Was wollen die in der Basilika?, dachte Victor, als er beobachtete, wie Prosper und Mosca mit Scipio durch das Seitenportal verschwanden. Es war mehr als unwahrscheinlich, dass die drei sich die Mosaiken angucken wollten. Hoffentlich beklauen sie nicht die Touristen, dachte Victor, dann muss ich Prosper nachher bei den Carabinieri auslösen. Nun ja, Esther Hartlieb würde das vermutlich egal sein. Es würde nur beweisen, wie Recht sie mit ihrer schlechten Meinung über den älteren Sohn ihrer Schwester hatte. Wenn der Kleine als Dieb erwischt würde, wäre das für sie bestimmt ein schwererer Schlag.
Der Kleine. Unauffällig spähte Victor über seine Zeitung zum Löwenbrunnen hinüber. Prosper hatte ihn in der Obhut des Mädchens und des Igelkopfes zurückgelassen. Anscheinend traute er den beiden, sonst hätte er sie bestimmt nicht seinen kostbaren kleinen Bruder hüten lassen. Das Mädchen sprach mit Bo, offenbar versuchte sie ihn zum Lachen zu bringen, aber der Kleine guckte ziemlich mürrisch drein. Genau wie der Igelkopf. Der starrte so düster ins Brunnenwasser, als wollte er sich gleich darin ertränken.
Was mach ich nun?, dachte Victor. Er runzelte die Stirn und faltete die Zeitung zusammen. Ich könnte mir den
Kleinen schnappen, aber bevor ich meinen Detektivausweis herausziehen könnte, würde man mich vermutlich schon als Kindesräuber gelyncht haben. Nein, zu viele Menschen. Victor gestand es sich nicht ein, doch es gab noch einen anderen, ganz unvernünftigen Grund, aus dem er sich Bo nicht greifen wollte. Es war zu lächerlich, aber er wollte es Prosper einfach nicht antun, dass sein kleiner Bruder weg war, wenn er wieder aus der Basilika kam. Victor schüttelte den Kopf und seufzte.
Ich hätte den Auftrag nicht annehmen dürfen, dachte er. Was soll das noch werden? Beim Versteckspielen darf man kein Mitleid haben. Und beim Fangenspielen schon gar nicht. Schluss. Du wirst sie ja fangen!, raunte eine leise Stimme in seinem Kopf. Aber nicht hier, vor so vielen Zeugen, sondern in aller Stille. Ganz diskret. So etwas muss sorgsam vorbereitet sein. »Genau!«, brummte Victor. »Jetzt werde ich mir erst einmal ein paar Informationen beschaffen. Zum Beispiel über diese kleine Bande, mit der die beiden herumziehen.« Er zog sich die Schirmmütze etwas tiefer ins Gesicht, vergewisserte sich, dass der Film in seiner Kamera noch nicht voll war, und schlenderte hinaus auf den großen Platz. Nicht zu weit, nur gerade so weit, dass Bo ihn vom Löwenbrunnen aus sehen konnte.
Dann kaufte Victor sich bei einem der fliegenden Händler, die überall herumstanden, eine Tüte Futtermais, füllte sich die Jackentaschen mit den Körnern, griff mit beiden Händen hinein und stellte sich mit ausgestreckten Armen auf die Piazza. »Putt, puttputtputt!«, gurrte er und setzte sein harmlosestes Lächeln auf. »Kommt her, ihr kleinen Scheißer. Aber wehe, ihr kackt mir die Ärmel voll.«
Und sie kamen. Natürlich. Ein ganzer Schwarm Tauben erhob sich, eine Wolke aus grauen Federn und gelben Schnäbeln. Flügelschlagend schwenkten sie auf Victor zu und ließen sich auf ihm nieder, auf seinen Schultern, seinen Armen, sogar auf seinem Kopf, wo sie neugierig an seiner Mütze herumpickten. Angenehm war das nicht. Victor musste zugeben, er hatte etwas Angst vor allem, was flatterte und spitzschnabelig pickte. Aber wie sonst erregte man die Aufmerksamkeit eines fünf Jahre alten Jungen? Also lächelte Victor, gurrte und puttete - und beobachtete die Kinder am Brunnen.
Der Igelkopf hockte inzwischen schmollend ein Stück entfernt und starrte mit finsterer Miene in das Menschengetümmel. Das Mädchen steckte den Kopf in ein Buch. Und Bo langweilte sich. »Guck hierher, Kleiner!«, flüsterte Victor, während ihm die Tauben auf dem Kopf herumtrippelten. »Na los, guck schon rüber zu dem albernen Kerl, der nur für dich die Vogelscheuche spielt.« Bo zupfte an seinen gefärbten Haaren, rieb sich die Nase, gähnte - und dann, plötzlich, entdeckte er Victor. Victor, den Taubenständer. Bo warf dem Mädchen einen schnellen Blick zu, sah, dass sie völlig in ihr Buch vertieft war, und rutschte vom Brunnenrand. Na endlich! Victor stöhnte erleichtert auf und füllte die leer gepickten Hände mit neuen Körnern. Zögernd kam Bo auf ihn zugeschlendert. Sah sich ab und zu noch mal zu den anderen beiden um, schob sich an drei Mädchen vorbei, die kreischend ein paar Tauben aus ihren Haaren scheuchten - und blieb mit schief gelegtem Kopf vor Victor stehen.
Als die Taube auf Victors Kopf den Hals beugte und mit dem Schnabel gegen die Gläser seiner falschen Brille pickte, kicherte Bo. »Buon giorno«, sagte Victor und scheuchte das freche Vieh von seinem Kopf. Gleich ließ sich die nächste Taube darauf nieder.
Bo kniff die Augen zusammen und legte den Kopf auf die andere Seite. »Tut das weh?«
»Was?« »Na, die Krallen. Und wenn sie an deiner Brille pickt.« Das Italienisch, das der Kleine sprach, klang fast so gut wie Victors. Vielleicht sogar besser.
Victor zuckte die Schultern, die Tauben flatterten hoch - und ließen sich wieder nieder. »Ach«, brummte er. »So schlimm ist das nicht. Ich mag es, wenn sie so um mich herumflattern.« Was für eine dicke, fette, dreimal dreiste Lüge. Aber im Lügen war Victor schon immer gut gewesen. Schon als kleiner Junge. Als kleiner, viel zu kurz geratener Junge waren Lügen seine besten Freunde gewesen. »Weißt du«, sagte Victor, während Bo ihn musterte, »wenn all die Flügel um mich herumflattern, dann stelle ich mir vor, dass ich auch gleich losfliege. Bis rauf zu den goldenen Pferden da.« Bo drehte sich um und sah hinauf zu den stampfenden Hufen über dem Portal der Basilika. »Ja. Die sind toll, nicht? Ich würde so gern mal auf einem drauf sitzen. Wespe sagt, sie mussten ihnen die Köpfe abschneiden, um sie herzubringen. Als sie sie gestohlen hatten. Und dann haben sie sie ihnen verkehrt rum wieder angeklebt.«
»Ach ja?« Victor musste niesen, weil ihm eine Feder in die Nase geflogen war. »Ich finde, sie sehen eigentlich ganz richtig aus. Aber es sind sowieso Kopien. Die echten stehen längst im Museum, damit die Salzluft sie nicht noch mehr zerfrisst. Magst du Tauben?«
»Nicht besonders«, antwortete Bo. »Wegen dem Geflatter. Außerdem sagt mein Bruder, dass man Würmer kriegt, wenn man sie anfasst.« Er kicherte. »Jetzt hat dir eine auf die Schulter gekackt.« »Verdammte Viecher!« Victor riss die Arme so ärgerlich hoch, dass die Tauben davonflatterten. Fluchend wischte er sich mit einer alten Serviette den Vogeldreck von der Schulter. »Dein Bruder sagt das? Der scheint ja richtig gut auf dich aufzupassen.«
»Ja. Aber manchmal passt er ein bisschen viel auf.« Bo sah hoch zu den kreisenden Tauben, dann warf er einen Blick zurück zum Löwenbrunnen, wo das Mädchen immer noch in ihrem Buch las und der Igelkopf mit der Hand in dem schmutzigen Brunnenwasser herumrührte. Beruhigt drehte er sich wieder zu Victor um. »Kann ich auch ein bisschen Futter haben?«
»Sicher.« Victor griff in die Tasche und streute ihm ein paar Körner in die kleine Hand.
Vorsichtig streckte Bo den Arm aus - und zog erschrocken den Kopf ein, als eine Taube sich auf seinem Arm niederließ. Aber als sie anfing, die Körner aus seinen Fingern zu picken, lachte er. So ausgelassen, dass Victor für einen Moment vergaß, warum er da stand und Taubenfutter in den Händen hielt. Erst der Geruch von Haarspray, der ihm in die Nase zog, als eine junge Frau mit mürrischem Gesicht an ihm vorbeistöckelte, erinnerte ihn wieder an seinen Auftrag.
»Wie heißt du?«, fragte Victor und pflückte sich eine graue Feder von der Jacke. Vielleicht irre ich mich ja, dachte er. Diese runden Kindergesichter ähneln sich doch wie zehn Eier in einem Karton. Vielleicht sind die tintenschwarzen Haare echt, vielleicht ist der Kleine nur mit seinen Freunden hier und geht heute Abend zurück zu seiner Mutter. Sein Italienisch ist wirklich ziemlich gut. »Ich? Ich heiß Bo. Und du?« Bo kicherte, als die Taube seinen Arm hinauftrippelte.
»Victor«, antwortete Victor. Und hätte sich fast selbst geohrfeigt. Wieso, Teufel und Dämonen, sagte er dem Kleinen seinen wirklichen Namen? Hatten die Tauben ihm denn sein bisschen Verstand weggepickt?
»Bist du nicht noch etwas zu jung, Bo, um dich in diesem Gewimmel allein herumzutreiben?«, fragte er beiläufig und streute Bo noch ein paar Körner in die Hand. »Haben deine Eltern keine Angst, dass du zwischen all den Menschen verloren gehst?« »Mein Bruder ist doch hier«, antwortete Bo und beobachtete entzückt, wie eine zweite Taube sich auf seinem Arm niederließ. »Und meine Freunde auch. Wo kommst du her? Aus Amerika? Du redest komisch. Ein Venediger bist du jedenfalls nicht, oder?« Victor betastete seine Nase. Sie fühlte sich angepickt an. »Nein«, antwortete er und schob sich die Mütze zurecht. »Ich komm mal von hier, mal von da. Ein bisschen von überall. Wo kommst du her?« Victor sah zum Brunnen hinüber. Das Mädchen hatte den Kopf gehoben und sah sich suchend um.
»Von ziemlich weit weg«, sagte Bo. »Aber jetzt wohn ich hier.« Das »ziemlich« zog er ganz lang, als wollte er Victor damit verdeutlichen, wie weit entfernt dieser Ort war, von dem er kam. »Hier ist es viel schöner«, fügte er noch hinzu und lächelte die Tauben auf seinem Arm an. »Überall sind Löwen mit Flügeln und Drachen und Engel, die passen auf Venedig auf, sagt Prosper, und auf uns, aber viel aufzupassen gibt es da ja nicht, weil hier keine Autos fahren. Deshalb hört man auch besser. Das Wasser und die Tauben. Und man muss nie Angst haben, dass man überfahren wird.«
»Ja, das stimmt.« Victor verkniff sich ein Grinsen. »Man achtet einfach nur ein bisschen darauf, dass man in keinen Kanal fällt.« Er drehte sich um. »Dahinten am Brunnen - sind das deine Freunde?« Bo nickte.
»Ich glaube, das Mädchen sucht dich«, sagte Victor. »Wink ihr mal, sonst macht sie sich Sorgen.«
»Das ist Wespe.« Bo winkte ihr mit der taubenfreien Hand zu. Beruhigt setzte Wespe sich wieder auf den Brunnenrand. Aber sie klappte ihr Buch zu und ließ Bo nicht mehr aus den Augen. Victor beschloss, noch einmal den Taubenständer zu machen. Das war am unverdächtigsten. »Ich wohne in einem Hotel direkt am Canal Grande«, sagte er, während die Tauben sich wieder auf ihm niederließen. »Und du?«
»In einem Kino.« Bo fuhr erschrocken zurück, weil einer der Vögel sich in seinem Haar festkrallen wollte. »In einem Kino?« Ungläubig sah Victor auf ihn hinunter. »Beneidenswert. Da kannst du dir ja den ganzen Tag Filme ansehen.«
»Nein, das geht nicht. Der Projektor ist weg, sagt Mosca. Die meisten Stühle auch. Und die Leinwand haben die Motten so zerfressen, dass die nie mehr zu gebrauchen ist.«
»Mosca? Ist das auch einer von deinen Freunden? Wohnst du mit deinen Freunden zusammen?«
»Ja, wir wohnen alle zusammen.« Bo nickte stolz. Victor musterte ihn nachdenklich. Konnte das stimmen? Vielleicht tut der Zwerg nur so unschuldig!, dachte er. Und während ich auf sein Engelsgesicht hereinfalle, erzählt er mir faustdicke Lügengeschichten. Ein Haufen Kinder, die allein lebten? So was sollte es geben. Aber die hier sahen nicht so aus, als ob sie Hunger litten oder unter den Brücken schliefen. Gut, die Knie von Bos Hosen waren gestopft, und das nicht besonders geschickt, und den saubersten Pullover trug er nicht gerade, aber das kam auch bei anderen Kindern vor. Auf jeden Fall sah der Kleine aus, als ob ihm irgendjemand regelmäßig die Haare kämmte und die Ohren wusch. Sein Bruder?
Vielleicht erzählt er mir ja noch ein bisschen mehr, dachte Victor und ließ die Arme sinken. Enttäuscht flatterten die Tauben davon, und Victor rieb sich die schmerzenden Schultern. »Was meinst du, Bo?«, fragte er beiläufig. »Wollen wir zusammen da im Cafe ein Eis essen gehen?«
Bos Blick wurde misstrauisch. Auf der Stelle. »Ich geh nicht mit Fremden irgendwohin«, antwortete er verächtlich und machte einen Schritt zurück. »Nicht ohne meinen großen Bruder.«
»Natürlich nicht!«, sagte Victor schnell. »Sehr klug von
dir.« Das Mädchen am Brunnen hatte sich aufgerichtet. Sie zeigte in seine Richtung, und jetzt sah er, dass die anderen drei zurück waren. Der Maskierte trug einen Korb, und Prosper spähte mit besorgtem Gesicht zu Victor herüber.
Er kann mich nicht erkennen, dachte Victor, unmöglich. Ich hatte diesen Walrossbart im Gesicht. Aber unbehaglich fühlte er sich trotzdem. »Ich muss los, Bo!«, sagte er hastig, während Prosper mit misstrauischer Miene auf sie zusteuerte. »War nett, mit dir zu plaudern. Ich mach schnell noch ein Foto von dir. Zum Andenken, ja?«
Bo lächelte und stellte sich in Positur, immer noch eine Taube auf der Hand. Prosper beschleunigte seinen Schritt, als Victor die Kamera hob. Er rannte fast.
Victor drückte auf den Auslöser, spannte, fotografierte noch mal. »Danke, Kleiner. War nett, dich kennen zu lernen«, sagte er und fuhr Bo über das tintenschwarze Haar. Ja, es war gefärbt, kein Zweifel.
Nur noch wenige Schritte war Prosper entfernt. Er reckte sich, bahnte sich hastig einen Weg durch die Menschen, ohne Victor aus den Augen zu lassen. »Mach's gut und lass dich weiterhin nicht von Fremden zum Eis einladen!«, rief Victor Bo zu. Dann machte er schnell ein paar Schritte zurück, drängte sich in die nächste größere Gruppe, die über den Platz schlenderte, zog den Kopf ein und ließ sich mitziehen. Schon war er unsichtbar. Ja, auf diesem Platz konnte sich jeder unsichtbar machen, wenn er es etwas geschickt anstellte. Schnell stopfte Victor seine Mütze in die linke Hosentasche, nahm die Brille ab und fischte aus der rechten Tasche einen kleinen Bart und eine Sonnenbrille. Auf die Nase damit und dann vorsichtig und ohne Hast zurückgeschlendert zu der Stelle, wo die beiden Jungen immer noch in einem Schwarm von Tauben standen. Unauffällig schob Victor sich an den beiden vorbei, eingeklemmt zwischen fünf dicken alten Damen.
Diesmal werde ich mich nicht abhängen lassen, dachte er. O nein. Diesmal bin ich vorbereitet. Und wenn Prosper ihn doch erkannte? Unsinn. Wie sollte er ihn erkennen? Der Junge war doch kein Wunderknabe. Was für ein Junge war er eigentlich? Seine Tante wusste es bestimmt nicht. Esther Hartlieb interessierte nur der Kleine mit dem Engelsgesicht. Die zwei Brüder voneinander zu trennen fanden sie und ihr Mann vermutlich nicht schlimmer, als Eigelb von Eiweiß zu trennen. Durch die dunkle Sonnenbrille beobachtete Victor, wie Prosper den Arm um seinen kleinen Bruder legte und eindringlich auf ihn einredete, wie er ihm erleichtert durchs Haar fuhr und ihn dann mit sich zog, während er sich immer wieder umsah. Tatsächlich, der Teufelskerl war misstrauisch. Bei der Beschattung ist Vorsicht angesagt, mein Lieber!, dachte Victor, während er den beiden unauffällig folgte. Noch mal darfst du die Sache nicht vermasseln. Und was immer seine Tante von ihm sagt, das ist ein kluger Junge. Versteckt hinter einer Gruppe Japaner, die den Uhrturm anstaunte, zog Victor seine Jacke aus und wendete sie. Jetzt war sie grau statt rot. Als Victor hinter den Japanern auftauchte, stand Prosper mit Bo schon wieder bei den anderen. Die sechs redeten kurz miteinander, dann verschwanden sie in einer der Gassen, die auf den Platz führten.
»An die Arbeit, Herr Detektiv«, murmelte Victor. »Nun wollen wir doch mal sehen, wo diese Mäuse ihr Mauseloch haben.« Was er tun würde, wenn er herausgefunden hatte, wo sie sich versteckt hielten, darüber versuchte Victor noch nicht nachzudenken. Später, dachte er nur. Später. Und dann folgte er den Kindern in das Gewirr der Gassen.