Sie Isola Segreta


Es war eine dunkle Nacht. Immer wieder verschwand der Mond hinter den Wolken. Obwohl Scipio seinem Vater eine Seekarte gestohlen hatte, nach der sie sich richten konnten, kamen sie zweimal vom Weg ab. Beim ersten Mal brachte sie der Anblick der Friedhofsinsel auf den richtigen Kurs zurück, und als Murano aus der Nacht auftauchte, wussten sie, dass sie zu weit nach Westen gefahren waren. Dann endlich, als sie schon so durchgefroren waren, dass sie kaum noch ihre Finger spürten, tauchte aus der Nacht die Mauer der Isola Segreta auf, bleichgrau vom Laternenlicht. Die steinernen Engel blickten zu ihnen herüber, als hätten sie sie erwartet. Scipio drosselte den Motor. Das Boot des Conte schaukelte mit eingezogenem Segel am Steg, und Prosper hörte die Hunde anschlagen.

»Was nun?«, flüsterte er Scipio zu. »Wie willst du an den Doggen vorbeikommen?«

»Meinst du, ich bin so verrückt, über das Tor zu klettern?«, antwortete Scipio leise. »Wir versuchen es auf der Rückseite.« Prosper hielt das für keinen sonderlich klugen Plan, aber er sagte nichts. Wenn sie auf die Insel wollten, blieb ihnen wohl nichts anderes übrig.

Das Hundegebell verstummte erst, als sie das Licht der Laternen längst hinter sich gelassen hatten. Scipio steuerte das Boot dicht am Ufer entlang, auf der Suche nach irgendeinem Schlupfloch in der Mauer. An einigen Stellen ragte sie direkt aus dem Wasser, an anderen erhob sie sich aus Schilf und Schlick, aber sie schien die ganze Insel zu umgeben. Schließlich ging Scipio die Geduld aus. »Schluss, wir klettern rüber!«, flüsterte er, stellte den Motor aus und warf einen Anker ins Wasser. »Und wie kommen wir ans Ufer?« Prosper starrte beunruhigt in die Dunkelheit. Etliche Meter Wasser lagen noch zwischen dem Boot und der Insel. »Willst du etwa schwimmen?«

»Unsinn. Hilf mir mal.« Scipio zerrte aus einer Klappe unter dem Steuer zwei Paddel und ein Schlauchboot. Prosper staunte, wie schwer ein bisschen Gummi und Luft sein konnten, als er Scipio half, es über die Reling zu hieven.

Der Atem hing ihnen weiß vor den Mündern, als sie zur Insel paddelten. Sie versteckten das Schlauchboot in dem Schilf, das am Fuß der Mauer wuchs. Aus der Nähe betrachtet sah sie noch höher aus. Prosper legte den Kopf in den Nacken, blickte an ihr hinauf und fragte sich, ob die Doggen wirklich nur das Tor bewachten. Als die Jungen nebeneinander oben auf dem schartigen Sims hockten, ging ihr Atem schwer und ihre Hände waren wund geschürft. Aber sie hatten es geschafft. Vor ihnen lag ein Garten, ein riesiger verwilderter Garten. Sträucher, Hecken, Wege, alles war weiß vom Raureif.

»Siehst du es irgendwo?«, fragte Scipio.

Prosper schüttelte den Kopf. Nein, er sah kein Karussell, nur ein großes Haus. Dunkel ragte es aus den Bäumen. Die Mauer hinunterzuklettern war fast noch schwerer als hinaufzukommen. Die Jungen landeten in dichtem Dornengestrüpp, und als sie sich endlich daraus befreit hatten, standen sie unschlüssig da und wussten nicht, in welche Richtung sie sich zuerst wenden sollten.

»Das Karussell muss hinter dem Haus stehen«, flüsterte Scipio, »sonst hätten wir es von oben gesehen.«

»Stimmt«, murmelte Prosper und sah sich um. Zwischen den kahlen Büschen knackte es, und etwas Kleines, Dunkles huschte über den Weg. Prosper entdeckte Spuren in dem dünnen Schnee, Vogelspuren und die Abdrücke von Pfoten. Ziemlich großen Pfoten. »Komm, wir versuchen es mit dem Weg da!«, flüsterte Scipio und ging voran.

Moosbewachsene Steinfiguren standen zwischen den Büschen, manche waren fast unter den wuchernden Zweigen verschwunden und streckten nur noch die Arme oder den Kopf heraus. Einmal glaubte Prosper, Schritte hinter sich zu hören, aber als er herumfuhr, flatterte nur ein Vogel aus einer verwilderten Hecke. Es dauerte nicht lange, bis sie sich verirrt hatten. Bald waren sie nicht einmal mehr sicher, in welcher Richtung das Boot lag oder das Haus, das sie von der Mauer aus gesehen hatten. »Verdammt! Willst du mal vorgehen, Prop?«, fragte Scipio, als sie an einer Wegkreuzung ihre eigenen Spuren im Schnee entdeckten. Aber Prosper antwortete nicht.

Er hatte wieder etwas gehört. Doch diesmal war es kein Vogel, den sie aufgeschreckt hatten. Es klang wie ein Hecheln, kurz und scharf, und dann kam ein Knurren aus der Dunkelheit, leise, tief und so bedrohlich, dass Prosper das Atmen vergaß. Langsam drehte er sich um, und da standen sie, kaum drei Schritte entfernt, als wären sie aus dem Schnee gewachsen. Zwei riesige weiße Doggen. Er hörte Scipio neben sich schneller atmen.

»Rühr dich nicht, Scip!«, flüsterte er. »Wenn wir weglaufen, jagen sie uns.«

»Beißen sie auch, wenn man zittert?«, flüsterte Scipio zurück. Die Hunde knurrten immer noch. Mit gesenkten

Köpfen kamen sie näher, das kurze, bleiche Nackenhaar gesträubt, die Zähne gebleckt. Gleich werden meine Beine loslaufen, dachte Prosper. Sie werden einfach loslaufen, ohne dass ich irgendetwas dagegen tun kann. Verzweifelt kniff er die Augen zu. »Bimba! Bella! Basta!«, rief eine Stimme hinter ihnen. Die Hunde hörten abrupt auf zu knurren und sprangen an Prosper und Scipio vorbei. Verwirrt drehten die Jungen sich um und blinzelten in das Licht einer Taschenlampe. Ein Mädchen, vielleicht acht, neun Jahre alt, stand hinter ihnen auf dem Weg, fast unsichtbar in dem dunklen Kleid, das es trug. Die Doggen reichten ihr beinahe bis zur Schulter, sie hätte auf ihnen reiten können. »Sieh einer an!«, sagte sie. »Wie gut, dass ich so gern im Mondlicht spazieren gehe. Was sucht ihr hier?« Die Hunde spitzten die Ohren, als sie die Stimme hob. »Wisst ihr nicht, was mit Leuten passiert, die sich auf die Isola Segreta schleichen?« Scipio und Prosper sahen sich an.

»Wir wollen zum Conte«, antwortete Scipio, als wäre nichts dabei, mitten in der Nacht in einem fremden Garten herumzuspazieren. Vielleicht klang er auch so mutig, weil Prosper und er beide größer waren als das Mädchen. Aber Prosper fand, dass die Doggen das mehr als aufwogen. Sie standen neben ihr, als würden sie jeden zerreißen, der ihr zu nahe kam.

»Zum Conte. So, so. Macht ihr eure Besuche immer nach Mitternacht?« Das Mädchen leuchtete Scipio ins Gesicht. »Der Conte mag keine unangemeldeten Besucher. Schon gar nicht, wenn sie sich heimlich auf seine Insel schleichen.«

Dann richtete sie die Taschenlampe auf Prosper. Verlegen blinzelte er in das grelle Licht.

»Wir hatten eine Abmachung mit dem Conte!«, rief Scipio. »Aber er hat uns betrogen. Und das werden wir nur hinnehmen, wenn er uns auf dem Karussell fahren lässt. Auf dem Karussell der Barmherzigen Schwestern.«

»Ein Karussell?« Das Mädchen blickte nur noch feindseliger. »Ich weiß nicht, wovon du redest.«

»Wir wissen, dass es hier ist! Zeig es uns!« Scipio machte einen Schritt auf sie zu, doch die Doggen entblößten sofort die Zähne, und Scipio wich an Prospers Seite zurück. »Wenn der Conte uns darauf fahren lässt, gehen wir auch nicht zur Polizei.«

»Wie großzügig!« Das Mädchen musterte ihn spöttisch. »Wieso denkst du, dass er euch jemals wieder gehen lässt? Das hier ist die Isola Segreta. Ihr kennt doch die Geschichten. Wer diese Insel betritt, kehrt nicht zurück. Los!« Sie zeigte ungeduldig auf den Weg, der links von ihnen zwischen den Büschen verschwand. »Dort entlang. Und versucht nicht wegzulaufen. Glaubt mir, meine Hunde sind schneller als ihr.« Die beiden Jungen zögerten.

»Tut, was ich sage!«, rief das Mädchen ärgerlich. »Oder ihr seid Hundefutter!«

»Bringst du uns zum Conte?«, fragte Scipio. »Sag schon!« Aber das Mädchen antwortete nicht, sondern gab den Hunden einen leisen Befehl. Ohne einen Laut trabten sie auf Prosper und Scipio zu.

»Komm schon, Scip«, sagte Prosper und griff nach Scipios Arm. Widerstrebend ließ Scipio sich mitziehen. Die Hunde blieben so dicht hinter den Jungen, dass sie ihren heißen Atem im Nacken spürten. Ab und zu blickte Scipio sich um, als überlegte er, ob es nicht doch einen Versuch wert war, sich in die Büsche zu schlagen, aber Prosper hielt ihn jedes Mal am Ärmel fest.

»Von einem Mädchen gefangen«, knurrte Scipio. »Mann, gut, dass Riccio und Mosca nicht hier sind.« »Wenn sie uns wirklich zum Conte bringt«, flüsterte Prosper, »dann droh ihm besser nicht mit der Polizei.

Wer weiß, was er sonst mit uns anstellt, klar?«

Scipio nickte nur und blickte sich mit düsterer Miene zu den Hunden um.

Nicht lange und sie wussten, wohin das Mädchen sie brachte. Zwischen den Bäumen tauchte das Haus auf, das Prosper von der Mauer aus gesehen hatte. Riesengroß war es, größer als das Haus von Scipios Vater. Doch selbst im Mondlicht, das den Dingen schmeichelt, wirkte es unbewohnt und verwahrlost. Der Putz bröckelte von den Mauern, die Läden vor den dunklen Fenstern hingen schief in den Angeln und das Dach war so löchrig, dass der Mond hindurchschien. Eine breite Treppe führte zum Eingang hinauf. Von der Brüstung beugten sich Engel, aber die Seeluft hatte ihre Steingesichter zernagt, bis sie ebenso unkenntlich waren wie das Wappen über dem Portal.

»O nein, nicht dort hinauf!«, sagte das Mädchen, als Scipio auf die Treppe zusteuerte. »Heute Nacht wird der Conte bestimmt nicht mehr mit euch reden. Ihr könnt den Rest der Nacht im alten Pferdestall verbringen. Dort entlang.« Ungeduldig wies sie auf ein flaches Gebäude neben dem Haus, aber Scipio blieb stehen. »Nein!«, sagte er und verschränkte trotzig die Arme. »Nur weil du diese Riesenkälber bei dir hast, denkst du, du kannst uns herumkommandieren. Aber ich will jetzt den Conte sprechen. Sofort.«

Das Mädchen schnalzte, und die Doggen stießen Scipio und Prosper die Schnauzen in den Bauch. Erschrocken wichen die Jungen bis an die unterste Treppenstufe zurück.

»Ihr sprecht heute Nacht mit niemandem mehr«, sagte das Mädchen mit scharfer Stimme. »Höchstens mit den Ratten im Stall. Der Conte schläft, er wird morgen früh entscheiden, was wir mit euch machen. Und darüber solltet ihr froh sein, denn so landet ihr nicht gleich jetzt in der Lagune.«

Scipio biss sich auf die Lippen vor Wut, aber die Hunde begannen wieder zu knurren und Prosper zog ihn schnell mit sich. »Mach, was sie sagt, Scip!«, flüsterte er, während sie auf den Stall zugingen, der genauso verwahrlost aussah wie das Haupthaus. »Wir haben noch die ganze Nacht Zeit, uns zu überlegen, wie wir hier rauskommen, aber das können wir nicht, wenn du Hundefutter bist. Und Karussell fahren kannst du dann auch nicht mehr.«

»Ja, ja, schon gut.« Scipio warf dem Mädchen einen finsteren Blick zu.

»Da rein, die Herren!«, sagte sie und öffnete die Stalltür. Stockfinster war es dahinter, und der Gestank, der ihnen entgegenschlug, war so beißend, dass Scipio angewidert das Gesicht verzog.

»Da rein?«, rief er. »Willst du uns umbringen?«

»Soll ich euch die Hunde als Gesellschaft dalassen?«, fragte das Mädchen und schob den Doggen die Hände zwischen die Zähne. »Nun komm schon, Scip«, sagte Prosper und zog Scipio in den dunklen Stall. Ein paar Ratten huschten davon, als das Mädchen mit der Taschenlampe hinter ihnen herleuchtete. »Irgendwo dahinten müssten noch alte Säcke liegen«, sagte sie. »Für eine Nacht dürften die als Betten genügen. Die Ratten sind nicht besonders hungrig, es gibt hier genug für sie zu fressen, also werden sie euch heute Nacht wohl nicht stören. Macht euch nicht die Mühe, nach einem Fluchtweg zu suchen. Es gibt keinen, außerdem werde ich die Hunde vor dem Stall lassen. Buona notte!«

Dann schloss sie die Tür. Prosper hörte, wie sie den Riegel vorschob. In dem Stall war es so dunkel, dass er seine eigenen Hände nicht sehen konnte. Nur durch einen Spalt in der Tür sickerte das Mondlicht.

»Prop!«, flüsterte Scipio neben ihm. »Hast du Angst vor Ratten? Ich hab eine Scheißangst vor ihnen.« »Ich hab mich an sie gewöhnt, im Kino waren ständig welche«, flüsterte Prosper und lauschte in die Dunkelheit. Er hörte, wie das Mädchen draußen mit den Hunden sprach, leise, mit fast zärtlicher Stimme.

»Sehr tröstlich«, murmelte Scipio. Und zuckte so heftig zusammen, als etwas hinter ihm raschelte, dass er Prosper fast umstieß. Sie hörten, wie sich die Schritte des Mädchens entfernten und die Hunde es sich schnaufend vor dem Stall bequem machten. Als ihre Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten, suchten sie nach den Säcken, von denen das Mädchen gesprochen hatte. Aber als Scipio eine Ratte über den Fuß huschte, beschlossen sie, doch lieber nicht auf dem Boden zu schlafen. Sie fanden zwei Holzfässer, auf die sie sich setzten, die Rücken gegen die kalte Mauer gelehnt.

»Er muss uns einfach darauf fahren lassen!«, sagte Scipio irgendwann in die Stille hinein. »Schon, weil er uns so reingelegt hat.«

»Hm«, brummte Prosper.

Er versuchte sich nicht auszumalen, was der Conte sonst noch alles mit ihnen machen könnte. Und dann musste er plötzlich wieder an Bo denken. Zum ersten Mal, seit er in Scipios Boot gesprungen war. Und er fragte sich, ob er seinen kleinen Bruder jemals wieder sehen würde. Es wurde eine endlos lange Nacht, und die Gedanken von Prosper und Scipio waren bald schwärzer als die Dunkelheit in dem stinkenden Stall.



Ein Anruf in der Nacht


Es war schon nach Mitternacht, als Victor das Telefon schrillen hörte. Er zog sich das Kissen über den Kopf, aber es klingelte und klingelte, bis Victor fluchend aus seinem warmen Bett kroch und ins Büro tappte. Dort stolperte er im Dunkeln über die Schildkrötenkiste. »Wer, zum Teufel, ist da?«, knurrte er in den Hörer, während er sich den schmerzenden Zeh rieb.

»Er ist schon wieder weggelaufen!« Esther Hartliebs Stimme klang so atemlos, dass Victor sie im ersten Moment kaum verstand. »Aber das eine sage ich Ihnen, diesmal nehmen wir ihn nicht zurück! Nein. Die Tischdecke hat der kleine Teufel heruntergerissen, im feinsten Restaurant der Stadt, und während wir dasaßen, mit den Nudeln auf dem Schoß, ist er davongerannt!« Victor hörte sie schluchzen. »Mein Mann hat immer gesagt, dass der Junge nicht zu uns passt, dass er wie meine Schwester ist, aber er sah doch aus wie ein Engel! Man hat uns aus dem Hotel geworfen, weil er so geschrien hat, dass man uns verdächtigt hat, ihn zu schlagen. Können Sie sich das vorstellen? Erst hat er kein Wort gesprochen und bloß stumm in der Ecke gesessen und dann plötzlich diese Tobsuchtsanfälle, nur weil ich versucht habe, ihm saubere Socken anzuziehen. Meinen Mann hat er sogar gebissen! Er hat mit seinem Taschenmesser Löcher in die Vorhänge geschnitten, Kaffee vom Balkon gegossen.«, Esther Hartlieb schnappte nach Luft, »... mein Mann und ich fliegen am Montag nach Hause zurück, wie geplant. Sollten meine Neffen in nächster Zeit von der Polizei aufgegriffen werden, dann veranlassen Sie bitte in unserem Namen, dass sie ins Waisenhaus gebracht werden. Es soll einige gute Einrichtungen hier in der Stadt geben. Haben Sie gehört, Signor Getz? Signor Getz.«

Victor ritzte mit seinem Brieföffner Kerben in die Schreibtischplatte. »Wie lange irrt der Junge schon allein da draußen herum?«, fragte er. »Wann ist er weggelaufen?«

»Vor einigen Stunden. Wir mussten ja erst einmal den Schaden mit dem Restaurant regeln. Und dann ein neues Hotel finden. Mit all unserem Gepäck. Alle anständigen Unterkünfte sind ausgebucht. Und wir sind in einem furchtbar primitiven Hotel an der Rialto- Brücke untergekommen.«

Einige Stunden. Victor fuhr sich mit der Hand durch das müde Gesicht und blickte nach draußen. Schwarz und kalt hockte die Nacht zwischen den Häusern. Wie ein Tier, das kleine Jungen verschlang.

»Haben Sie die Polizei benachrichtigt?«, fragte Victor. »Sucht schon jemand nach Bo, Ihr Mann zum Beispiel?«

»Wie meinen Sie das?« Esthers Stimme wurde schrill. »Glauben Sie, einer von uns irrt in diesen finsteren Gassen herum? Nach dem, was sich der Junge an diesem Abend geleistet hat? Nein. Unsere Geduld ist am Ende, ich will nicht einmal mehr seinen Namen hören. Ich.«

Victor legte den Hörer auf. Er legte einfach auf. Vor einigen Stunden! Schlaftrunken zog er sich an.

Als er aus der Haustür trat, empfing ihn eine so klirrende Kälte, dass es ihm die Tränen in die Augen trieb. Na, immer noch besser als kübelweise Regen, dachte Victor, zog sich den Hut tief in die Stirn und stapfte los. Im letzten Winter hatte die Stadt etliche Male unter Wasser gestanden, so hoch, dass ein kleiner Junge wie Bo wahrscheinlich davongespült worden wäre. Die Lagune überschwemmte Venedig immer öfter, früher war das höchstens alle fünf Jahre passiert. Aber darüber wollte Victor jetzt nicht nachdenken. Seine Stimmung war schon düster genug. Seine Füße waren bleischwer vor Müdigkeit, als er die spärlich beleuchteten Gassen entlangstolperte, über Steine, die silbrig waren vom Frost. Es konnte nur einen Ort geben, an dem Bo sich verkrochen hatte. Er wusste schließlich nicht, dass Prosper und seine Freunde bei Ida Spavento untergekommen waren. Victor schniefte und fuhr sich mit dem Ärmel über die eiskalte Nasenspitze. Gar nichts wusste er, der arme kleine Kerl.

Es war ein langer Weg von Victors Wohnung zum Versteck der Kinder. Als er endlich vor dem alten Kino stand, war er durchgefroren bis auf die Knochen. Ich muss mir einen wärmeren Mantel kaufen, dachte er, während er nach dem passenden Dietrich suchte. Zum Glück hatte Dottor Massimo das Schloss noch nicht auswechseln lassen. Auch der Vorraum lag immer noch voll Gerümpel, als wäre nichts geschehen seit der Nacht, in der die Kinder Victor gefangen hatten. Aber als er in den dunklen Kinosaal trat, hörte er ein leises Weinen.

»Bo?«, rief er. »Bo, ich bin es, Victor. Komm raus. Oder wollen wir wieder Verstecken spielen?«

»Ich geh nicht zu ihr zurück!«, kam eine verweinte Stimme aus der Dunkelheit. »Glaub das bloß nicht. Ich will nur zu Prosper.«

»Du brauchst auch nicht zurück.« Victor leuchtete mit der Taschenlampe die Sitze entlang, bis das Licht auf blonde Haare fiel. Bo kroch zwischen den Sitzen herum, als suche er nach etwas. »Sie sind weg, Victor!«, schluchzte er. »Sie sind weg.«

»Wer?« Victor beugte sich zu ihm hinunter, und Bo wandte ihm das verweinte Gesicht zu. »Meine Katzen«, schniefte er. »Und Wespe.«

»Niemand ist weg«, brummte Victor, zog Bo hoch und wischte ihm die Tränen von den Backen. »Sie sind alle bei Ida Spavento, Wespe, Prosper, Riccio, Mosca und deine Katzen.« Er hockte sich auf einen Klappsessel und zog Bo auf seinen Schoß. »Man hört ja Sachen von dir, mein Lieber«, sagte er. »Tischdecken runterreißen, schreien, weglaufen. Weißt du, dass deine Tante und dein Onkel wegen dir aus ihrem feinen Hotel geworfen worden sind?«

»Wirklich?« Bo zog die Nase hoch und presste sein Gesicht in Victors Mantel. »Ich war so wütend«, murmelte er. »Esther wollte nicht sagen, wo Prosper ist.«

»So, so.« Victor drückte Bo ein Taschentuch in die schmutzigen Finger. »Da. Putz dir die Nase. Prosper geht es gut. Er liegt in einem weichen Bett und träumt von seinem kleinen Bruder.«

»Sie wollte mir einen Scheitel ziehen«, murmelte Bo und strich über sein zerzaustes Haar, als müsse er sich versichern, dass Esthers Bemühungen umsonst gewesen waren. »Und ich durfte nicht auf dem Bett hüpfen. Und den Pullover, den Wespe mir geschenkt hat, wollte sie wegwerfen. Sie schimpft schon wegen sooo einem kleinen Kleckerfleck.«, Bo zeigte den Umfang mit seinen Fingern, »... und dauernd wischt sie in meinem Gesicht herum. Und sagt gemeine Sachen über Prosper.«

»Na, so was!« Victor schüttelte mitfühlend den Kopf. Bo rieb sich die Augen und gähnte. »Mir ist kalt«, murmelte er. »Bringst du mich zu Prosper, Victor?«

Victor nickte. »Ja, das mach ich«, sagte er. Aber als er Bo hochheben wollte, duckte der sich zwischen die Sitze. »Da ist einer!«, flüsterte er. Victor drehte sich um.

In der Tür zum Vorraum stand ein Mann und leuchtete mit einer großen Taschenlampe in den Vorführraum. »Was machen Sie denn da?«, rief er mit barscher Stimme, als das Licht auf Victor fiel.

Victor richtete sich auf und legte Bo den Arm um die Schulter. »Ach, dem Kleinen hier ist nur sein Kätzchen weggelaufen«, sagte er so gleichmütig, als wäre nichts Besonderes dabei, mitten in der Nacht in einem geschlossenen Kino zu stehen. »Er dachte, es wäre hier reingelaufen, durch den Notausgang. Das Kino steht doch leer, oder?«

»Ja, aber Dottor Massimo, der Besitzer, hat mich beauftragt, ein Auge darauf zu haben, seit hier zwei elternlose Kinder aufgegriffen worden sind. Das da hinter Ihnen.«, der Mann wedelte mit seiner Taschenlampe, ». das ist auch ein Kind.«

»Scharf beobachtet!« Victor strich Bo durch das feuchte Haar. »Aber er ist nicht elternlos. Das ist mein Sohn. Wie schon gesagt, er hat nur sein Kätzchen gesucht.« Victor blickte sich um. »Das ist ein schönes Kino. Wieso steht es leer?«

Der Mann zuckte die Achseln. »Dottor Massimo will nach all dem Ärger einen Supermarkt daraus machen. Und jetzt gehen Sie. Hier sind keine Katzen, und wenn, dann wären sie längst tot. Ich habe nämlich Rattengift gestreut.«

»Wir sind schon weg!« Victor schob Bo vor sich her zum Notausgang, aber Bo blieb immer wieder stehen. Schließlich hatte er auch gehört, was der Mann gesagt hatte: Ein Supermarkt sollte aus dem Sternenversteck werden.

»Der Vorhang«, sagte er plötzlich. »Sieh doch, Victor, sie haben ihn einfach runtergerissen.«

Schmutzig und zerdrückt lag der schwere Stoff auf dem Boden. »Was haben Sie mit dem Vorhang vor?«, rief Victor dem Wächter zu, der gerade wieder durch die Tür zum Vorraum verschwand.

Unwillig drehte der sich um. »Hören Sie mal, es ist spät!«, rief er. »Verschwinden Sie jetzt mit Ihrem Kleinen. Und wenn Sie der Vorhang interessiert, dann nehmen Sie ihn doch mit.«

»Ach ja? Wie sollen wir das denn machen?«, murmelte Victor. »So ein Idiot.«

Dann zog er sein Taschenmesser aus der Manteltasche und trennte ein großes Stück von dem bestickten Stoff ab. »Hier«, sagte er und drückte es Bo in die Hand. »Als kleines Andenken.«

»Ist Scipio auch bei Ida?«, fragte Bo, als sie aus dem Notausgang traten.

»Nein«, antwortete Victor, wickelte ihn in die warme Decke, die er vorsorglich mitgebracht hatte, und nahm ihn auf den Arm. »Der ist wohl wieder zu Hause. Ich glaube, deine Freunde sind nicht mehr allzu gut auf ihn zu sprechen.«

»Aber sein Vater ist ekelig«, murmelte Bo, obwohl er kaum noch die Augen aufhalten konnte. »Du bist viel netter.« Er schlang seine Arme um Victors Nacken und presste gähnend das Gesicht gegen seine Schulter. Schon auf der Accademia-Brücke schlief er tief und fest. Und Victor trug ihn weiter durch die stillen, menschenleeren Gassen bis zu Ida Spaventos Haus.


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