Der Einbruch


»Ihr glaubt das doch wohl nicht?«, rief Riccio, als sie Victors Gekritzel und das leere Klo entdeckten. »Wir müssen ihn sofort wieder einfangen.«

»Ach ja? Und wie?«, fragte Mosca und lugte durch die aufgebrochene Klotür. Auf der Decke, die sie ihrem Gefangenen über die Fliesen gelegt hatten, stand das Radio. Zusammengeschraubt. Nicht ein Teilchen lag noch daneben. Mosca ging hin und drehte an den Knöpfen, während die anderen immer noch vor Victors Gekritzel standen.

»Bleibt uns gar nichts anderes übrig als zu glauben, was da steht«, sagte Wespe. »Oder willst du dir jetzt gleich ein neues Versteck suchen, Riccio?«

»Und den Einbruch, den Handel mit dem Conte, willst du das alles etwa vergessen, bloß weil dieser Schnüffler es sagt?«

»Nein, will ich nicht. Aber von dem Einbruch erfährt er doch sowieso erst, wenn die Sache gelaufen ist. Und wir sind dann mit dem Geld längst verschwunden. Irgendwohin.«

»Irgendwohin.« Riccio starrte Victors Gekritzel an. Dann drehte er sich abrupt um und verschwand durch die Tür zum Kinosaal. Wespe wollte ihm nach, aber Prosper hielt sie zurück. »Warte mal«, sagte er. »Ihr wollt den Flügel immer noch rauben? Habt ihr denn gar nichts begriffen? Scipio ist noch nie irgendwo eingebrochen!«

»Wer redet denn von Scipio?« Wespe verschränkte die Arme. »Wir werden die Sache ohne Scipio machen. Jetzt doch erst recht. Wovon sollen wir leben, wenn der Herr der Diebe keine Beute mehr bringt, und damit ist ja jetzt wohl Schluss, oder? Dem Conte kann doch egal sein, wer ihm den Flügel beschafft. Und wenn wir die fünf Millionen haben, dann brauchen wir niemanden mehr, keine Erwachsenen und schon gar keinen Herrn der Diebe. Vielleicht.«, Wespe musterte noch einmal Victors Abschiedsnachricht, »vielleicht sollten wir es gleich morgen Nacht erledigen. Je eher, desto besser. Was denkst du? Willst du nicht doch mitmachen?«

»Und was wird mit Bo?« Prosper sah sie an und schüttelte den Kopf. »Nein. Wenn ihr unbedingt euren Hals riskieren wollt, in Ordnung. Ich wünsch euch Glück. Aber ich werde nicht mitmachen. In zwei Tagen kommt meine Tante nach Venedig. Bis dahin haben Bo und ich die Stadt verlassen. Ich versuch, uns auf irgendein Schiff zu schmuggeln. Oder in ein Flugzeug. Irgendwas, was uns weit weg bringt. Das haben andere auch schon geschafft. Vor ein paar Tagen stand so was in der Zeitung.«

»Ja, und ich ärgere mich, dass ich es dir vorgelesen habe. Verstehst du denn nicht?« Wespes Stimme klang zornig, aber in ihren Augen standen Tränen. »Das ist noch viel verrückter, als in ein fremdes Haus zu schleichen! Wir gehören doch jetzt alle zusammen, du und Bo und Riccio und Mosca - und ich. Wir sind doch jetzt so was wie eine Familie, da.«

»He, Leute, kommt doch mal her!«, rief Mosca aus dem Männerklo. »Ich glaub, dieser Schnüffler hat das Radio tatsächlich repariert! Sogar das Kassettenteil funktioniert wieder.«

Aber Wespe und Prosper beachteten ihn nicht. »Überleg es dir doch noch mal!«, sagte Wespe, und ihre Stimme klang so flehend, dass es Prosper wehtat. »Bitte.« Dann drehte sie sich um und lief Riccio nach.

Das Abendessen fiel aus. Keiner von ihnen hatte Hunger. Nur Bo verschlang zwei Schüsseln voll pappiger Cornflakes, während seine Kätzchen um ihn herumschnurrten und hastig vom Boden schleckten, was er verschüttete. Mosca tauchte überhaupt nicht auf. Er hatte sich eine Angel geschnappt und sein Radio und war nach draußen an den Kanal gegangen, wo sein Boot lag, das immer noch dringend einen Anstrich brauchte. Riccio hatte sich so tief in seinen Schlafsack vergraben, dass nicht einmal mehr die Haare herausschauten, und Prosper versuchte alle quälenden Gedanken aus seinem Kopf zu vertreiben, indem er den Taubendreck von den Sitzen und vom Boden schrubbte. Die Taube des Conte beobachtete ihn dabei. Mit schief gelegtem Kopf hockte sie in dem Korb, den sie ihr aufgehängt hatten, und blickte zu ihm herunter. Wespe lag auf ihrer Matratze und las einen von den Krimis aus Victors Regal, aber irgendwann merkte sie, dass sie dieselbe Seite schon dreimal gelesen hatte, klappte das Buch zu und half Prosper wortlos beim Saubermachen. Als Bo müde wurde, las Wespe ihm eine Gutenachtgeschichte vor und schlief anschließend mit ihm im Arm ein. Riccio schnarchte schon zwischen seinen Stofftieren, aber Mosca war noch nicht wieder aufgetaucht, als Prosper unter seine Decke kroch. Eine Weile lag er wach da und dachte nach, über Ehrenworte und Lügen, über Väter und Tanten, über Freundschaft und ein Zuhause und blinde Passagiere. Er drehte sich auf die Seite und betrachtete Wespe und Bo, wie sie aneinander geschmiegt schliefen, und Riccio, der in seinem Schlafsack vor sich hinmurmelte, und er fühlte sich geborgen, trotz allem, was an diesem scheußlichen Tag passiert war. Aber als er den anderen den Rücken zuwandte, da griff die Dunkelheit nach ihm; sie drückte ihm die schwarzen Finger auf die Augen, bis er sich so furchtbar verloren fühlte, dass er sich das Kissen über den Kopf zog. Als er endlich einschlief, träumte Prosper, er wäre mit Bo wieder in dem Zug, mit dem sie nach Venedig gekommen waren. Sie wollten sich einen Platz suchen, aber jedes Mal, wenn Prosper eine Abteiltür aufschob, saß Esther dahinter. Er rannte mit Bo den engen Zuggang hinunter, öffnete immer neue Türen, und hinter jeder wartete Esther und griff nach Bo. Prosper hörte sein Herz schlagen und Bo hinter sich rufen, aber er konnte nicht verstehen, was er rief. Bo schien sich immer weiter zu entfernen, obwohl Prosper seine Hand hielt. Dann versperrte plötzlich Victor ihnen den Gang. Und als Prosper sich umdrehte und verzweifelt die nächste Tür aufzerrte, um ihm zu entkommen, da war dahinter nichts als Dunkelheit, eiskalte, pechschwarze, bodenlose Dunkelheit, und bevor er zurückweichen konnte, stürzte er schon hinein. Und Bo war nicht mehr bei ihm.

Nass geschwitzt fuhr Prosper hoch. Um ihn herum war es dunkel. Dunkel und kalt. Aber nicht so kalt wie in seinem Traum. Prosper tastete nach der Taschenlampe, die er immer neben seinem Kissen liegen hatte, und knipste sie an. Wespes Matratze war leer. Sie war nicht mehr da und Bo auch nicht. Erschrocken sprang Prosper auf, lief zu Riccios Matratze und zerrte den Schlafsack auf. Nichts als schmutzige Stofftiere. Und unter Moscas Decke lag nur sein Radio.

Sie waren fort. Alle fort. Mit Bo.

Prosper wusste sofort, wo sie waren. Trotzdem stolperte er durch die Dunkelheit zu dem Schrank, in dem Mosca alles gesammelt hatte, was sie für den Einbruch besorgt hatten: ein Seil, die Grundrisse, Wurst für die Hunde, Schuhcreme, um sich die Gesichter zu schwärzen - es war alles verschwunden.

Wieso haben sie Bo mitgenommen?, dachte Prosper verzweifelt, während er sich anzog. Wie konnte Wespe das zulassen?

Der Mond stand hoch über der Stadt, als Prosper aus dem Kino stolperte. Menschenleer lagen die Gassen da und über den Kanälen hing in grauweißen Schwaden der Nebel.

Prosper rannte. Seine Schritte hallten so laut auf dem Pflaster, dass er selbst erschrak. Er musste die anderen einholen, bevor sie über die Mauer kletterten, bevor sie sich in das fremde Haus schlichen. Bilder drängten sich in seinen Kopf, Bilder von Polizisten, die einen strampelnden Bo davontrugen, die Wespe und Mosca mitnahmen und Riccio ins Igelhaar griffen.

Die Accademia-Brücke war glitschig vom Nebel, und hoch über dem Canal Grande rutschte Prosper aus und schlug sich das Knie auf. Aber er rappelte sich wieder auf und rannte weiter, über leere Plätze, vorbei an schwarz in den Himmel ragenden Kirchen. Für ein paar wirre Augenblicke kam es Prosper vor, als wäre er aus der Zeit gefallen. Ohne Menschen sah die Stadt so alt aus, so ururalt. Als er den Ponte dei Pugni erreichte, bekam er kaum noch Luft. Keuchend stieg er die Stufen hinab, lehnte sich gegen die Brüstung und starrte auf die Fußabdrücke im steinernen Boden der Brücke. Von Riccio wusste er, dass hier früher jedes Jahr Faustkämpfe stattgefunden hatten, zwischen den Vertretern des Ost- und des Westteils der Stadt. Die Kämpfe hatten immer im Wasser geendet, und meist war es sehr blutig dabei zugegangen. Die Abdrücke hatten den kämpfenden Männern gezeigt, wo sie sich aufstellen mussten.

Prosper rang nach Atem und lief mit zitternden Beinen weiter. Nur noch durch die Gasse dort, dann stolperte er auf den Campo Santa Margherita. Das Haus von Ida Spavento lag auf der rechten Seite, fast am Ende des

Platzes. Keins der Fenster war erleuchtet. Prosper lief auf die Haustür zu und lauschte. Nichts. Natürlich nicht. Sie wollten ja über die Gartenmauer steigen. Prosper versuchte ruhiger zu atmen. Wenn der Eingang zu der Gasse, die dorthin führte, nur nicht so unheimlich ausgesehen hätte. Von dem steinernen Torbogen grinsten Fratzen auf Prosper herab, und als der Mond zwischen den Wolken hervorkam und alles in sein blasses Licht tauchte, schienen sie lebendig zu werden und Grimassen zu schneiden. Da kniff Prosper einfach die Augen zu und stolperte blind weiter, die Finger an der kalten Wand. Nur ein paar Schritte in die pechschwarze Finsternis und es wurde wieder heller. Die Gartenmauer der Casa Spavento erhob sich grau zwischen den eng stehenden Häusern, und obendrauf hockte eine dunkle Gestalt. Prosper spürte Wut und Erleichterung zugleich, als er sie entdeckte.

Die Knie zitterten ihm, das Atmen schmerzte. Seine Schritte hallten laut durch die Stille. Erschrocken blickte die Gestalt auf der Mauer zu ihm herunter. Es war Wespe, er erkannte sie trotz ihres geschwärzten Gesichts.

»Wo ist Bo?«, stieß Prosper hervor und hielt sich die schmerzenden Seiten. »Warum habt ihr ihn mitgenommen? Hol ihn sofort zurück!«

»Beruhige dich!«, zischte Wespe zu ihm hinunter. »Wir haben ihn nicht mitgenommen! Er ist uns einfach nachgeschlichen. Und dann hat er gedroht, dass er den ganzen Campo Santa Margherita wachschreit, wenn wir ihm nicht über die Mauer helfen! Was sollten wir denn machen? Du weißt doch, wie stur er sein kann.«

»Er ist schon drin?« Prosper erstickte fast an seiner Angst. »Fang!« Wespe warf ihm das Seil zu, das sie gerade eingeholt hatte. Ohne nachzudenken schlang Prosper sich das Ende um sein Handgelenk und kletterte zu ihr hinauf. Die Mauer war hoch und schartig und er schürfte sich die Hände an den Steinen wund. Als er sich endlich über den Sims zog, holte Wespe das Seil wortlos ein und half ihm, sich in den fremden Garten hinunterzulassen. Sein Mund war trocken vor Angst, als er den Fuß der Mauer erreichte. Wespe warf ihm das Seilende zu und sprang ihm nach.

Trockenes Laub raschelte unter ihren Schuhen, als sie an winterkahlen Beeten und leeren Blumenkübeln vorbei zum Haus schlichen. Mosca und Riccio machten sich schon an der Küchentür zu schaffen. Mosca war kaum zu entdecken in der Dunkelheit und Riccio hatte sich das Gesicht geschwärzt wie Wespe. Bo versteckte sich erschrocken hinter Moscas Rücken, als er Prosper sah. »Ich hätte dich bei Esther lassen sollen!«, zischte Prosper. »Verdammt, was hast du dir dabei gedacht, Bo?« Bo biss sich auf die Lippen. »Ich wollte aber mit«, murmelte er. »Wir beide verschwinden hier wieder«, sagte Prosper leise. »Komm mit.« Er versuchte Bo hinter Moscas Rücken hervorzuziehen, aber Bo schlüpfte ihm unter den Fingern weg. »Nein, ich bleib hier!«, rief er so laut, dass Mosca ihm erschrocken die Hand auf den Mund presste. Riccio und Wespe guckten besorgt zu den Fenstern im obersten Stock hinauf, aber sie blieben dunkel. »Lass ihn, Prosper, bitte!«, flüsterte Wespe. »Es wird schon alles gut gehen.«

Langsam nahm Mosca seine Hand von Bos Mund. »Mach das nicht noch mal, klar?«, raunte er. »Ich dachte, ich fall tot um vor Schreck.«

»Sind die Hunde da?«, fragte Prosper.

Wespe schüttelte den Kopf. »Gehört haben wir sie jedenfalls noch nicht«, flüsterte sie.

Riccio kniete sich mit einem Seufzer wieder vor die Küchentür. Mosca leuchtete ihm mit seiner Taschenlampe. »Verdammt, das Schloss ist so rostig, dass es klemmt!«, schimpfte Riccio leise. »Ach, deshalb brauchen sie keinen Riegel«, murmelte Mosca. Wespe beugte sich zu Prosper, der mit dem Rücken an der Mauer des fremden Hauses lehnte und zum Mond hinaufstarrte. »Du brauchst nicht mit reinzukommen«, flüsterte sie. »Ich pass schon auf Bo auf.«

»Wenn Bo reingeht, geh ich auch«, antwortete Prosper. Mit einem Stoßgebet stieß Riccio die Tür auf. Mosca und er schlüpften als Erste hinein, dann Bo, dann Wespe. Nur Prosper zögerte einen Moment, doch dann folgte er den anderen. Die Geräusche eines fremden Hauses umfingen sie. Eine Uhr tickte, der Kühlschrank brummte. Mit einem Gemisch aus Scham und Neugier schlichen sie weiter. »Macht die Tür zu!«, flüsterte Mosca.

Wespe ließ ihre Taschenlampe über die Wände schweifen. Ida Spaventos Küche hatte nichts Besonderes an sich. Töpfe, Pfannen, Gewürzgläser, eine Espressokanne, ein großer Tisch, ein paar Stühle.

»Soll einer von uns als Wache hier bleiben?«, fragte Riccio leise. »Wozu?« Wespe öffnete die Tür zum Flur und lauschte. »Die Polizei wird wohl kaum über die Gartenmauer kommen. Geh du voran!«, flüsterte sie Mosca zu. Mosca nickte und schob sich aus der Tür.

Sie führte hinaus auf einen engen Flur, genau wie auf dem Grundriss eingezeichnet, und schon nach wenigen Metern stießen sie auf die Treppe, die nach oben führte. Neben den Stufen hingen Masken an der Wand, unheimlich sahen sie aus im Licht der Taschenlampen. Eine ähnelte der, die Scipio immer trug. Die Treppe endete vor einer Tür. Mosca öffnete sie einen Spaltbreit, lauschte und winkte die anderen dann auf einen Flur hinaus, der etwas breiter war als der im Erdgeschoss. Zwei Deckenlampen beleuchteten ihn matt. Irgendwo pochte eine Heizung, sonst war alles still. Mosca legte warnend den Finger an die Lippen, als sie an der Treppe vorbeikamen, die nach oben führte. Besorgt blickten sie die schmalen Stufen hinauf.

»Vielleicht ist ja doch keiner zu Hause«, flüsterte Wespe. Das Haus kam ihr so ausgestorben vor mit all den stillen, dunklen Zimmern. Hinter den ersten beiden Türen waren ein Bad und eine winzige Abstellkammer, das wusste Mosca von dem Grundriss, den der Conte ihnen gegeben hatte.

»Aber jetzt wird es interessanter«, flüsterte er, als sie vor der dritten Tür standen. »Das müsste der salotto sein. Vielleicht hat Signora Spavento den Flügel ja übers Sofa gehängt.« Er wollte gerade die Hand auf die Klinke legen, als jemand die Tür öffnete. Mosca stolperte gegen die anderen, so erschrocken fuhr er zurück. Doch in der offenen Tür stand nicht Ida Spavento, sondern Scipio.

Der Scipio, der ihnen vertraut war. Er trug seine Maske, die hochhackigen Stiefel, die lange schwarze Jacke und dunkle Lederhandschuhe.

Riccio starrte ihn nur entgeistert an, aber Moscas Gesicht wurde starr vor Ärger. »Was machst du hier?«, fuhr er Scipio an. »Was macht ihr hier?«, zischte Scipio zurück. »Das ist mein Auftrag.«

»Halt bloß den Mund!« Mosca gab ihm einen Stoß vor die Brust, dass Scipio zurückstolperte. »Du verlogener Bastard! Du hast uns wirklich fein an der Nase herumgeführt. Der Herr der Diebe! Für dich ist das hier vielleicht ein Abenteuerspiel, aber wir brauchen das Geld, klar? Und deshalb werden wir den Flügel für den Conte stehlen. Sag schon, ist er dadrin?« Scipio zuckte nur die Schultern.

Mosca schob ihn unsanft zur Seite und verschwand in dem dunklen Zimmer.

»Wie bist du hier eigentlich reingekommen?«, knurrte Riccio Scipio an.

»Das war nicht besonders schwer, sonst wärt ihr ja wohl auch nicht hier«, antwortete Scipio spöttisch. »Und ich sag es jetzt noch mal. Ich bringe dem Conte den Flügel. Nur ich. Ihr kriegt euren Anteil, wie jedes Mal, aber jetzt verschwindet.«

»Du verschwindest«, sagte Mosca und tauchte wieder hinter ihm auf. »Sonst erzählen wir deinem Vater, dass sein feiner Sohn sich nachts in fremde Häuser schleicht!« Seine Stimme war so laut geworden, dass Wespe sich zwischen die zwei drängte. »Schluss jetzt!«, flüsterte sie. »Habt ihr vergessen, wo wir hier sind?« »Du kannst dem Conte sowieso nichts bringen, Herr der Diebe«, raunte Riccio Scipio gehässig zu. »Nicht mal eine Nachricht kannst du ihm schicken, weil wir nämlich seine Taube haben.« Scipio presste die Lippen zusammen. An die Taube hatte er offenbar nicht gedacht.

»Kommt«, raunte Mosca, ohne Scipio noch eines Blickes zu würdigen. »Lasst uns weitersuchen. Ich nehm mit Prosper die linke Tür, Riccio und Wespe die rechte.«

»Und wehe, du kommst uns in die Quere, Herr der Diebe!«, fügte Riccio hinzu.

Scipio antwortete nicht. Reglos stand er da und sah ihnen nach. Mosca, Riccio und Wespe waren schon hinter den Türen verschwunden, als Prosper sich noch mal umdrehte. Scipio stand immer noch da und rührte sich nicht.

»Geh nach Hause, Scip«, sagte Prosper leise. »Die anderen sind ziemlich wütend auf dich.«

»Ziemlich«, murmelte Bo und musterte Scipio mit besorgtem Gesicht.

»Und ihr?«, fragte Scipio. Als Prosper nicht sofort antwortete, drehte er sich mit einem Ruck um und lief zu der Treppe, die nach oben führte.

»Seht euch das an«, flüsterte Mosca, als Prosper Bo durch die offene Tür schob. »Laboratorio stand auf dem Grundriss, und ich hab mich gefragt, was das heißen soll. Es ist ein Fotolabor! Mit allem Drum und Dran.«

Bewundernd ließ er seine Taschenlampe durch den Raum streifen. »Scip ist nach oben gegangen«, sagte Prosper. »Was?«, fragte Mosca entgeistert und fuhr erschrocken herum, als Riccio und Wespe sich durch die Tür schoben. »Drüben im Esszimmer ist der Flügel auch nicht«, flüsterte Wespe. »Wie sieht es hier aus?«

»Scipio ist nach oben gegangen«, zischte Mosca. »Wir müssen ihm nach!«

»Nach oben?« Riccio fuhr sich durch das struppige Haar. Davor hatten sie alle Angst gehabt: dass sie hinauf in das Stockwerk schleichen mussten, wo die Besitzerin des Hauses ahnungslos in ihrem Bett lag und schlief.

»Der Flügel muss oben sein«, flüsterte Mosca. »Und wenn wir uns nicht beeilen, kriegt der Herr der Diebe ihn vor uns!«

Unschlüssig standen sie in dem dunklen Fotolabor und sahen sich an. »Mosca hat Recht«, murmelte Wespe. »Ich hoffe nur, die Treppe knarrt nicht so wie die andere.« Da ging plötzlich das Licht an. Rotes Licht. Erschrocken drehten die Kinder sich um. Jemand stand in der Tür, eine Frau in einem dicken Wintermantel, mit einer Jagdflinte unter dem Arm.

»Entschuldigt«, sagte Ida Spavento und richtete die Flinte auf Riccio, wohl, weil er ihr am nächsten stand. »Habe ich euch eingeladen?«

»Bitte! Bitte, nicht schießen!«, stammelte Riccio und streckte die Arme in die Höhe. Bo war schon hinter Prosper und Wespe verschwunden.

»Oh, ich habe eigentlich nicht vor zu schießen«, sagte Ida Spavento. »Aber ihr könnt es mir nicht verdenken, dass ich erst mal die alte Flinte geholt habe, als ich euer Geflüster gehört habe. Da gehe ich endlich mal wieder aus, und was finde ich bei meiner Rückkehr? Eine Bande kleiner Diebe, die mit Taschenlampen in meinem Haus herumschleicht! Ihr könnt froh sein, dass ich nicht gleich die Carabinieri gerufen habe.«

»Bitte! Rufen Sie nicht die Polizei!«, flüsterte Wespe. »Bitte nicht.«

»Na ja, vielleicht nicht. Ihr seht nicht sehr gefährlich aus.« Ida Spavento ließ die Flinte sinken, zog eine Schachtel Zigaretten aus der Manteltasche und steckte sich eine zwischen die Lippen. »Hattet ihr es auf meine Fotoapparate abgesehen? Die könnt ihr doch draußen auf den Gassen leichter bekommen.«

»Nein, wir. wollten nichts Wertvolles stehlen, Signora«, sagte Wespe mit stockender Stimme, »wirklich nicht.«

»Ach, nein? Was dann?«

»Den Flügel«, stammelte Riccio. »Und der ist ja nur aus Holz.« Er hielt die Hände immer noch hoch, obwohl der Gewehrlauf nur auf seine Füße gerichtet war.

»Den Flügel?« Ida Spavento lehnte das Gewehr an die Wand im Flur.

Mit einem erleichterten Seufzer ließ Riccio die Hände sinken, und Bo traute sich zögernd hinter Prospers Rücken hervor. Ida Spavento musterte ihn mit gerunzelter Stirn. »Na, da ist ja noch einer«, sagte sie. »Wie alt bist du? Fünf? Sechs?«

»Fünf«, murmelte Bo und starrte sie argwöhnisch an. »Fünf. Madonna! Ihr seid wirklich eine sehr junge Diebesbande.« Ida Spavento lehnte sich gegen den Türrahmen und sah sie einen nach dem anderen an. »Was mach ich jetzt mit euch? Brecht in mein Haus ein, wollt mich bestehlen. Was wisst ihr von dem Flügel? Und wer hat euch erzählt, dass ich ihn habe?«

»Sie haben ihn also wirklich?« Riccio sah sie mit großen Augen an.

Ida Spavento antwortete nicht. »Was wolltet ihr mit ihm?«, wiederholte sie und klopfte die Asche von ihrer Zigarette. »Jemand hat uns beauftragt, ihn zu stehlen«, murmelte Mosca. Ida Spavento sah ihn ungläubig an.

»Beauftragt? Wer?«

»Das verraten wir nicht!«, sagte eine Stimme hinter ihr. Überrascht drehte Ida Spavento sich um. Aber ehe sie wusste, wie ihr geschah, griff Scipio nach ihrer Flinte und richtete den Lauf auf sie.

»Scipio, was machst du?«, rief Wespe entgeistert. »Stell sofort das Gewehr zurück!«

»Ich hab den Flügel!«, sagte Scipio, ohne die Flinte zu senken. »Er hing oben im Schlafzimmer. Also kommt und lasst uns verschwinden.«

»Scipio? Wer ist das nun schon wieder?« Ida Spavento trat ihre Zigarette auf dem Boden aus und verschränkte die Arme. »In meinem Haus wimmelt es ja heute Nacht von ungebetenen Gästen. Eine interessante Maske trägst du da, mein Lieber, so eine ähnliche habe ich auch, nur dass ich sie selten bei Einbrüchen benutze. Aber jetzt stell das Gewehr weg.« Scipio machte einen Schritt zurück.

»Um diesen Flügel ranken sich seltsame Geschichten«, sagte Ida Spavento. »Hat euer Auftraggeber sie euch erzählt?« Scipio beachtete sie nicht. »Wenn ihr jetzt nicht kommt, dann geh ich allein!«, rief er den anderen zu. »Mit dem Flügel. Und das Geld, das ich dafür bekomme, werd ich auch nicht mit euch teilen.« Die Flinte bebte in seinen Fingern. »Kommt ihr jetzt endlich?«, rief er noch einmal. Da machte Ida Spavento einen Schritt auf ihn zu, packte den Gewehrlauf und zog Scipio die Flinte mit einem Ruck aus der Hand. »Schluss jetzt!«, sagte sie. »Das Ding funktioniert sowieso nicht. Und jetzt gib mir meinen Flügel zurück.« Scipio hatte den Flügel in eine Decke eingeschlagen und ihn in Ida Spaventos Badezimmer versteckt, als er die Stimmen auf dem Flur hörte.

»Wir hätten ihn gehabt!«, murmelte er mit düsterer Miene, als er ihr das Bündel vor die Füße legte. »Wenn diese Dummköpfe nicht wie versteinert dagestanden

hätten.« Verächtlich blickte er zu den anderen hinüber, die dicht zusammengedrängt vor der Tür zum Fotolabor standen. Riccio senkte als Einziger zerknirscht den Kopf. Die anderen erwiderten feindselig Scipios Blick. »Halt bloß den Mund! Du bist doch total übergeschnappt!«, knurrte Mosca. »Hier mit einem Gewehr rumzufuchteln.«

»Ich hätte doch nicht geschossen!«, schrie Scipio ihn an. »Ich wollte doch nur, dass wir das Geld kriegen. Ich hätte euch auch alles gegeben. Du hast selbst gesagt, ihr braucht es.«

»Das Geld? Ach ja, natürlich.« Ida Spavento ging in die Hocke und schlug die Decke auseinander, mit der Scipio den Flügel umwickelt hatte. »Wie viel wollte euer Auftraggeber euch denn, wenn ich fragen darf, für meinen Flügel zahlen?«

»Sehr, sehr viel«, antwortete Wespe.

Zögernd trat sie neben die fremde Frau. Da lag der Flügel. Vor ihren Füßen. Die weiße Farbe war verblichen und brüchig, wie bei dem Flügel, dessen Foto der Conte ihnen gegeben hatte. Doch auf diesem waren überall noch Sprengsel von Gold zu entdecken. »Verratet mir seinen Namen.« Ida Spavento schlug die Decke wieder zusammen und richtete sich mit dem Bündel auf. Die Flügelspitze ragte noch aus der Decke. »Ihr verratet mir den Namen eures Auftraggebers und ich erzähle euch, warum er viel Geld für ein Stück Holz bezahlen wollte.«

»Wir wissen seinen Namen nicht«, antwortete Riccio. »Er nennt sich der Conte.« Mosca rutschten die Worte raus, ohne dass er wusste, warum. Er erntete dafür einen finsteren Blick von Scipio. »Was guckst du so, Herr der Diebe?«, fuhr er ihn an. »Warum sollten wir es ihr nicht sagen?«

»Der Herr der Diebe.« Ida Spavento hob die Augenbrauen. »Oh! Da muss ich mich wohl geehrt

fühlen, dass du dich in mein Haus geschlichen hast, was?« Sie warf Scipio einen spöttischen Blick zu. »Na gut, ich brauche jetzt einen Kaffee. Ich vermute, es wartet niemand voll Sorge darauf, dass ihr nach Hause kommt, oder?« Fragend sah sie die Kinder an.

Keiner antwortete ihr. Nur Wespe schüttelte den Kopf. »Nein«, sagte sie leise.

»Gut, dann leistet mir Gesellschaft«, sagte Ida Spavento, »und wenn ihr wollt, erzähle ich euch eine Geschichte. Von einem verlorenen Flügel und einem Karussell. - Dir auch«, sagte sie, als sie an Scipio vorbeiging. »Aber vielleicht hat der Herr der Diebe ja noch etwas Besseres zu tun?«



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