragte er mit einem Lächeln, das so gar nicht nach Dottor Massimo aussah. Aber Barbarossa bemerkte auch das nicht. »Wissen Sie denn, wie man es in Bewegung setzt?«, fragte er und kletterte umständlich auf das Podest.
»Oh, ich habe zwei junge Helfer dabei«, sagte Scipio. »Sie stecken irgendwo dahinten, wollen sich wohl wieder vor der Arbeit drücken.« Er winkte Prosper und Renzo hinter dem Karussell hervor. »Nun kommt schon, ihr zwei. Signor Barbarossa möchte mit dem Karussell fahren.«
Barbarossa kniff die Augen zusammen, als er Prosper sah. »Was macht der denn hier?«, knurrte er und starrte argwöhnisch auf ihn herunter. »Den Jungen kenne ich. Er arbeitet für.«
»Ich arbeite jetzt für Dottor Massimo«, unterbrach Prosper ihn und stellte sich an Scipios Seite. Morosina lief zu ihrem Bruder und flüsterte ihm etwas zu. Renzo wurde blass.
»Er hat den Hunden vergiftetes Fleisch hingeworfen!«, rief er und sprang auf das Podest, aber Barbarossa schubste ihn ärgerlich wieder hinunter.
»Na und? Sie werden es überleben!«, rief er. »Sollte ich mich von diesen Höllenhunden fressen lassen? Diese Biester haben mir oft genug einen Todesschreck eingejagt!«
»Lauf und gib ihnen Brechwurz!«, sagte Renzo zu Morosina, ohne den Rotbart aus den Augen zu lassen. »Im Stall ist noch etwas.«
Morosina rannte davon. Barbarossa blickte ihr selbstzufrieden nach.
»Diese Ungeheuer haben es nicht besser verdient, glauben Sie mir, dottore«, sagte er zu Scipio. »Wissen Sie, ob es gleichgültig ist, auf welche Figur man sich setzt?«
»Nimm den Löwen, Rotbart!«, sagte Renzo und starrte Barbarossa feindselig an. »Der dürfte als Einziger dein Gewicht aushalten.«
Barbarossa warf ihm einen verächtlichen Blick zu, aber er stapfte auf den Löwen zu. Als er seinen dicken Leib hinaufhievte, ächzte das Holz, als wäre der Löwe lebendig geworden. »Fabelhaft!«, stellte Barbarossa
zufrieden fest und blickte auf die Umstehenden hinab wie ein König von seinem Streitross. »Von mir aus kann die Probefahrt beginnen.«
Scipio nickte und legte Renzo und Prosper die Hände auf die Schultern. »Ihr wisst, was ihr zu tun habt. Verschafft Signor Barbarossa den Ritt, den er verdient hat.«
»Aber erst einmal nur eine Runde!« Barbarossa
rutschte aufgeregt noch etwas nach vorn und
klammerte sich mit seinen beringten Fingern an die Stange. »Man kann ja nie wissen. Vielleicht ist doch etwas an den Geschichten dran, und ich will mich ja nicht«, verächtlich wies er auf Renzo, »in einen Knirps wie den da verwandeln. Aber ein paar Jährchen«, er lachte und strich sich über den kahlen Kopf, »wer wäre die nicht gern los, nicht wahr, Dottore?« Scipio beantwortete das mit einem Lächeln. »Renzo, Prosper, einen besonders kräftigen Stoß für Signor
Barbarossa!«, befahl er.
Prosper und Renzo traten auf das Karussell zu. Renzo legte die Hand dem Wassermann auf den Rücken, Prosper stemmte die Arme gegen das Einhorn. »Festhalten, Rotbart!«, rief Renzo. »Das wird der Ritt deines Lebens!«
Das Karussell setzte sich mit einem so heftigen Ruck in Bewegung, dass das Einhorn dem Löwen in den Nacken zu springen schien. Erschrocken klammerte Barbarossa sich an die Stange. »Hoppla, nicht so heftig!«, rief er, aber das Karussell drehte sich schneller und schneller, »Halt!«, brüllte Barbarossa. »Halt! Mir wird übel!« Aber die Figuren wirbelten weiter im Kreis herum, noch eine Runde und noch eine.
»Verfluchtes Teufelsding!«, schrie Barbarossa, und Prosper schien es, als klänge seine Stimme schon heller.
»Spring ab, Rotbart!«, rief Renzo. »Spring ab, wenn du dich traust!«
Aber Barbarossa sprang nicht. Er schrie, er schimpfte, er rüttelte an der Stange, trat gegen den Löwen, als könnte er so die rasende Fahrt bremsen. Und plötzlich passierte es.
Auf der verzweifelten Suche nach Halt stemmte Barbarossa die Füße gegen die Flügel des Löwen. Scipio, Renzo, Prosper, alle drei hörten, wie das alte Holz brach. Fürchterlich klang das Spleißen, fast, als ginge etwas Lebendiges entzwei.
»Nein!«, hörte Prosper Renzo schreien, aber da war schon nichts mehr zu retten.
Der Flügel schleuderte durch die Luft, prallte dem Wassermann gegen die grüne Brust und landete polternd auf dem hölzernen Podest. Von dort schlitterte er hinunter, traf Prosper so heftig am Arm, dass er aufschrie, und verschwand in den Büschen. Schlingernd drehte das Karussell eine letzte Runde, dann kamen die Figuren ächzend zum Stehen. Und regten sich nicht mehr. »Madonna!«, hörte Prosper eine Stimme jammern. »Was war das? Was für ein dreimal verfluchter Höllenritt!« Vom Rücken des geflügelten Löwen rutschte mit schlotternden Beinen ein Junge. Stöhnend taumelte er zum Rand des Holzpodests, stolperte über seine Hosenbeine - und starrte erstaunt auf seine Finger: kurze dicke Finger, mit rosigen Fingernägeln.