Nicht einer wollte im Kino bleiben, selbst Riccio nicht, obwohl er während des ganzen Weges verkündete, wie schändlich er es fand, Scipio nachzuspionieren. Mosca hatte Victor eingeschlossen, dann waren sie losgelaufen. Und da standen sie nun, vor dem Haus, dessen Adresse Victor genannt hatte: Fondamenta Bollani 233. Auf so ein herrschaftliches Haus waren sie nicht gefasst gewesen. Eingeschüchtert blickten sie hinauf zu den hohen, spitzbogigen Fenstern. Sie fühlten sich klein und schäbig, eingeschüchtert. Nur zögernd traten sie auf den Eingang zu, dicht aneinander gedrängt. »Wir können da doch nicht einfach klingeln!«, flüsterte Wespe. »Aber einer muss klingeln!«, zischte Mosca. »Vom Rumstehen erfahren wir bestimmt nicht, was der Schnüffler gemeint hat.« Keiner rührte sich. »Ich sag es noch mal. Scipio wird schäumen vor Wut, wenn er merkt, dass wir ihm nachspionieren!«, flüsterte Riccio. Unbehaglich musterte er das goldene Namensschild neben dem Portal. Massimo stand in verschnörkelten Buchstaben darauf. »Lassen wir Bo klingeln«, schlug Wespe vor. »Bo ist am unverdächtigsten. Oder?«
»Nein. Ich mach's!« Prosper schob Bo hinter sich und drückte, ohne lange zu überlegen, auf den goldenen
Knopf. Zweimal. Er hörte, wie die Klingel drinnen durchs Haus schrillte. Die anderen versteckten sich zu beiden Seiten des vergitterten Portals. Als ein Mädchen mit schneeweißer Schürze hinter dem Eisengitter erschien, stand nur Prosper auf der Schwelle, hinter sich Bo, der dem Mädchen verlegen zulächelte.
»Buona sera, signora«, sagte Prosper. »Ist.«, er blickte zu dem steinernen Wappen hoch, »kennen Sie zufällig einen Jungen, der Scipio heißt?«
Das Mädchen runzelte die Stirn. »Was soll das? Ist das ein dummer Scherz? Was wollt ihr von ihm?« Missbilligend musterte sie Prosper vom Kopf bis zu den staubigen Schuhen. So fleckenlos wie ihre weiße Schürze war seine Hose nicht. Und an seinem Pullover klebte etwas Taubendreck.
»Dann - dann ist es richtig?« Prospers Zunge fühlte sich plötzlich an wie etwas Fremdes in seinem Mund. »Er wohnt hier? Scipio?«
Der Gesichtsausdruck des Mädchens wurde noch abweisender. »Ich glaube, ich hole besser Dottor Massimo«, sagte sie, doch da schob Bo sich hinter Prospers Rücken hervor. »Scipio will uns aber bestimmt sehen«, sagte er. »Wir sollten uns heute mit ihm treffen.«
»Treffen?« Das Mädchen blickte immer noch misstrauisch, aber als Bo sie anlächelte, stahl sich auch auf ihren Mund die Spur eines Lächelns. Ohne ein weiteres Wort öffnete sie das schwere Gitter. Prosper zögerte einen Atemzug, doch Bo huschte wie ein Wiesel über die Schwelle. Bevor Prosper ihm folgte, erhaschte er noch einen besorgten Blick von Wespe. Das Mädchen führte die beiden Jungen durch eine dunkle, säulengeschmückte Eingangshalle in den Innenhof des Hauses. Bo steuerte sofort auf die Freitreppe zu, die in den ersten Stock hinaufführte, aber das Mädchen hielt ihn sanft, aber entschieden zurück. »Ihr wartet hier unten«, sagte sie und zeigte auf eine steinerne Bank am Fuß der Treppe. Dann stieg sie, ohne ihnen noch einen Blick zuzuwerfen, die steilen Stufen hinauf und verschwand oben hinter der Brüstung.
»Vielleicht ist es ein ganz anderer Scipio!«, flüsterte Bo Prosper zu. »Oder er hat sich hier eingeschlichen, um das Haus später in Ruhe auszurauben.«
»Vielleicht«, murmelte Prosper und sah sich unbehaglich um, während Bo zu dem Brunnen in der Mitte des Hofes lief. Zehn Minuten können sehr lang sein, wenn man mit klopfendem Herzen dasitzt und wartet - auf etwas, das man nicht versteht, auf etwas, das man eigentlich nicht wissen will. Bo schien das Ganze nicht sonderlich zu bedrücken, er war glücklich damit, die Löwenköpfe am Brunnen zu betasten und die Hände in das kalte Wasser zu stecken. Aber Prosper fühlte sich furchtbar. Belogen, verraten. Was tat Scipio in diesem Haus? Wer war er? Als Scipio endlich oben hinter der Treppenbrüstung erschien, starrte Prosper zu ihm hoch wie zu einem Geist. Und Scipio starrte zurück, das Gesicht blass und fremd. Dann kam er mit bleischweren Schritten die Treppe herunter. Bo lief ihm entgegen. »Na, Scip?«, sagte er und blieb am Fuß der Treppe stehen. Aber Scipio antwortete nicht. Auf der letzten Stufe zögerte er und sah Prosper an.
Schweigend erwiderte Prosper seinen Blick, bis Scipio den Kopf senkte. Als er ihn wieder hob, um etwas zu sagen, erschien ein Mann oben an der Treppe, groß und hager, mit den gleichen dunklen Augen, wie Scipio sie hatte. »Was machst du noch hier?«, rief er mit gelangweilter Stimme.
»Hast du heute nicht Nachhilfeunterricht?« Er streifte Bo und Prosper mit einem kurzen, irritierten Blick. »Erst in einer Stunde«, antwortete Scipio, ohne zu seinem Vater hochzusehen. Seine Stimme klang anders als sonst, als wäre er nicht sicher, ob er die richtigen Worte finden würde. Kleiner kam er Prosper auch vor, aber vielleicht lag das an dem riesigen Haus oder daran, dass er seine hochhackigen Stiefel nicht trug. Er war gekleidet wie eins der reichen Kinder, die man manchmal durch die Fenster der vornehmen Restaurants sah, wie sie dasaßen, stocksteif, und mit Messer und Gabel aßen, ohne sich zu bekleckern. Bo erfüllte das immer mit großer Bewunderung. »Was steht ihr da herum?« Scipios Vater winkte ungeduldig mit der Hand, als wären die drei Jungen lästige Vögel, die ihm das Pflaster verschmutzten. »Geh mit deinen Freunden auf dein Zimmer. Du weißt genau, dass der Hof kein Kinderspielplatz ist.«
»Sie. gehen gleich wieder«, antwortete Scipio mit belegter Stimme. »Sie wollten mir bloß. was bringen.« Aber sein Vater hatte sich schon umgedreht. Schweigend beobachteten die Jungen, wie er wieder hinter einer Tür verschwand. »Du hast einen Vater, Scip?«, flüsterte Bo ungläubig. »Hast du auch eine Mutter?«
Scipio schien nicht zu wissen, wo er hingucken sollte. Unruhig fingerte er an seiner feinen seidenen Weste herum. Dann nickte er. »Ja, aber sie ist viel unterwegs.« Er sah Prosper ins Gesicht - und schaute wieder weg. »Guck mich nicht so an. Ich kann das alles erklären. Ich hätte es euch sowieso bald gesagt.«
»Du kannst es uns jetzt gleich allen erklären«, antwortete Prosper und griff nach Scipios Arm. »Komm, die anderen warten draußen. Und sie frieren bestimmt schon.« Er wollte den Herrn der Diebe mit zur Tür ziehen, aber Scipio machte sich los und blieb am Fuß der Treppe stehen.
»Der verdammte Schnüffler hat mich verraten, stimmt's?«
»Wenn du uns nicht belogen hättest, hätte er nichts zu verraten gehabt«, antwortete Prosper. »Los, komm.« »Ich hab gleich Unterricht, du hast es doch gehört!« Scipios Stimme klang trotzig. »Ich erkläre euch später alles. Heute Abend. Heute Abend kann ich mich freimachen. Mein Vater fährt weg. Und das mit dem Einbruch.«, er senkte die Stimme, »... das bleibt wie abgesprochen. Schon morgen Nacht können wir es tun. Habt ihr das Haus beobachtet, wie ich gesagt habe?« »Hör auf, Scip!«, fuhr Prosper ihn an. »Ich wette, du hast noch nie in deinem Leben was gestohlen.« Er sah, wie Scipio einen erschrockenen Blick nach oben warf. »Wahrscheinlich stammt deine ganze Beute aus diesem Haus, stimmt's?«, fragte Prosper mit gedämpfter Stimme. »Wie konntest du den Auftrag des Conte annehmen? Du bist doch garantiert noch nie irgendwo eingebrochen! Wenn du so geheimnisvoll im Versteck aufgetaucht bist, hast du dich da mit einem Schlüssel durch irgendeine Tür reingeschlichen, die wir nicht kennen? Der Herr der Diebe! Mein Gott, waren wir blöd!« Verächtlich verzog Prosper den Mund, aber er fühlte sich ganz taub vor Enttäuschung und Traurigkeit. Bo klammerte sich an seine Hand, während Scipio nicht wusste, wo er hinschauen sollte.
»Komm jetzt!«, sagte Prosper noch mal. »Komm mit raus zu den anderen.« Er drehte sich um, doch Scipio stand immer noch wie angewurzelt da.
»Nein«, sagte er, »ich erklär euch später alles. Jetzt hab ich keine Zeit.« Dann drehte er sich um und lief die Treppe hinauf, so hastig, dass er fast stolperte. Aber er sah sich nicht ein einziges Mal um.
Mosca, Riccio und Wespe warteten immer noch neben dem Portal, als Prosper mit Bo herauskam. Fröstelnd lehnten sie an der Mauer, mit bedrückten Gesichtern. »Na, bitte!«, rief Riccio, als Prosper und Bo allein aus dem Haus traten. »Es war nicht unser Scipio!« Er konnte seine Erleichterung kaum verbergen. Doch plötzlich machte er ein erschrockenes Gesicht.
»Verflucht, wir müssen schnell zurück zum Versteck! Versteht ihr denn nicht? Das war ein Trick von dem Schnüffler, um uns wegzulocken, damit er ausreißen kann!«
»Sei doch mal still, Riccio«, sagte Wespe und sah Prosper an. »Also?«
»Victor hat uns nicht belogen«, sagte Prosper. »Lasst uns hier verschwinden.« Und ehe die anderen noch etwas fragen konnten, steuerte er auf die nächste Brücke zu.
»He, warte doch!«, rief Mosca ihm nach, aber Prosper ging so schnell, dass die anderen ihn erst am anderen Kanalufer einholten. Neben dem Eingang eines Restaurants blieb er stehen und lehnte sich gegen die Mauer.
»Was ist passiert?«, fragte Wespe besorgt, als sie neben ihm stand. »Du siehst ja aus wie der Tod höchstpersönlich!« Prosper schloss die Augen, damit die anderen seine Tränen nicht sahen. Er spürte, wie Bo ihm die Hand streichelte, ganz sacht, mit seinen kurzen Fingern. »Versteht ihr denn nicht? Ich sag doch, der Schnüffler hat nicht gelogen!«, stieß er hervor. »Der Einzige, der gelogen hat, ist Scipio. Er wohnt in dem Palast da, Bo und ich haben seinen Vater gesehen. Sie haben ein Dienstmädchen und einen Hof mit einem Brunnen. Der Herr der Diebe! Weggelaufen aus dem Waisenhaus. All sein geheimnisvolles Getue, sein >Ich- komm-allein-zurecht<, sein >Ich-brauch-keine- Erwachsenen<-Gerede, alles Lüge! Nichts als Lüge! Mann, er hat wirklich seinen Spaß gehabt mit uns. He, ein bisschen Waisenkind spielen, das ist abenteuerlich! Und wie wir ihn angehimmelt haben.« Prosper fuhr sich mit dem Ärmel übers Gesicht. »Aber die Beute.« Moscas Stimme war kaum hörbar. »Ach ja, die Beute.« Prosper lachte spöttisch. »Wahrscheinlich hat er die Sachen seinen Eltern gestohlen. Der Herr der Diebe - der Herr der Lügner ist er.«
Riccio stand da wie jemand, den man verprügelt hatte. »Er war da? Du - hast ihn gesehen?«, fragte er.
Prosper nickte. »Ja, er war da. Aber er war zu feige rauszukommen.« Bo schob den Kopf unter Wespes Arm. Die anderen sagten kein Wort. Wespe blickte hinüber zur Casa Massimo, wie sie dastand und sich im Kanalwasser spiegelte. Hinter einigen Fenstern brannte Licht, obwohl es noch früh am Nachmittag war. Es war ein düsterer, grauer Tag. »Ist doch nicht so schlimm, Prop«, sagte Bo und sah seinen großen Bruder besorgt an. »Ist doch nicht so schlimm.«
»Lasst uns nach Hause gehen«, murmelte Wespe. Und das taten sie. Den ganzen Rückweg sprach keiner von ihnen ein Wort.