Esther

Esther kam allein. Sie ging direkt an dem Cafe vorbei, in dem Prosper mit den anderen saß, ohne zu ahnen, wer ihr durch eins der Fenster nachblickte. Sobald die

Zeiger von Idas Küchenuhr auf drei zurückten, hatte Victor die Kinder aus dem Haus gescheucht, alle, bis auf Barbarossa.

»Was guckst du so?«, fragte Wespe, als sie merkte, wie Prosper durch die Scheibe nach draußen starrte.

»Sie ist wirklich gekommen«, antwortete Prosper, ohne Esther aus den Augen zu lassen.

»Deine Tante?« Neugierig lehnte Wespe sich über seine Schulter. »Das ist sie?« Prosper nickte.

»Wer?«, fragte Bo, den Mund voll Eiscreme. Einen Riesenbecher hatte er sich bestellt, den gleichen wie Riccio, nur dass der schon den zweiten verschlang. »Niemand«, murmelte Prosper und beobachtete, wie Esther auf Idas Haus zuging. Sie trug hohe Gummistiefel und von ihrem Schirm tropfte der Regen. »Ich hab sie mir ganz anders vorgestellt«, flüsterte Wespe Prosper zu. »Größer - und irgendwie finsterer.« »He, magst du dein Eis nicht, Prop?«, fragte Riccio und leckte sich etwas Schokoladeneis von der Nasenspitze. »Soll ich es essen?«

»Lass ihn in Ruhe, Riccio«, sagte Wespe.

Als Esther an der Tür von Idas Haus klingelte, öffnete ihr eine dicke, mürrisch dreinblickende Nonne, die sie wortlos anwies, ihr zu folgen. Fast eine Stunde hatte Ida betteln müssen, bis Lucia sich die geliehenen Nonnenkleider über den Kopf gezogen hatte, aber jetzt bot sie einen wirklich beeindruckend echten Anblick. Mit energischen Schritten führte sie ihren Gast zu dem Raum, der sonst als Wäschezimmer und Vorratslager diente. Lucias Bügelbrett, die Wasserflaschen und Mehlvorräte waren verschwunden, stattdessen standen ein Schreibtisch da, den Victor unter lautem Fluchen vom Dachboden heruntergeschleppt hatte, ein paar schlichte Stühle und ein großer Kerzenleuchter. Die kahlen weißen Wände schmückte nur das Bild der Madonna mit Kind, das sonst in Idas Küche hing.

»Signora Hartlieb, wie ich annehme«, sagte Ida und erhob sich hinter dem Schreibtisch, als Lucia Esther hereinließ. Neben Ida stand Victor, ohne Bart, ohne Verkleidung, einfach nur Victor, wie Esther ihn kannte. Ida dagegen trug, ebenso wie Lucia, die dunkle Tracht der Barmherzigen Schwestern. »Sag Signora Spavento, die Sachen müssen unbedingt noch vor der Dunkelheit zurück sein«, hatte die Nonne geflüstert, die Prosper die Kleider durchs Portal des Waisenhauses gereicht hatte. Und dabei hatte sie so schuldbewusst ausgesehen, als begehe sie ein Verbrechen. Aber was tat man nicht alles für die nette, großzügige Signora Spavento. »Setzen Sie sich doch bitte, Signora Hartlieb«, sagte Ida, als Esther zögernd auf sie zutrat, und wies mit ernstem Gesicht auf die angestaubten Stühle. »Ihr Mann konnte nicht kommen?«

»Nein, er hat beruflich zu tun und war unabkömmlich. Schließlich reisen wir übermorgen ab.«

Victor beobachtete, wie Esther Hartlieb sich setzte, den Rock über die Knie zog und sich unbehaglich in dem kahlen Raum umsah. Als sie seinen Blick bemerkte, nickte er ihr zu. »Signor Getz kennen Sie ja«, sagte Ida und nahm wieder hinter dem Schreibtisch Platz, »ich habe ihn hergebeten, nachdem die Polizei mir erzählt hatte, dass er von Ihnen mit der Suche nach Ihren Neffen betraut worden war. Im Übrigen ist er ein guter Freund des Klosters.«

Esther sah Victor an, als wäre sie nicht sicher, ob seine Anwesenheit gut oder schlecht für sie war. Dann drehte sie sich wieder zu Ida um.

»Warum haben Sie mich hergebeten?«, fragte sie und strich sich den Rock glatt.

»Nun, das ist doch wohl offensichtlich, Signora«, antwortete Ida nachsichtig. »Wir müssen uns um sehr viele Kinder kümmern, und das Geld, das uns dafür zur Verfügung steht, ist knapp bemessen, sehr knapp.

Wenn wir also, wie im Falle Ihrer Neffen, erfahren, dass es Angehörige gibt.«

»Ich bin nicht mehr bereit, mich um die beiden zu kümmern!«, unterbrach Esther sie schroff. »Ich war dazu bereit, doch der Kleine.«, sie griff sich nervös ans Ohrläppchen, ». sicherlich hat Signor Getz Ihnen bereits erzählt, was wir mit ihm durchmachen mussten. Vielleicht hat Bo Sie ja auch mit seinem Engelsgesicht getäuscht, aber ich bin geheilt. Er ist trotzig, launisch und bissig wie ein kleiner Hund. Kurz und gut.«, sie holte tief Luft, »es tut mir Leid, aber selbst meiner verstorbenen Schwester zuliebe bin ich nicht mehr bereit ihn aufzunehmen, und in unserer Familie gibt es auch sonst niemanden, der bereit wäre, einen der zwei Jungen zu nehmen. Wenn Sie also die beiden hier behalten können. schließlich wollten sie ja unbedingt in diese Stadt. Das wenige Geld, das ihre Mutter hinterlassen hat, stellt die Familie sicherlich gern Ihrem Waisenhaus zur Verfügung.« Ida nickte nur. Mit einem tiefen Seufzer faltete sie die Hände auf dem Schreibtisch. »Das ist wirklich alles sehr bedauerlich, Signora Hartlieb«, sagte sie und warf einen Blick zur Tür. Victor hatte es natürlich auch gehört. Auf dem Flur näherten sich Schritte, genau nach Plan. Dann klopfte es. Esther Hartlieb sah sich um.

»Ja, bitte?«, rief Ida.

Die Tür ging auf, und Lucia schob Barbarossa in den Raum. »Der Neue hatte schon wieder Ärger, Schwester!«, verkündete sie und musterte den Rotschopf, als betrachte sie eine haarige Spinne oder irgendein anderes beunruhigendes Tier. »Ich kümmere mich darum«, antwortete Ida, und Lucia verließ mit mürrischem Gesicht den Raum.

Klein und verloren blieb Barbarossa vor der Tür stehen. Als er Esther Hartliebs neugierigen Blick bemerkte, schenkte er ihr ein verzagtes Lächeln.

»Entschuldigen Sie, Signora Hartlieb«, sagte Ida. »Aber dieser Junge ist noch ganz neu bei uns und hat viel Kummer mit den anderen. Sie haben dich also schon wieder geärgert, Ernesto?« Barbarossa nickte und warf einen unauffälligen Seitenblick in Esthers Richtung. Dann schluchzte er los, erst leise, dann immer heftiger. »Hätten Sie wohl ein Taschentuch für mich, Mutter Ida?«, schniefte er. » Sie haben mir wieder meine Bücher weggenommen.«

»O nein!« Ida griff in ihre schwarze Tracht, aber Esther war schneller. Mit verlegenem Lächeln reichte sie Barbarossa ihr spitzenverziertes Taschentuch.

»Grazie, signora«, murmelte er und tupfte sich die Tränen von den langen Wimpern.

Victor warf einen unauffälligen Blick in Esthers Richtung und stellte fest, dass sie kaum die Augen von dem kleinen Rotschopf lassen konnte.

»Geh zu Schwester Caterina, Ernesto«, wies Ida Barbarossa an, »und richte ihr aus, dass sie den anderen deine Bücher wieder abnehmen soll. Außerdem soll sie sie zur Strafe auf ihre Zimmer schicken.« Barbarossa schniefte wohlerzogen leise in Esthers Taschentuch und nickte. Dann ging er mit zögernden Schritten zur Tür. »Mutter Ida?«, nuschelte er, als er schon die Hand auf der Klinke hatte. »Dürfte ich erfahren, wann wir endlich den Ausflug ins Accademia- Museum machen? Ich würde mir so gern noch einmal die Bilder von Tizian ansehen.«

Herrgott!, dachte Victor, nun trägt das Rotbärtchen aber wirklich zu dick auf! Doch Esthers verzückter Blick belehrte ihn eines Besseren. Offenbar wusste Barbarossa sehr genau, was er tat. »Tizian?«, fragte Esther und lächelte dem Kleinen zu. »Du magst die Gemälde von Tizian?« Barbarossa nickte.

»Ich mag sie auch sehr«, sagte Esther. Ihre Stimme klang plötzlich ganz weich, völlig anders, als Victor sie bislang gehört hatte. »Tizian ist mein Lieblingsmaler.« »Oh, tatsächlich, Signora?« Barbarossa strich sich die roten Locken aus dem Gesicht. »Dann haben Sie bestimmt schon sein Grab in der Frari-Kirche besucht, oder? Am besten gefällt mir das Bild, auf dem er sich selbst gemalt hat: wie er die Madonna darum anfleht, ihn und seinen Lieblingssohn vor der Pest zu verschonen. Haben Sie es gesehen?«

Esther schüttelte den Kopf.

»Sein Sohn ist trotzdem an der Pest gestorben«, fuhr Barbarossa fort. »Und Tizian auch. Wissen Sie, Signora, Sie sehen ihr ein bisschen ähnlich, der Madonna auf diesem Bild. Ich würde sie Ihnen gern einmal zeigen.« Bei allen geflügelten Löwen!, dachte Victor. Jetzt tropft ihm gleich das Schmalz von den Lippen, dem kleinen Schmeichler. Allerdings, wenn Victor sich recht erinnerte, sah die Madonna auf dem Bild ziemlich streng aus, vielleicht ähnelte sie Esther Hartlieb wirklich ein bisschen. Das Kompliment hatte seine Wirkung auf jeden Fall nicht verfehlt.

Rot wie Klatschmohn war Esther geworden, die spitznasige Esther. Wie ein kleines Mädchen saß sie auf der Kante ihres Stuhls und sah auf ihre Schuhspitzen. Dann drehte sie sich plötzlich zu Ida um.

»Wäre das möglich?«, stammelte sie. »Ich meine, Sie wissen, mein Mann und ich sind nur noch bis übermorgen in der Stadt, aber wäre es möglich, dass ich mit dem Kleinen.«

»Ernesto«, unterbrach Ida sie mit kühlem Lächeln. »Er heißt Ernesto.«

»Ernesto.« Esther wiederholte den Namen, als lutsche sie ein Honigbonbon. »Ich weiß, die Bitte ist etwas ungewöhnlich, aber - wäre es denkbar, dass ich Ernesto zu einem kleinen Ausflug einlade? Ich würde mir von ihm die Frari-Kirche zeigen lassen, wir könnten ein Eis essen gehen oder Boot fahren, und heute Abend würde ich ihn hierher zurückbringen.«

Schwester Ida hob die Augenbrauen. Victor fand, dass ihr Erstaunen wirklich sehr echt wirkte.

»Das ist in der Tat ein sehr ungewöhnliches Anliegen«, sagte Ida und wandte sich an Barbarossa, der immer noch mit der unschuldigsten Miene der Welt dastand, die Hände sittsam hinter dem Rücken verschränkt. Das Haar hatte er sich selbst gebürstet, so lange, bis es glänzte. »Was sagst du zu dem Angebot von Signora Hartlieb, Ernesto?«, fragte Ida. »Hättest du Lust, mit der Signora einen Ausflug zu machen? Du weißt, wir kommen frühestens in einer Woche dazu.«

Nun sag schon »ja«, Rotbärtchen, dachte Victor und ließ Barbarossa nicht aus den Augen. Denk an die harten Betten im Waisenhaus. Barbarossa sah zu Victor herüber, als hätte er seine Gedanken gelesen. Dann blickte er Esther an. Nicht mal ein kleiner Hund hätte einen treuherzigeren Blick zu Stande gebracht. »So ein Ausflug wäre wunderbar, Signora!«, sagte er und schenkte Esther ein Lächeln, das so klebrig süß wie Lucias Pudding war. »Das ist wirklich reizend von Ihnen, Signora Hartlieb«, sagte Ida und läutete die kleine Silberglocke, die vor ihr auf dem Tisch stand. »Ernesto hat es zurzeit nicht leicht hier. Was Ihre Neffen betrifft«, fügte sie hinzu, als Lucia wieder eintrat, »so muss ich Ihnen leider sagen, dass sie Sie nicht sehen wollen. Soll ich Schwester Lucia trotzdem bitten, sie herzuholen?« Das Lächeln auf Esthers Lippen verschwand sofort. »Nein, nein«, antwortete sie hastig. »Ich werde sie später besuchen, irgendwann, wenn ich wieder einmal in der Stadt bin.«

»Wie Sie meinen«, sagte Ida und wandte sich Lucia zu, die wartend in der Tür stand. »Helfen Sie Ernesto bitte dabei, sich zum Ausgehen fertig zu machen, Schwester. Signora Hartlieb hat ihn zu einem Ausflug eingeladen.« »Wie reizend von ihr«, brummte Lucia, während sie

nach Barbarossas Hand griff. »Da wollen wir dem Kleinen doch schnell noch mal den Hals und die Ohren waschen, nicht wahr?«

»Die sind gewaschen«, fuhr Barbarossa sie an und für einen Augenblick klang seine Stimme weder nett noch schüchtern. Doch Esther hatte davon nichts bemerkt. Ganz in Gedanken versunken saß sie da, auf dem harten Stuhl vor Idas Schreibtisch, und blickte zu dem Bild mit der Madonna hoch. Victor hätte drei falsche Bärte dafür gegeben, ihre Gedanken lesen zu können. »Hat der Junge noch Eltern?«, fragte Esther, als Lucia mit Barbarossa verschwunden war.

Ida schüttelte mit einem tiefen Seufzer den Kopf. »Nein, Ernesto ist der Sohn eines wohlhabenden Antiquitätenhändlers, der letzte Woche unter rätselhaften Umständen verschwunden ist. Die Polizei vermutet einen Bootsunfall auf der Lagune, vielleicht bei einem nächtlichen Jagdausflug. Seither ist der Junge bei uns. Seine Mutter hat den Vater schon vor Jahren verlassen und ist nicht bereit, sich um das Kind zu kümmern. Erstaunlich, nicht wahr? Er ist ein so entzückender Junge.«

»Allerdings.« Esther blickte zur Tür, als stünde Barbarossa immer noch dort. »Er ist so ganz anders als - als meine Neffen.«

»Verwandtschaft ist eben keine Garantie für Liebe«, stellte Victor fest. »Obwohl wir alle das gern glauben.« »Wie wahr, wie wahr!« Esther lachte, ein klitzekleines, freudloses Lachen. »Wissen Sie, ich hätte wirklich gern ein Kind, aber.«, sie blickte hinauf zur Decke, wo der Putz so brüchig aussah, als würde er ihr im nächsten Moment auf die wohl frisierten Haare rieseln, ». ich habe noch keines gefunden, das mich gern zur Mutter hätte. Sie sehen es ja an meinen Neffen. Die zwei halten mich, nehme ich an, für eine Art Hexe.« Wieder musterte sie die Decke. »Nein, vermutlich halten sie mich für etwas wesentlich Langweiligeres«, murmelte sie. Und lachte noch einmal ihr käferkleines, trauriges Lachen. »Ich wünschte wirklich, es gäbe irgendwo ein Kind, das zu mir passt.«

Victor und Ida wechselten einen verschwörerischen Blick. Esther brachte Barbarossa an diesem Abend sehr spät zurück. Prosper und Bo beobachteten vom Fenster des salotto, wie sie Seite an Seite über den Platz kamen: Barbarossa schleckte an einem riesigen Eis, ohne sich zu bekleckern. Bo hätte wirklich interessiert, wie er das fertig brachte. Esther war behängt mit voll gestopften Einkaufstüten, - aber ihre linke Hand hielt Barbarossas Hand und auf ihren Lippen lag ein glückliches Lächeln. »Guckt euch an, wie sie ihn anhimmelt!« Riccio beugte sich über Bos Schulter. »Und die ganzen Pakete, ich wette, die sind alle für ihn. Bereut ihr es immer noch nicht, dass ihr sie so vergrault habt, dass sie euch nicht mehr haben will?«

Bo schüttelte heftig den Kopf, aber Prosper musste an jemand anderes denken, der so ähnlich wie Esther ausgesehen hatte. Er war sehr froh, als Victor ihn aus seinen Gedanken schreckte. »Na, passen die beiden da unten nicht perfekt zusammen?«, raunte er Prosper ins Ohr. »Als wären sie füreinander gemacht, oder?« Prosper nickte.

»Nun komm schon. Pack das sorgenvolle Gesicht für eine Weile weg«, sagte Victor und gab ihm einen sachten Stoß in den Rücken. »Zwei Tage noch, dann fliegt eure Tante nach Hause. Und Bo wird nicht mit im Flugzeug sitzen.«

»Das glaub ich erst, wenn das Flugzeug in der Luft ist«, murmelte Prosper. Und während er zusah, wie Esther Barbarossa die Eiscreme vom Mund wischte, fragte er sich zum hundertsten Mal, wo Scipio steckte. Er hätte ihm zu gern erzählt, dass seine verrückte Idee tatsächlich zu funktionieren schien.

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