Victor wartet

Victor saß auf dem Markusplatz, umgeben von hundert Tischen und tausend Säulen, und trank seine dritte Tasse Espresso. Schwarz mit drei Würfeln Zucker. Schwer umzurühren in der winzigen Tasse. Und so teuer, dass er besser nicht darüber nachdachte. Seit mehr als einer Stunde saß er auf dem harten, kalten Stuhl und musterte die Gesichter der Leute, die sich an seinem Tisch vorbeidrängten. Victor trug natürlich nicht den Bart, den er getragen hatte, als Prosper in ihn hineingestolpert war. Auf einen falschen Bart hatte er diesmal ganz verzichtet, aber auf seiner Nase klemmte eine dicke Brille aus Fensterglas, mit der er etwas beschränkt und völlig harmlos aussah. Zufrieden blickte er an sich herunter. Perfekt, dachte er, perfekte Tarnung: Victor, der Tourist. Schirmmütze, großer Fotoapparat vor der Brust. Es war eine seiner

Lieblingsverkleidungen. Als Tourist konnte er seelenruhig Fotos schießen, ohne dass irgendjemand das verdächtig fand. Oder sich unter eine dieser Reisegruppen mischen, die vom Schiff stolperten, fünf Stunden durch die Stadt liefen und dabei alles fotografierten, was alt aussah und ein bisschen Gold am Giebel hatte. Ja, so gefällt mir die Arbeit!, dachte Victor und blinzelte in die tief stehende Sonne. Ihre Strahlen ließen die Fenster der Basilika glitzern, als schmelze das Glas in der Sonne. Auf dem Dachfirst reckten sich die Engel, Gold auf den Flügeln, dem Himmel entgegen, und über dem Haupteingang, zwischen hundert gleißenden Sternen, spreizte sich der geflügelte Löwe. Die meisten Menschen, die zum ersten Mal aus den engen Gassen auf den Markusplatz traten, sahen sich zuerst so verblüfft um, als hätten sie einen märchenhaften Ort wie diesen höchstens in ihren Träumen erwartet. Manche blieben wie verzaubert stehen, als wollten sie niemals mehr weitergehen. Andere bekamen ihre Kindergesichter zurück, während sie hinaufstarrten zu dem funkelnden Glas und dem Löwen zwischen den Sternen. Nur ganz wenige taten so, als berühre sie dies Übermaß an Schönheit nicht, und schlenderten weiter mit steinernen Gesichtern, stolz, dass nichts auf der Welt sie mehr zum Staunen brachte. Victor war nie sicher, ob er diese Leute bedauern oder fürchten sollte. Während er seinen Kaffee umrührte, mit einem Löffel, der viel zu klein für seine Finger war, traten unzählige Menschen auf den Markusplatz, und Victor musterte sie geduldig, einen nach dem anderen. Aber die zwei Gesichter, die er suchte, waren nicht dabei. Tja, wahrscheinlich vertraue ich meinem Glück doch etwas zu sehr, dachte Victor, putzte sich die Nase, die sich schon bedrohlich kalt anfühlte, und bestellte bei dem vorbeihastenden Ober noch einen Kaffee. Immerhin war das Herumsitzen besser als das endlose Gerenne der letzten Tage. Bei den Carabinieri war er gewesen, in den Waisenhäusern, Krankenhäusern, am Bahnhof. Er hatte mit Bootsführern und Vaporettokontrolleuren gesprochen, ihnen das Bild von Prosper und Bo unter die Nase gehalten und zähneknirschend das hundertste Kopfschütteln hingenommen. Wenn Prosper ihn nicht umgelaufen hätte, Victor hätte langsam Zweifel daran gehabt, dass die beiden Brüder jemals in Venedig gelandet waren.

Schluss. Victor spürte schon wieder, wie der Ärger über die verpasste Gelegenheit ihm den Magen zusammenzog. Ja, ja, er hätte nur zupacken müssen, zack, und schon hätte er den Jungen gehabt! Schwamm drüber. Victor tupfte sich gelangweilt einen Klecks Kaffee auf die Nasenspitze. Einem Mann am Nachbartisch gefielen solche Späße offenbar nicht, missbilligend musterte er Victor über seine Zeitung hinweg. Victor schnitt ihm eine Grimasse und wischte sich mit dem Ärmel den Kaffee von der Nase. Schluss mit den Albernheiten. Es wurde Zeit, dass er wieder ans Geldverdienen dachte. Eine von seinen Schildkröten war erkältet, nieste ständig, das arme Ding, und Tierärzte waren teuer. Eine Taube trippelte unter Victors Tisch, eine von den Tausenden, die auf dem Platz herumpickten, und zupfte an seinen Schuhriemen. Als er die Jackentasche umdrehte und ihr die Krümel seines Frühstücksbrotes vor den hektischen Schnabel schüttelte, kackte sie ihm zum Dank auf die Schuhspitze. Was für ein Tag. Victor stieß einen tiefen Seufzer aus und sah auf seine Uhr. Kurz vor drei. Wird Zeit, dass ich was anderes als Kaffee in den Magen bekomme, dachte er und musste sich schon wieder die kalte Nase putzen. Da entdeckte er plötzlich sechs Kinder drüben auf der anderen Seite des Platzes, bei den Tischen des gegenüberliegenden Cafes. Sie fielen Victor auf, weil sie es offenbar sehr eilig hatten und weil der Junge, dem die anderen folgten, als wäre er ihr Anführer, eine dunkle Maske trug, die ihm das Aussehen eines kleinen Raubvogels gab. Sie gingen Richtung Basilika. Ein Mädchen war auch dabei und ein ziemlich kleiner Junge, aber er war nicht blond. Victor hob die Zeitung und beobachtete die Kinder unauffällig über den Rand hinweg. Der Magere mit den struppigen Haaren, der dicht hinter dem Anführer ging, kam ihm bekannt vor, aber ehe Victor ihn sich genauer ansehen konnte, waren die sechs plötzlich verschwunden, verschluckt von einer riesigen kanadischen Reisegruppe mit grellroten Rucksäcken. Ein ganzes Vaporetto hätte man mit diesen Leuten füllen können. Geht zur Seite, ihr Wandervögel!, knurrte Victor und reckte ärgerlich den kurzen Hals. Da. Dahinten waren sie wieder: vier Jungen und ein Mädchen, den maskierten Anführer nicht mitgezählt. Und da war auch das magere Bürschchen, das ihm so bekannt vorkam. Verflixt noch mal, diese struppigen Igelhaare. natürlich! Victor stand auf. Seine vier Kaffees hatte er schon bezahlt, ein Detektiv zahlt immer sofort. Schließlich soll ein Verdächtiger nicht entkommen, weil der Ober keine Zeit hat. Victor schlenderte Richtung Basilika und suchte sich in ihrer Nähe einen neuen Tisch, ohne die Kinder dabei aus den Augen zu verlieren.

Ja, er ist es!, dachte Victor und rückte sich die falsche Brille zurecht. Das ist der Junge, der mit Prosper zusammen war. Und der. »Dreh dich um!«, murmelte Victor und beobachtete den dunkelhaarigen Jungen, der jetzt etwas zurückblieb, durch den Sucher seines Fotoapparats. Wie fürsorglich er seinen Arm um den Kleinsten gelegt hatte. Ja, das musste er sein, Prosper. »Guck rüber zu mir!«, zischte Victor. »Guck schon her, bitte, Prosper!« Am Tisch rechts von ihm drehte sich eine Frau um und sah misstrauisch zu ihm herüber. Victor lächelte ihr verlegen zu. Warum konnte er es sich bloß nicht abgewöhnen, mit sich selbst zu sprechen?

Da. Endlich. Der Dunkelhaarige sah sich um. »Verdammt, er ist es!« Triumphierend trommelte Victor mit den Fingern auf den Tisch. »Prosper, der Glückliche. Tja, mein Junge, soeben verlässt dich dein Glück, und Victor wird es aufsammeln. Hast du dir die Haare geschnitten? Tut mir Leid, aber so etwas kann Victor nicht täuschen. Und was ist mit dem Kleinen, um den du so brüderlich den Arm legst? Der ist ja so schwarzhaarig, als wäre er in ein Fass Tinte gefallen.«

Tinte. Natürlich.

Victor summte vergnügt vor sich hin, während er ein Foto nach dem anderen machte, von der Basilika, von dem geflügelten Löwen und - den beiden Brüdern. Einmal am Tag kommt jeder in Venedig auf den Markusplatz. Man muss nur Geduld haben. Geduld.

Sitzfleisch. Glück. Einen ganzen Sack voll Glück. Und gute Augen.

Es fehlte nicht viel und Victor hätte zu schnurren begonnen wie ein fetter, zufriedener Kater.

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