Prosper


Riccio fand Prosper vor dem Gabrielli Sandwirth. Wie festgefroren stand er auf der breiten Promenade, ohne die Leute zu beachten, die an ihm vorbeigingen. An der Riva degli Schiavoni herrschte immer Gedränge, selbst an einem so schneidend kalten Tag wie diesem, denn einige der schönsten Hotels der Stadt lagen hier. Zahllose Schiffe liefen die Anlegestellen an, es war ein einziges Kommen und Gehen. Prosper hörte, wie der Wind die Schiffe gegen die Anleger trieb, wie sie dumpf gegen das Holz prallten, er hörte die vorbeigehenden Menschen lachen und reden, in unzähligen Sprachen, aber er stand nur da, den Kragen hochgeschlagen gegen die eisige Kälte, und sah zu den Fenstern des Sandwirth hinauf. Als Riccio ihm die Hand auf die Schulter legte, drehte er sich erschrocken um.

»He, Prop, da bist du ja endlich!«, sagte Riccio erleichtert. »Ich such schon den halben Tag nach dir. Hier war ich auch schon ein paar Mal, aber du warst nicht da.«

»Tut mir Leid«, murmelte Prosper und drehte sich wieder um. »Ich bin ihnen den ganzen Tag hinterhergelaufen«, sagte er, »ohne dass sie es gemerkt haben. Manchmal hat Bo mich fast entdeckt, dann hab ich mich schnell geduckt. Ich hatte Angst, er dreht durch, wenn er mich sieht. So was kann mein Onkel gar nicht leiden.« Prosper strich sich das Haar aus der Stirn. »Ich bin ihnen überallhin gefolgt. Sie haben Bo was zum Anziehen gekauft, sogar eine Fliege wollte Esther ihm umbinden, aber die hat Bo heimlich in einen Papierkorb geschmissen. Du würdest ihn nicht wieder erkennen. In den zu großen Pullovern, die Scipio ihm mitgebracht hat, sah er wirklich ganz anders aus. Sogar zum Frisör haben sie ihn geschleppt, keine Spur ist mehr von der schwarzen Farbe zu sehen, die wir ihm auf den Kopf geschmiert haben. Dann sind sie mit ihm von einem Cafe zum nächsten gewandert, doch er hat nie was angerührt, egal, was sie ihm bestellt haben. Er hat einfach nur über ihre Köpfe weggestarrt. Einmal hat er mich, glaub ich, hinter der Scheibe entdeckt und wollte losrennen, aber mein Onkel hat ihn sich geschnappt wie einen kleinen Hund und wieder auf den Stuhl gesetzt. Vor das riesengroße Eis, das er nicht essen wollte.«

»Warum hat er es nicht gegessen?« Riccio konnte sich nichts und niemanden vorstellen, der ihm den Appetit auf große Eisbecher verderben könnte.

Prosper musste lächeln. Aber sein Gesicht wurde sofort wieder ernst. »Sie sind jetzt dadrin«, sagte er und zeigte hinauf zu den erleuchteten Fenstern. »Irgendwann hab ich mich getraut, reinzugehen und den Portier zu fragen, in welchem Zimmer Esther wohnt. Aber der Kerl hat nur gesagt, die Hartliebs sind nicht zu sprechen. Für niemanden.«

Ein paar Augenblicke lang standen die beiden Jungen nebeneinander da und blickten zu den Fenstern hinauf. Schöne Fenster waren es, hell erleuchtet, mit schimmernden Vorhängen. Hinter welchem Bo wohl steckte?

»Komm jetzt!«, sagte Riccio schließlich und blickte einem Mann nach, der seinen Fotoapparat leichtsinnig hin- und herschwenkte.

»Du kannst doch nicht bis in die Nacht hier herumstehen. Willst du nicht wissen, wo wir untergekommen sind? Victor hat uns geholfen, unseren Kram zusammenzupacken, und dann haben wir alles zum Campo Santa Margherita geschleppt. Mosca hat den ganzen Weg lang genörgelt, dass das eine Schnapsidee von mir ist, aber was soll ich dir sagen? Ida hat uns ohne mit der Wimper zu zucken aufgenommen! Sogar ein eigenes Zimmer haben wir, unterm Dach. Die Matratzen konnten wir ja nicht mitnehmen, aber Ida hatte noch zwei alte Betten, die haben wir erst mal zusammengeschoben. Wird ein bisschen eng für uns alle, aber besser als draußen schlafen ist es allemal. Nun sag doch mal was! Ist das nicht wunderbar? Komm, es gibt auch bald was zu essen. Ich sag dir, die dicke Haushälterin kann kochen!« Er griff nach Prospers Arm, aber Prosper schüttelte den Kopf. »Nein!«, sagte er und machte sich los. »Ich bleib hier.« Riccio stieß einen tiefen Seufzer aus und warf einen Blick zum Himmel, als bitte er um Beistand von dort oben. »Prop!«, sagte er beschwörend. »Was meinst du, was der Portier macht, wenn er dich mitten in der Nacht vor dem Hotel herumlungern sieht? Der holt die Carabinieri. Und was willst du denen erzählen? Dass deine Tante deinen Bruder entführt hat?«

Prosper antwortete nicht. »Geh weg, Riccio«, sagte er, ohne die Augen von den Hotelfenstern zu wenden. »Alles ist kaputt. Wir haben kein Versteck mehr, Wespe ist weg und Bo ist bei Esther.«

»Wespe ist nicht weg!«, rief Riccio so laut, dass sich die Leute nach ihm umdrehten. Schnell senkte er die Stimme. »Sie ist nicht weg!«, flüsterte er. »Ida und der Schnüffler haben sie rausgeholt aus dem Waisenhaus, in das man sie gesteckt hatte!«

»Ida und Victor?« Ungläubig sah Prosper ihn an. »Ja, und weißt du was, sie haben richtig Spaß daran gehabt.

Du hättest die beiden sehen sollen, wie sie loszogen, eingehakt wie ein altes Ehepaar.« Riccio kicherte. »Der Schnüffler benimmt sich wie ein echter Gentleman, er hält Ida die Tür auf und hilft ihr in den Mantel. Nur die Zigaretten zündet er ihr nicht an, wegen dem Rauchen nörgelt er mit ihr rum.«

»Aber wie haben sie das geschafft?«

Riccio stellte zufrieden fest, dass Prosper das Hotel offenbar für ein paar Augenblicke vergessen hatte. »Wespe ist in das Waisenhaus der Barmherzigen Schwestern gebracht worden, in dem ist Ida doch auch mal gewesen«, erzählte er mit leiser Stimme. »Na, jedenfalls, sie spendet da wohl öfter Geld, sammelt Spielzeug, all so was. Victor sagt, die Nonnen haben sie wie die Jungfrau Maria behandelt und ihr alles geglaubt, was sie gesagt hat. Er brauchte nur daneben stehen und wichtig gucken.«

»Das ist wirklich eine gute Nachricht.« Prospers Blick kehrte zu den Fenstern zurück. »Grüß Wespe von mir. Geht es ihr gut?«

»Nein, tut es nicht!« Riccio stellte sich so, dass Prosper ihn einfach ansehen musste. »Weil sie sich nämlich um dich Sorgen macht. Um Bo auch, aber der wird wahrscheinlich nicht in die Lagune springen.«

»Glaubt sie etwa, dass ich so was vorhabe?« Ärgerlich stieß Prosper Riccio zurück. »So ein Blödsinn. Ich hab Angst vor Wasser.«

»Na, wunderbar, erzähl ihr das selber, bitte!« Riccio hob flehend die Hände vor Prospers Gesicht. »Ich hab sie nur kurz gesehen, als ich mir heute Mittag was zum Essen abgeholt hab. Dieses ganze Gesuche nach dir macht hungrig, weißt du, aber Wespe hat mich kaum fertig essen lassen.« Er verstellte seine Stimme. »>Nun geh schon, Riccio!<«, flötete er. »>Du musst doch gleich platzen, Riccio. Such Prosper. Bitte! Vielleicht hat er sich in irgendeinen Kanal geworfen!< Sogar mitkommen wollte sie, aber Ida hat gesagt, sie soll besser eine Weile im Haus bleiben, damit sie nicht gleich wieder im Heim landet. War mir nur recht, ihr Gerede hätte mich verrückt gemacht. Außerdem wusste ich ja, dass du irgendwann hier auftauchst.«

Riccio entdeckte ein Lächeln auf Prospers Gesicht, ein ganz kleines, aber es war da. »So«, sagte er. »Jetzt hab ich genug geredet. Morgen früh kannst du dich wieder hier hinstellen, aber jetzt kommst du mit.« Prosper antwortete nicht, aber er ließ sich von Riccio mitziehen, vorbei an den Andenkenständen, die überall auf der Riva degli Schiavoni standen. Viele Händler bauten ihre Stände um diese Zeit schon ab, aber an einigen konnte man noch etwas kaufen: die

Plastikfächer, die Bo so mochte, mit schwarzer Spitze und der Rialtobrücke darauf, Korallenketten, Gondeln aus goldfarbenem Kunststoff, Stadtführer, getrocknete Seepferdchen. Prosper folgte Riccio durch das Gedränge, aber immer wieder blieb er stehen und blickte zum Gabrielli Sandwirth zurück. Als Riccio ihn dabei ertappte, legte er ihm tröstend den Arm um die Schulter. Er musste sich etwas recken dafür, schließlich war er ein ganzes Stück kleiner als Prosper.

»Komm schon. Wenn Ida und Victor es geschafft haben, Wespe zurückzuholen«, sagte er, »dann schaffen sie es auch bei Bo, du wirst sehen!«

»Sie fliegen Anfang nächster Woche nach Hause«, sagte Prosper. »Was dann?«

»Das ist noch lange hin«, antwortete Riccio und schlug fröstelnd den Kragen hoch. »Außerdem sitzt Bo nicht im Gefängnis oder im Heim. Mann, das ist das Sandwirth. Das ist ein verdammt vornehmes Hotel.« Prosper nickte nur. Er fühlte sich so leer. Leer wie die großen Muscheln, die in Körben vor den Ständen lagen. Wunderschön sahen sie aus, nur ein winziges Loch in der schimmernden Schale verriet manchmal, dass ihnen irgendwer das Leben herausgesaugt hatte. »Warte mal, Prop.« Riccio war stehen geblieben. Über der Lagune verfärbte sich der Himmel. Es wurde dunkel, obwohl es gerade erst vier Uhr war. Ein paar Touristen standen wie gebannt am Kai und beobachteten, wie die untergehende Sonne das schmutzige Wasser mit Gold überzog.

»Was für eine Gelegenheit!«, flüsterte Riccio Prosper zu. »Bei dem Anblick merken die nicht mal, wenn ich ihnen die Schuhe klaue. Ich brauche bloß ein paar Sekunden. Guck dir die Muscheln an, bis ich zurück bin.«

Er drehte sich um, hatte schon sein unschuldigstes Ich- bin-nur-ein-magerer-Junge-und-kann-kein- Wässerchen-trüben-Gesicht aufgesetzt, als Prosper ihn am Kragen festhielt. »Lass das, Riccio«, sagte er ärgerlich, »oder glaubst du, Ida Spavento lässt dich in ihrem Haus schlafen, wenn die Carabinieri dich beim Klauen erwischen?«

»Du verstehst das nicht!« Gekränkt versuchte Riccio sich aus seinem Griff zu befreien. »Ich will nicht aus der Übung kommen.« Aber Prosper ließ ihn nicht los, und Riccio ging mit einem tiefen Seufzer weiter, während die Touristen den Sonnenuntergang bestaunten, ohne ihr Entzücken mit ihren Geldbörsen bezahlen zu müssen.



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