Eine böse Ahnung

»Verdammt, Bo, kannst du nicht einmal das tun, was man dir sagt?«, schimpfte Scipio, als Prosper mit Bo zurückkam. »Ihr wart ewig lange weg!«, murrte Bo. »Da hab ich mich gelangweilt.« Er sah sich um, aber Victor, der Taubenmann, war nirgendwo zu entdecken. »Ich hatte ihn die ganze Zeit im Blick, Scip«, sagte Wespe. »Also reg dich nicht auf.«

»Was ist in dem Korb?« Bo schob neugierig die Finger unter den Deckel, aber Prosper zog seine Hand zurück. »Eine Brieftaube ist dadrin. Also lass die Finger davon, ja?«

»Kommt, lasst uns machen, dass wir ins Versteck kommen.« Scipio kehrte dem großen Platz den Rücken und winkte die anderen ungeduldig hinter sich her. »Ich habe heute nicht ewig Zeit.«

»Was ist mit dem Auftrag?«, rief Bo und hüpfte ihm aufgeregt hinterher. »Was ist es, was wir stehlen sollen?«

»Bo, verdammt noch mal!« Erschrocken hielt Mosca ihm den Mund zu. »Wir wissen es noch nicht, klar?« »Der Conte hat uns einen Umschlag gegeben«, erklärte Prosper Bo leise. »Aber Scipio will ihn erst öffnen, wenn wir im Versteck sind.«

»Und Scipio bestimmt hier nun mal«, murmelte Riccio.

Mit düsterem Gesicht, die Hände tief in den Hosentaschen, lief er neben den anderen her, als interessiere ihn die ganze Sache weniger als die Pflastersteine unter seinen Schuhen.

»Wie war denn eigentlich dieser Conte?« Wespe zupfte Scipio an seinem Zopf, obwohl sie wusste, dass er das hasste. »Erzählt mal ein bisschen, wenn wir schon nicht dabei sein durften. Wie sah er aus? Unheimlich?«

Mosca lachte. »Unheimlich? Keine Ahnung. Wir haben ihn nicht gesehen. Oder konntest du sein Gesicht sehen, Scip?« Scipio schüttelte nur den Kopf.

Prosper ging dicht hinter ihm, Bos Hand fest in seiner, und blickte immer wieder über die Schulter. »Scipio.« Prospers Stimme klang belegt vor Aufregung. »Du. du hältst mich wahrscheinlich für verrückt, aber.«, er sah sich noch einmal um, »dieser Kerl da auf dem Platz, der, der mit Bo geredet hat.«

»Ja?« Scipio drehte sich um. »Was war mit dem? Sah nach einem Touristen aus, wenn du mich fragst.«

»Ich weiß. Aber - Wespe hat dir doch auf dem Weg zur Basilika von diesem Detektiv erzählt, der mich und Riccio verfolgt hat.« Scipio runzelte die Stirn. »Ja, ja, ist eine ziemlich wilde Geschichte, wenn du mich fragst.«

»Aber sie stimmt. Dieser Kerl gerade.« Prosper suchte verzweifelt nach Worten, während Scipio ihn ungläubig ansah. »Ich glaube, das war er wieder. Er sah wirklich aus wie ein Tourist, aber als er weggelaufen ist, da.« »Was für ein Detektiv?«, unterbrach Bo seinen Bruder. Prosper warf ihm einen unglücklichen Blick zu. Sie kamen an eine Brücke und Scipio musterte kühl die Leute, die sich hinter ihnen die Stufen hinaufdrängten. »Du brauchst gar nicht so ungläubig zu gucken«, sagte Riccio. »Victor, der Schnüffler, verkleidet sich gern, vielleicht ist er es wirklich gewesen, und dann.«

»Der Taubenmann hieß auch Victor«, unterbrach Bo ihn und beugte sich über die Brückenbrüstung.

»Was?« Prosper drehte ihn unsanft zu sich herum. »Was hast du da gerade gesagt, Bo?« Unten auf dem Wasser schaukelten ein paar leere Gondeln. Ihre Führer warteten am Fuß der Brücke auf Kundschaft, und Bo beobachtete fasziniert, wie sie auf die

Vorbeikommenden einredeten.

»Er hieß auch Victor«, wiederholte Bo, ohne den Blick von den Gondolieri zu wenden. »Der Taubenmann.« Dann riss er sich von Prosper los und sprang die Brückenstufen hinunter, um zuzusehen, wie ein

Gondoliere sein Boot vom Kanalufer abstieß. Prosper blieb auf der Brücke stehen, wie angewurzelt. »Victor, der Schnüffler«, hauchte Riccio, stellte sich auf die Zehenspitzen und spähte besorgt in das Menschengewühl, das auf die Brücke zudrängte.

Prosper aber drehte sich um, lief Bo hinterher, zerrte ihn weg von den Gondeln, so hastig, dass Bo fast hinfiel, und lief mit ihm in die nächste Gasse.

»He, Prosper, warte!«, rief Scipio und stürmte den beiden nach. Schon nach wenigen Metern hatte er Prosper eingeholt. »Was soll das, so kopflos

loszurennen?«, schimpfte Scipio und hielt ihn am Arm fest. Bo machte sich von Prospers Hand los und stellte sich an Scipios Seite.

»Kommt mit!«, sagte der und schob die zwei ohne ein weiteres Wort in den nächsten Andenkenladen. Mosca, Riccio und Wespe drängten hinterher.

»Tut so, als ob ihr euch was anguckt!«, raunte Scipio, als die Verkäuferin argwöhnisch zu ihnen herübersah. »Wenn der Kerl auf dem Markusplatz wirklich dieser Detektiv war, dann nützt es doch nichts, einfach davonzulaufen«, sagte er leise zu Prosper. »Bei all den Menschen merkt ihr doch gar nicht, ob er euch folgt!« Er hockte sich vor Bo hin und legte ihm die Hände auf die Schultern. »Dieser Victor - hat er dich ausgefragt?«, fragte er. »Auf dem Platz, als ihr die Tauben gefüttert habt?«

Bo verschränkte die Arme hinter dem Rücken. »Er hat mich gefragt, wie ich heiße.«

»Hast du es ihm erzählt?« Zögernd nickte Bo.

Prosper stöhnte und fuhr sich mit der Hand übers Gesicht. »Was hast du ihm noch erzählt, Bo?«, flüsterte Wespe. Die Verkäuferin sah immer öfter zu ihnen herüber, aber zum Glück kam eine Gruppe Touristen herein und beschäftigte sie erst einmal.

»Ich weiß nicht mehr«, murmelte Bo, während er zu Prosper hochsah. »Kommt der Detektiv von Esther?« Seine Unterlippe begann zu beben.

Mit einem Seufzer richtete Scipio sich wieder auf und sah Prosper an. »Wie sieht dieser Detektiv aus? Victor, der Schnüffler.«

»Aber das ist es ja!« Prosper senkte die Stimme, als er merkte, wie die Touristen sich nach ihnen umdrehten. »Er sah diesmal ganz anders aus! Er hatte keinen Bart und eine Brille, und man sah seine Augen kaum, weil er eine Schirmmütze trug. Ich hab ihn nur erkannt, weil er weggelaufen ist. Er bewegt die Schultern so seltsam, wenn er läuft. Wie eine - Bulldogge.«

»Hm.« Scipio tastete nach dem Umschlag des Conte, der immer noch ungeöffnet in seiner Jacke steckte, und blickte nachdenklich durch das voll gestellte Ladenfenster nach draußen. »Falls es wirklich dieser Detektiv war«, murmelte er, »und er uns gefolgt ist, dann führen wir ihn direkt zu unserm Versteck, wenn wir ihn nicht loswerden.«

Unbehaglich sahen die anderen sich an. Mosca hob den Korb des Conte und lugte besorgt unter den Deckel. Die Taube wurde langsam unruhig in ihrem Gefängnis. »Wird Zeit, dass sie da mal rauskommt«, flüsterte Mosca. »Sie hat bestimmt Hunger. Wisst ihr, was so eine Taube frisst?« »Frag Bo, der hat die Viecher gerade dutzendweise gefüttert.« Scipio tastete noch einmal nach dem Umschlag in seiner Tasche. Für einen Moment dachte Prosper, dass er ihn öffnen wollte, aber zu seiner Überraschung schlüpfte Scipio plötzlich aus seiner Jacke, zog sich das Zopfband aus dem Haar und nahm Mosca die Schirmmütze vom Kopf.

»Was der Kerl kann, kann ich auch«, sagte er und setzte sich die Mütze auf. »Es ist nicht sonderlich schwer, anders auszusehen.« Er warf Prosper seine Jacke zu. »Du bleibst mit Bo hier. Falls dieser Schnüffler wirklich hinter euch her ist, wird er irgendwo da draußen stehen und warten, dass ihr wieder herauskommt. Stellt euch ruhig so ans Fenster, dass man euch durch die Scheibe sehen kann. Mosca, du bringst die Taube und den Umschlag schon mal ins Versteck.«

Mosca nickte und steckte den Briefumschlag des Conte vorsichtig in seine Hosentasche.

»Riccio, Wespe.« Scipio winkte die beiden zur Tür. »Wir sehen uns da draußen mal um, vielleicht entdecken wir den Kerl ja. Was hatte er an?«

Prosper überlegte. »Eine rote Jacke, helle Hosen und einen komischen karierten Pullover. Um den Hals hing ihm ein Fotoapparat.

Außerdem trug er eine dicke Brille und eine Schirmmütze, mit was drauf geschrieben, l love Venice, oder so was.«

»... und seine Uhr.« Bo kaute besorgt auf seinem Daumennagel herum. »Da war ein Mond drauf.«

Scipio runzelte die Stirn. »Gut. Alles gemerkt?«

Wespe, Mosca und Riccio nickten.

»Dann los.«

Nacheinander schlüpften die vier wieder nach draußen. Prosper und Bo sahen ihnen voll Sorge durchs Fenster nach.

»Er war aber nett«, murmelte Bo.

»Man merkt nicht gleich, ob jemand wirklich nett ist«, sagte Prosper. »Und ansehen tut man es auch niemandem. Wie oft muss ich dir das noch erzählen?«



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