Fremde Gäste


Scipio hatte Recht, die anderen machten sich Sorgen um Prosper, furchtbare Sorgen.

Sie erinnerten sich alle an sein verzweifeltes Gesicht bei ihrem letzten gemeinsamen Essen. Und dass nicht mal Wespe ihn hatte trösten können. Vor Bo verbargen sie, so gut es ging, wie besorgt sie waren, und Wespe versuchte ihn zu überreden, doch lieber bei Lucia und den Katzen zu bleiben, statt mit nach Prosper zu suchen. Aber Bo schüttelte nur den Kopf, klammerte sich an Victors Hand und kam mit.

Zuerst versuchten sie es noch einmal beim Sandwirth, dann fragten sie bei den Carabinieri nach, in den Kranken- und Waisenhäusern. Giaco fuhr mit Idas Boot die Kanäle ab und zeigte den Gondolieri Prospers Foto, Mosca und Riccio fragten auf den Vaporetti nach ihm. Aber als der Regen kam und der Himmel so dunkel wurde, als hätte selbst die Sonne sich einen trockeneren Ort gesucht, fehlte von Prosper immer noch jede Spur. Ida und Wespe kehrten als Erste zum Haus zurück, sie wussten einfach nicht, wo sie noch suchen sollten. Auf dem Campo Santa Margherita trafen sie Victor, mit dem schlafenden, klitschnassen Bo auf dem Rücken. Ida brauchte Victor nur ins Gesicht zu schauen, um zu sehen, dass er ebenso wenig Erfolg gehabt hatte wie sie. »Wo kann der Junge bloß stecken?«, seufzte sie, als sie die Haustür aufschloss. »Lucia ist noch mal zu dem Kino gegangen, sie müsste auch bald zurückkommen.«

Wespe war so müde, dass sie den Kopf gegen Idas Rücken lehnte. »Vielleicht hat er sich auf irgendein Schiff geschlichen«, murmelte sie, »und ist längst weit, weit weg.« Aber Victor schüttelte den Kopf.

»Glaub ich nicht«, sagte er. »Ich werde Bo jetzt in sein Bett legen, etwas essen, ein Glas von Idas Portwein trinken und dann noch mal bei Dottor Massimo vorbeigehen. Vielleicht hat Scipio ja von Prosper gehört. Ich habe schon etliche Male versucht dort anzurufen, aber es nimmt niemand ab.«

Ida stieß die Haustür auf. »Ja, das wäre noch eine Möglichkeit«, sagte sie - und blieb in der offenen Tür stehen. »Was ist?«, fragte Victor. Und hörte es auch. Aus der Küche schallten Stimmen den Flur hinunter. »Giaco?«, fragte Victor, aber Ida schüttelte den Kopf. »Der ist nach Murano gefahren.«

»Ich könnte spionieren gehen«, flüsterte Wespe. »Nein, das übernehme ich!«, raunte Victor und legte Bo vorsichtig in einem Sessel neben der Haustür ab. »Ihr zwei bleibt hier bei Bo, während ich mir unsere Besucher ansehe. Wenn es Ärger gibt«, er gab Ida sein Handy, »ruft ihr die Polizei.« Aber Ida gab das Telefon an Wespe weiter. »Ich komme mit«, flüsterte sie. »Die sitzen schließlich in meiner Küche.« Victor seufzte, aber er versuchte nicht Ida davon abzubringen. Besorgt blickte Wespe den beiden nach, als sie den dunklen Flur hinunterschlichen.

Die Küchentür stand offen, und an dem großen Tisch, auf dem Lucia sonst ihren Nudelteig ausrollte, saßen zwei Jungen und ein hoch gewachsener Mann, der zu Victors Verwunderung aussah wie eine jüngere Ausgabe des ehrenwerten Dottor Massimo. Der kleinere der beiden Jungen war kaum so alt wie Bo, hatte rostrote

Locken und wollte gerade nach der halb leeren Portweinflasche greifen, die zwischen den dreien stand, aber der andere Junge zog sie ihm weg. Er saß mit dem Rücken zur Tür. Als er den Kopf zur Seite wandte, stieß Ida einen so erleichterten Seufzer aus, dass er sich erschrocken zu ihr umdrehte.

»Verflucht noch eins, Prosper!«, polterte Victor los. »Weißt du, seit wann wir dich suchen?«

»Hallo, Victor.« Prosper schob zerknirscht seinen Stuhl zurück. Er trug den linken Arm in einer Schlinge.

Die anderen beiden ließen hastig wie Kinder, die man bei etwas Verbotenem ertappt hat, die Gläser sinken. Der junge Mann versuchte sogar das seine unter dem Tisch zu verbergen und goss sich den Portwein dabei über die dunkle Hose.

»Wie seid ihr hereingekommen?«, fragte Ida Prosper, ohne seine beiden Begleiter aus den Augen zu lassen. »Lucia hat mir gesagt, wo sie ihren Ersatzschlüssel versteckt«, antwortete Prosper verlegen.

»So, so, und da schleppst du gleich noch mehr Leute in Idas Haus.« Victor warf dem jungen Mann einen argwöhnischen Blick zu. »Ich wette, Sie heißen mit Nachnamen Massimo«, knurrte er. »Und was ist mit dem Zwerg da? Gibt es in diesem Haus noch nicht genug Kinder?«

Der kleine Rothaarige richtete sich mit einem Ruck auf, musterte Victor vom Kopf bis zu den ausgetretenen Schuhen und lallte: »Zwerg? Ich bin Ernesto

Barbarossa, ich bin ein wichtiger Mann in dieser Stadt, aber wer, Pest und Fäulnis, sind Sie, wenn ich fragen darf?«

Victor öffnete verblüfft den Mund, aber bevor er etwas sagen konnte, drückte der junge Mann den Kleinen auch schon unsanft auf seinen Stuhl zurück.

»Sei still, Barbarino«, sagte er. »Wenn du dich nicht benehmen kannst, setzen wir dich vor die Tür. Das ist

Victor, ein Freund von uns. Und das neben ihm ist Ida Spavento. Ihr gehört dieses Haus, und du hast eindeutig zu viel von ihrem Portwein getrunken.« Victor und Ida wechselten einen erstaunten Blick. »Tut mir Leid, dass wir den Rotbart auch noch hergebracht haben«, stammelte Prosper. »Und dass er auch noch deinen Portwein getrunken hat, Ida, aber er wollte nicht allein in seinem Laden bleiben. Es ist nur für diese Nacht.«

»In seinem Laden?«, fragte Victor. »Verdammt noch mal, Prosper, kannst du jetzt endlich mal erklären, was hier los ist?«

»Wir haben unser Ehrenwort gegeben, nicht darüber zu reden«, murmelte Prosper und zupfte an dem schmutzigen Tuch, das seinen Arm hielt.

»Ja, allerdings. Tut uns wirklich Leid, Victor«, sagte der junge Mann. Victor konnte sich nicht erinnern, jemals ein so unverschämtes Grinsen bei einem Erwachsenen gesehen zu haben. »Aber vielleicht hast du Lust zu raten, wen du vor dir hast. Das mit meinem Nachnamen war schon nicht schlecht.« Victor wurde die Antwort erspart. Jemand zupfte ihn am Ärmel und als er über die Schulter blickte, stand Wespe hinter ihm. »Was ist denn nun los?«, fragte sie mit gesenkter Stimme und versuchte einen Blick in die Küche zu erhaschen. Als sie Prosper entdeckte, schob sie sich hastig an Ida und Victor vorbei. Keinen Blick hatte sie übrig für den rot gelockten Jungen oder den fremden Mann, der an Idas Tisch lehnte. Ihre Augen hingen bloß an Prospers verletztem Arm.

»Wo warst du?«, rief sie, und in ihrer Stimme schwangen zugleich Wut und Erleichterung mit. »Wo warst du, verdammt noch mal? Weißt du, was für Sorgen wir uns alle gemacht haben? Verschwindest einfach mitten in der Nacht.« Tränen traten ihr in die Augen.

Prosper öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch Wespe ließ ihn nicht zu Wort kommen.

»Die ganze Stadt haben wir nach dir abgesucht, Mosca und Riccio sind immer noch unterwegs!«, rief sie. »Lucia und Giaco auch. Und Bo hat sich die Augen aus dem Kopf geweint! Nicht mal Victor konnte ihn trösten.«

»Bo?« Prosper war Wespes Blick verlegen ausgewichen, aber jetzt sah er sie an, ungläubig, als hätte er sich verhört. »Bo?«, stammelte er. »Bo ist bei Esther.« »Nein, ist er nicht!«, rief Wespe. »Aber wie willst du das auch wissen, wenn du einfach verschwindest? Was ist mit deinem Arm passiert?«

Prosper antwortete nicht. Er sah nur Victor an. »Ja, guck nicht so. Dein kleiner Bruder ist Esther schon wieder weggelaufen«, sagte Victor. »Und vorher hat er sich so gründlich danebenbenommen, dass deine Tante ihn nicht mehr für einen Engel hält. Sie will ihn nie wieder sehen, nie wieder, das sind ihre eigenen Worte, ihn nicht und dich sowieso nicht. Ich soll ein schönes italienisches Waisenhaus für euch finden, für den Fall, dass ihr jemals wieder auftaucht. Aber sie will nichts mehr mit euch zu schaffen haben.«

Prosper schüttelte den Kopf. »Unmöglich!«, flüsterte er. »Ich habe deinen Bruder im Kino gefunden«, sagte Victor. »Ich dachte, ich komme hierher und du fällst mir um den Hals vor Freude. Aber du warst nicht da.« Prosper schüttelte noch einmal den Kopf, als könne er einfach nicht glauben, was Victor da erzählte.

»Hast du das gehört, Scip?«, murmelte er.

»Wenn das kein Grund zum Feiern ist«, sagte der junge Signor Massimo und legte Prosper den Arm um die Schulter. »Vielleicht sollten wir ein Bündel von unserem Falschgeld ausgeben.«

»Wer zum Teufel ist das, Prosper?«, knurrte Victor. »Scipio natürlich«, antwortete Prosper. »Und jetzt sag

mir, wo Bo ist, bitte, Victor!«

Aber Victor hatte es die Sprache verschlagen. Er machte den Mund auf, er machte ihn wieder zu. Aber es kam ihm kein Laut über die Lippen. Da griff Ida nach Prospers Hand.

»Komm mit«, sagte sie und zog ihn auf den Flur hinaus.

Bo schlief immer noch in dem Sessel, in dem Victor ihn abgelegt hatte. Wie eins seiner Kätzchen hatte er sich zusammengerollt unter dem Pullover, den Wespe über ihn gebreitet hatte. Sein Haar war nass vom Regen und seine Augen sahen verweint aus. Prosper beugte sich über ihn und zog ihm den Pullover bis unter die Nase. »Ja, Bo hat die Sache selbst in die Hand genommen«, sagte Ida leise. »Während sein Bruder auf die Isola Segreta gefahren ist.« Ertappt sah Prosper sie an.

»Ich darf nichts darüber erzählen«, sagte er. »Es ist das Geheimnis von einem anderen. Und.«

». die Isola Segreta soll ihr Geheimnis behalten«, beendete Ida seinen Satz. Sie setzte sich auf die Sessellehne. »Auf jeden Fall ist mein Flügel wohl wieder an seinem angestammten Platz«, sagte sie. »Bo wird froh sein, dass du nicht auf dem gefahren bist, worüber wir nicht sprechen dürfen.«

»Ja. Das glaub ich auch.« Prosper richtete sich auf. »Was hat er denn bei Esther angestellt?«

»Deine Tante ist aus dem Hotel geworfen worden«, antwortete Ida. »Und ich erinnere mich auch an irgendetwas mit Nudeln und Tomatensoße.« Prosper musste lächeln.

»Es war genauso schön, wie du erzählt hast«, sagte er plötzlich. »Aber es ist zerbrochen, durch Barbarossas Schuld, und ich glaub, jetzt wird es nie, nie wieder fahren.«

Ida schwieg. Nachdenklich beugte sie sich über den schlafenden Bo und strich ihm eine feuchte Haarsträhne aus der Stirn. »Du solltest jetzt deinen kleinen Bruder wecken«, sagte sie. »Und dann sehe ich mir deinen Arm an.«

»Ach, der Arm ist nicht so schlimm«, antwortete Prosper. »Aber kennst du vielleicht einen Tierarzt, der sich trauen würde, zur Isola Segreta zu fahren und da mal nach zwei Hunden zu sehen?«

»Bestimmt«, antwortete Ida. Dann ging sie zurück in die Küche. Und Prosper weckte Bo.



Eine verrückte Idee


Zehn Teller stellte Wespe an diesem Abend auf Idas Esszimmertisch. Als Ida Lucia erklärt hatte, dass der kleine Rotschopf und der fremde junge Mann auch noch zum Essen bleiben würden, hatte sie nur düster den Kopf geschüttelt und gemurmelt, dass so viele Mäuler der Signora die Haare vom Kopf fressen würden. Aber dann war sie in der Küche verschwunden und hatte Unmengen von Nudeln gekocht. Als sie die dampfenden Schüsseln hereinbrachte, saßen fast alle am Tisch. Nur Ida und Barbarossa fehlten noch. Prosper sah, dass Mosca, Riccio und Wespe immer wieder verstohlen zu Scipio hinüberblickten, der sich mit seinen langen Beinen ans Ende des Tisches gesetzt hatte. Sie suchten wohl nach etwas Vertrautem, doch viel gab es da nicht zu entdecken. Ab und zu strich Scipio sich mit der flachen Hand übers Haar, so wie er es früher oft getan hatte, und auch die Augenbrauen hob er noch auf dieselbe Weise, aber sonst war er selbst Prosper fremd. Er schien das auch zu spüren. Obwohl er lächelte, wenn er die unsicheren Blicke seiner Freunde bemerkte.

»Nun, Signor Massimo, wann willst du dich bei deinen Eltern melden?«, fragte Victor, nachdem Lucia sich mit einem tiefen Seufzer auch an den Tisch gesetzt hatte. »Heute noch?« »Wieso sollte ich?«, antwortete Scipio und strich über die Zinken seiner Gabel. »Sie werden mich kaum vermissen. Ich werde mich höchstens noch mal ins Haus schleichen, um zu sehen, wie es meiner Katze geht.«

»Aber du kannst deine Eltern doch nicht völlig im Unklaren lassen«, sagte Victor und nahm sich schon mal eine Portion Nudeln, obwohl Lucia missbilligend die Stirn runzelte. »Egal, was du von deinem Vater hältst, du kannst ihn nicht mit der ewigen Sorge leben lassen, dass sein Sohn in einen Kanal gefallen oder von Kinderschändern geraubt worden ist.«

Scipio fuhr mit der Gabel über die Tischdecke und antwortete nicht.

»Wenn er aber doch nicht will, Victor!«, sagte Bo. »Und außerdem ist er jetzt erwachsen.« Scipio lächelte ihm zu.

»Erwachsen. Na und?« Victor wollte gerade verkünden, was er von Scipios Erwachsensein hielt, als die Tür aufging und Ida hereinkam. An der Hand hielt sie Barbarossa, der mürrisch zur Decke hinaufsah, als alle sich zu ihm umdrehten. »Euer Freund hier darf sich ab sofort nicht mehr ohne Begleitung in meinem Haus bewegen«, sagte Ida ärgerlich. »Er schnüffelt in meinem Labor herum, durchwühlt meine Schubladen und isst meine Pralinen!«

Barbarossa wurde rot wie eine Kirschtomate. »Ich war hungrig!«, fuhr er Ida an. »Ich werde Ihnen bessere kaufen, sobald ich wieder über Geld verfüge. Wie oft muss ich noch erklären, dass mein Portemonnaie auf dieser gottverfluchten Insel liegt? Sobald morgen die Banken öffnen, werde ich Geld abheben, Ihnen die Pralinen erstatten und mich anständig einkleiden. Es ist eine Schande für einen Mann wie mich, in diesen.«, er zupfte mit gerümpfter Nase an dem Pullover, den Bo ihm geliehen hatte, ». albernen Kleidungsstücken herumzulaufen.«

»Na, wunderbar.« Ida schubste ihn unsanft auf den einzigen noch leeren Stuhl zwischen Riccio und Bo und schob sich selbst einen Hocker neben Victor.

»Ich denke, du hast Prosper und Scipio angebettelt, dich mit hierher zu bringen?«, fragte Wespe über den Tisch. »Also benimm dich gefälligst, ja?«

»Dieses Bürschchen stiehlt nicht nur Pralinen«, erklärte Lucia grimmig. »Mit unseren letzten Silberlöffeln habe ich ihn erwischt. Und einen Fotoapparat hat er schon unter seiner Jacke verschwinden lassen.«

Riccio kicherte und Prosper ertappte ihn dabei, dass er Barbarossa einen bewundernden Blick zuwarf. Bo aber stand mit seinem Teller auf und hockte sich damit ein Stück entfernt auf Idas Teppich. »Neben dem will ich nicht sitzen«, verkündete er. »Nachher klaut er mir noch meine Nudeln.« Barbarossa warf mit einer Olive nach ihm. Was dem Rotbärtchen eine Ohrfeige von Wespe eintrug. »Schluss jetzt!«, rief Victor. »Was ist denn hier los? Lasst euch doch nicht von dem Giftbürschchen verrückt machen.« Lucia stand mit einem tiefen Seufzer auf.

»Signora, ich gehe nach Hause«, sagte sie und faltete ihre Serviette zusammen. »Vielleicht sollten Sie den Kleinen in der Besenkammer einschließen, wenn er schon hier übernachten muss.«

»Noch eine Frechheit, Barbarino«, sagte Scipio, als Lucia die Tür hinter sich zuzog, »und du kannst heute Nacht hinter deinem Ladentisch schlafen. Das wird sehr gemütlich. Draußen die stockfinstere Gasse, der Regen prasselt gegen die Scheiben, und unser lieber Barbarino liegt mutterseelenallein da und klappert die ganze Nacht vor Angst mit den Zähnchen.«

Barbarossa presste die Lippen aufeinander und starrte in seinen Teller. Wespe, Mosca, Riccio, Prosper, keiner hatte einen freundlichen Blick für ihn. Ida tuschelte mit

Victor und beachtete ihn nicht.

»Vielleicht sollten wir eine Anzeige für dich aufgeben, Barbarino.« Scipio lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und reckte die langen Arme. »Unausstehliches

Kerlchen, vier, fünf Jahre alt, sucht Mutter. Oder hast du vor, dich allein durchzuschlagen? Ich glaube, Ida steht als Ersatzmutter für dich nicht zur Verfügung.« »Nein, ganz bestimmt nicht«, sagte Ida und warf sich eine Olive in den Mund. »Aber ich könnte einem wichtigen Mann bestimmt ein Bett bei den Barmherzigen Schwestern besorgen.«

»Nein, danke!« Barbarossa rümpfte die Nase. »Kein Bedarf. Und sollte ich tatsächlich gezwungen sein, mir eine Ersatzmutter zu suchen, dann wird meine Wahl bestimmt nicht auf eine Frau fallen, die ihr Silberbesteck an Waisenkinder verschenkt und mit ungekämmten Haaren herumläuft.« Ida schnappte nach Luft.

»Du scheinst ja sehr genau zu wissen, was du willst, Rotbärtchen!«, knurrte Victor. »Dabei kannst du zurzeit kaum über deinen eigenen Ladentisch gucken. Aber keine Sorge, die Nonnen im Waisenhaus sind tadellos gekämmt!«

Riccio kicherte, bis Barbarossa ihm so fest gegen das Schienbein trat, dass ihm die Tränen in die Augen schossen. »Ich werde schon zurechtkommen«, versetzte der Rotbart. »Ich habe mehr als genug Geld auf der Bank.«

»Ach ja?« Victor wechselte einen amüsierten Blick mit Ida. »Und du meinst, diese Bank zahlt Ernesto Barbarossas Geld einem etwa fünfjährigen Jungen aus?« Mit finsterem Gesicht goss Barbarossa sich ein Glas Rotwein ein.

»Wenn ich erst mal wieder groß bin«, murmelte er und warf Prosper und Scipio einen drohenden Blick zu, »dann werde ich mich an jedem rächen, der mich nicht daran gehindert hat, auf dieses dreimal verfluchte Karussell zu steigen. Ich werde.«

»Halt den Mund, Barbarino!«, unterbrach Prosper ihn. »Du hast ebenso wie wir dein Ehrenwort gegeben, nicht über die Sache zu reden! Außerdem kenne ich zwei Hunde, die nur darauf warten, dass du ihrer Insel noch mal einen Besuch abstattest.«

»Ach, hör gar nicht hin, Prop«, sagte Scipio und schlug die langen Beine übereinander. »Was dieser Knirps von sich gibt, interessiert doch sowieso niemanden. Keiner wird ihm zuhören, egal, was für Geschichten er erzählt.«

Die anderen hoben die Köpfe. Für ein paar Momente wurde es still in Idas Esszimmer, als hofften alle, vielleicht doch etwas über die geheimnisvollen Dinge zu erfahren, die Prosper und Scipio erlebt hatten. Aber die zwei sahen sich nur an und schwiegen. »Tja, Barbarino«, sagte Riccio und klopfte Barbarossa auf die Schulter. »Willkommen im Reich der Zwerge.«

»Finger weg!«, knurrte Barbarossa. »Was bildest du dir ein, nimm dir keine Vertraulichkeiten heraus, du Zecke. Und du?« Barbarossa starrte auf Bo hinab, der immer noch auf dem Teppich lag. »Was glotzt du so? Die ganze Zeit schon starrst du mich an mit deinen Hundeaugen!«

Bo antwortete nicht. Er lag auf dem Bauch, das Kinn in die Hände gestützt, und musterte Barbarossa wie ein seltenes Tier, das aus irgendeinem Kanal gestiegen und in Idas Haus gekrochen war. »Wie der redet, das würde Esther gefallen, was, Prop?«, sagte Bo. »Der redet noch vornehmer als Scipio. Dabei ist er kleiner als ich. Nur das Fluchen, das fänd sie wahrscheinlich nicht so gut.« »Kleiner? Ich bin nicht kleiner, du Teppichfurz!«, schnauzte Barbarossa. »Uns trennen Welten, verstanden? Ich bin gebildet, ich habe studiert, und du gehst nicht mal in den Kindergarten.« Bo rollte sich gelangweilt auf den Rücken. »Der kleckert auch gar nicht beim Essen«, stellte er fest. »Das würde Esther, glaub ich, am allerbesten gefallen, oder, Prop?«

Prosper ließ die Gabel sinken und musterte Barbarossa. »Stimmt«, sagte er. »Kein klitzekleines Fleckchen. Das würde sie umwerfen. Und guck dir bloß an, wie sorgfältig er sich die Haare gebürstet hat. Oder warst du das, Ida?«

Ida schüttelte den Kopf. »Du hast doch gehört, ich habe mich noch nicht mal selbst gekämmt. Wie ist es mit dir, Victor? Hast du dem Rotschopf die Haare gebürstet?«

»Unschuldig«, brummte Victor.

»Wer ist diese Esther, von der die Dummköpfe da faseln?« Barbarossa drehte sich zu Riccio um.

»Die Tante von Prosper und Bo«, antwortete Riccio mit vollem Mund. »Sie war ganz wild auf Bo, aber jetzt will sie ihn nicht mehr haben.«

»Wie überaus klug von ihr.« Barbarossa fuhr sich durch die dichten Locken. Seine neue Haarpracht schien ihn über das Fehlen seines Bartes hinwegzutrösten. Scipio warf ihm einen nachdenklichen Blick zu. »Wisst ihr was, mir kommt da eine verrückte Idee«, sagte er langsam. »Sie ist noch etwas verschwommen, aber geradezu genial.«

»Genial?« Barbarossa griff wieder nach dem Wein, aber Victor zog ihm die Flasche weg und stellte sie neben seinen Teller. Barbarossa warf ihm einen finsteren Blick zu. »Weißt du, Herr der Diebe«, knurrte er in Scipios Richtung. »Du kannst gar keine genialen Ideen ausbrüten. Weil du nämlich nichts weiter bist als eine schlechte Kopie deines Vaters!«

Scipio fuhr hoch, als hätte ihn etwas gebissen. »Sag das noch mal, du kleine Kröte.«

Nur mit vereinten Kräften konnten Wespe und Prosper ihn davon abhalten, auf Barbarossa loszugehen.

»Lass dich doch von der kleinen Ratte nicht reizen, Scip!«, flüsterte Wespe ihm zu, während Barbarossa mit selbstzufriedenem Lächeln seine rosigen Fingernägel betrachtete. Scipio ließ sich wieder auf seinen Stuhl sinken. »Schon gut«, murmelte er, ohne Barbarossa aus den Augen zu lassen. »Ich werde mich beherrschen. Und Signor Barbarossa irgendwann eine Ansichtskarte ins Waisenhaus schicken, denn da wird er unweigerlich landen, wenn er nicht vorher elendiglich in seinem Laden verhungert. Ja, so wird es mit dem Ärmsten kommen, aber mir soll es egal sein. Ich werde keinen Gedanken mehr darauf verschwenden, schon gar keinen genialen.« Mit gelangweiltem Gesicht stand er auf, schlenderte zum Fenster und blickte in die Nacht hinaus.

Riccio und Mosca stießen sich an. Und Prosper konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Ja, Scipio war immer noch Scipio, er spielte immer noch gern Theater. Und Barbarossa schluckte den Köder.

»Schon gut, schon gut«, murrte er. »Was ist das für eine geniale Idee? Rück schon heraus damit, Herr der Diebe. Weiß Gott, der Mensch ist ja empfindlicher als ein Glasblümchen.« Aber Scipio kehrte ihm weiter den Rücken zu. Als wäre er allein, stand er am Fenster und betrachtete den nächtlichen Campo Santa Margherita. »Nun, heraus damit, zum Teufel!«, rief Barbarossa, während die anderen zu kichern begannen. Aber Scipio rührte sich nicht. Barbarossa schlürfte den letzten Rest Wein aus seinem Glas und knallte es so heftig auf den Tisch, dass es fast zerbrach. »Soll ich auf den Knien herumrutschen?«, rief er.

»Diese Tante von Prosper und Bo«, sagte Scipio, ohne sich umzudrehen, »wünscht sich einen süßen kleinen Jungen mit guten Tischmanieren und dem Benehmen eines Erwachsenen. Und du brauchst einen Unterschlupf, ein Zuhause für die nächsten Jahre, jemanden, der dir das Essen hinstellt und nebenan schläft, wenn es dunkel wird.«

Barbarossa hob die Augenbrauen. »Hat sie Geld?«, fragte er und strich sich eine Locke aus der Stirn. »O ja«, antwortete Scipio. »Nicht wahr, Prop?« Prosper nickte nur.

»Das ist wirklich eine ziemlich verrückte Idee, Scip«, sagte er. »Das wird niemals klappen.«



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