10

Diesmal verschwendete ich meinen kostbaren Vorteil nicht. Ich sprang direkt auf ihn zu und hieb mit aller Kraft auf das Gelenk der Hand, die die Spritze hielt.

Ein direkter Schlag. Die Hand flog nach hinten, die Finger öffneten sich, und die Spritze wirbelte durch die Luft.

Ich trat ihn gegen das Schienbein und boxte ihm in den Magen, und als sein Kopf wieder nach vorn kam, packte ich zu und schleuderte ihn mit lautem Krachen gegen die Wand.

Buckram schlug Krach und stampfte ungehindert durch die Box, da Gummigesicht nicht versucht hatte, ihm das Halfter anzulegen. Als Gummigesicht mit wirbelnden Fäusten auf mich zu stürzte, griff ich nach seinen Kleidern und warf ihn gegen Buckram, der mit den Zähnen nach ihm schnappte.

Ein gedämpftes Geräusch kam durch den Gummi, aber ich lehnte es ab, dies als Friedensgesuch anzusehen. Nachdem er sich von dem Pferd befreit hatte, kam er wieder auf mich zu, die Schultern hochgezogen, den Kopf gesenkt, die Arme nach vorn gestreckt. Ich marschierte ihm direkt entgegen, ignorierte einen heftigen Hieb in meine Rippen, legte meinen Arm fest um seinen Hals und ließ seinen Kopf gegen die nächste Wand krachen. Die Beine wurden zu Gummi, passend zum Gesicht, und die Lider schlossen sich bleich über den Augenhöhlen. Ich stieß ihn mit einem weiteren kleinen Rums nochmals gegen die Wand, um alle möglicherweise noch verbliebenen Zweifel auszulöschen, und trat einen Schritt zurück. Er lag kläglich in der Ecke zwischen Fußboden und Wand, und eine Hand zuckte langsam vor und zurück über das Stroh.

Ich band Buckram fest, der durch irgendein Wunder nicht durch die unverriegelte Tür ins Freie gestürmt und die ganze

Nachbarschaft alarmiert hatte, und als ich vom Anbindering zurücktrat, hätte ich meinen Fuß um ein Haar direkt auf die am Boden liegende Spritze gesetzt. Sie lag unter der Krippe im Stroh und hatte die Rauferei unbeschadet überstanden.

Ich hob sie auf, warf sie wie eine Münze in die Luft und befand, daß man ein Geschenk der Götter nicht ungenutzt lassen durfte. Also rollte ich den Ärmel von Gummigesichts schwarzem Pullover auf, stieß die Nadel fest in seinen Arm und ließ ihm die Hälfte des Inhalts zukommen. Besonnenheit, nicht Mitleid war es, was mich davon abhielt, ihm die ganze Ladung zu verpassen. Möglicherweise war das, was die Spritze enthielt, ein Flachleger für ein Pferd, aber das endgültige Aus für einen Menschen, und ein Mord würde mir nicht weiterhelfen.

Ich zog Gummigesichts Gummigesicht runter. Darunter war Carlo. Überraschung, Überraschung.

Meine Kriegsbeute belief sich nun auf eine Gummimaske, eine halbleere Spritze und einen Knochenbrecherknüppel. Nach einer kurzen Gedenkpause wischte ich meine Fingerabdrücke von der Spritze, zog Carlo die Handschuhe aus und verteilte seine Fingerabdrücke überall auf dem Glas; von beiden Händen. Eine ähnlich großzügige Portion der gleichen Behandlung wurde dem Knüppel zuteil. Dann brachte ich die beiden belastenden Gegenstände ins Haus und versteckte sie vorübergehend in einem Lackkästchen, unter einem Schonbezug, in einem der zehn unbenutzten Schlafzimmer.

Auf meinem Weg nach unten hatte ich den Eindruck, durchs Treppenhausfenster eine große bleiche Kontur in der Einfahrt neben dem Tor zu sehen. Ich ging hinüber, um mich zu versichern. Kein Irrtum; der Mercedes.

Als ich wieder in Buckrams Box stand, stellte ich fest, daß Carlo friedlich schlief, total k. o. Ich fühlte seinen Puls, der langsam, aber regelmäßig ging, und sah auf meine Armbanduhr. Noch nicht mal halb vier. Unglaublich.

Carlo zum Wagen zu tragen schien mir zuviel verlangt, also holte ich den Wagen zu Carlo. Der Motor startete mit einem Klicken und einem Schnurren und machte auf dem Hof nicht einmal genug Lärm, um die Pferde zu stören. Also ließ ich den Motor laufen, öffnete beide Hintertüren und bugsierte Carlo rückwärts hinein. Ich hatte die Absicht gehabt, ihm die Höflichkeit des Rücksitzes zukommen zu lassen, da er dasselbe auch für mich getan hatte, aber er fiel schlaff auf den Boden. Ich knickte seine Knie ein, klappte ihn zusammen und schloß vorsichtig die Türen hinter ihm.

Soweit ich das sagen konnte, blieb unsere Ankunft im Forbury Inn unbemerkt. Ich parkte den Mercedes neben den anderen Wagen vor der Haustür, stellte Motor und Standlicht ab und ging leise von dannen.

Nachdem ich die knappe Meile bis nach Hause zurückgelegt, die Gummimaske aus Buckrams Box geholt, ihm das Halfter abgenommen, das elektronische Auge zerlegt und im Schrank verstaut hatte, war es zu spät, um sich noch die Mühe zu machen, ins Bett zu gehen. Ich schlief eine Stunde oder länger auf dem Sofa und wachte schließlich todmüde und ohne einen Funken Energie für den ersten Tag der Rennen auf.

Alessandro kam zu spät, zu Fuß und beunruhigt.

Ich beobachtete zuerst durch das Fenster im Büro und dann durch das im Besucherzimmer, wie er den Hof hinunterging. Einen Augenblick lang drückte er sich unentschlossen an Stallgasse vier herum, und nachdem seine Neugier offensichtlich die Vorsicht besiegt hatte, schob er sich im Krebsgang zu Buckrams Box hinüber. Er entriegelte die obere Hälfte der Tür, blickte hinein und schob den Riegel wieder vor. Da ich unfähig war, aus dieser Entfernung seine Reaktion zu beurteilen, ging ich aus dem Haus, so daß er mich sehen mußte, nahm scheinbar jedoch keine Notiz von ihm.

Er entfernte sich fix aus Stallgasse vier und tat so, als suche er in Stallgasse drei nach Etty, aber schließlich gewann seine Unsicherheit die Oberhand, und er drehte sich um, um mir entgegenzugehen.

«Wissen Sie, wo Carlo ist?«fragte er ohne Einleitung.

«Wo würden Sie ihn denn erwarten?«sagte ich.

Er blinzelte.»In seinem Zimmer… Ich klopfe an seine Tür, wenn ich fertig bin… Aber er war nicht da. Haben Sie… Haben Sie ihn gesehen?«

«Heute morgen um vier«, sagte ich beiläufig,»lag er hinten in Ihrem Wagen und hat fest geschlafen. Ich nehme an, er ist immer noch dort.«

Er wandte den Kopf ab, als hätte ich ihn geschlagen.

«Er ist also gekommen«, sagte er und klang hoffnungslos.

«Er ist gekommen«, stimmte ich ihm zu.

«Aber Sie haben ihn nicht… Ich meine… getötet?«

«Ich bin nicht Ihr Vater«, sagte ich ätzend.»Carlo hat eine Injektion von irgendeinem Zeug bekommen, das für Buckram bestimmt war.«

Er schob das Kinn zurück, und in seinen Augen stand ein Zorn, der ausnahmsweise einmal nicht ausschließlich mir galt.

«Ich habe ihm verboten herzukommen«, sagte er wütend.»Ich habe es ihm verboten.«

«Weil Buckram nächste Woche für Sie ein Rennen gewinnen könnte?«

«Ja… nein… Sie verwirren mich.«

«Aber er hat Ihr Verbot ignoriert«, meinte ich,»und Ihrem Vater gehorcht?«

«Ich habe ihm gesagt, er soll nicht herkommen«, wiederholte er.

«Er würde es nicht wagen, sich Ihrem Vater zu widersetzen«, erwiderte ich trocken.

«Niemand widersetzt sich meinem Vater«, stellte er automatisch fest und sah mich dann verwundert an.»Bis auf Sie«, sagte er.

«Bei Ihrem Vater«, erklärte ich ihm,»ist es der beste Trick, sich ihm auf einem Gebiet zu widersetzen, auf dem Vergeltungsmaßnahmen zunehmend weniger rentabel sind, und dieses Gebiet dann bei jeder Gelegenheit zu vergrößern.«

«Ich verstehe nicht.«

«Ich werde es Ihnen auf dem Weg nach Doncaster erklären«, sagte ich.

«Ich komme nicht mit Ihnen«, sagte er steif.»Carlo wird mich in meinem eigenen Wagen hinbringen.«

«Dazu ist er nicht in der Verfassung. Wenn Sie zu den Rennen gehen wollen, denke ich, werden Sie entweder selbst fahren oder mit mir kommen müssen.«

Er bedachte mich mit einem wütenden Blick und gab nicht zu, daß er nicht fahren konnte. Aber er konnte auch nicht dem Reiz der Rennen widerstehen, und genau damit hatte ich gerechnet.

«Na schön, ich komme mit Ihnen.«

Nachdem wir mit dem ersten Lot vom Rennbahngelände zurückgekehrt waren, sagte ich ihm, er solle sich im Büro mit Margaret unterhalten, während ich mir rennbahntaugliche Kleidung anzog, und dann fuhr ich ihn ins Forbury Inn, damit er dasselbe tat.

Er sprang aus dem Jensen, noch beinahe bevor dieser stehengeblieben war, und riß eine der Hintertüren des Mercedes auf. Im Wagen saß eine in sich zusammengesunkene Gestalt auf dem Rücksitz. Carlo schien zumindest teilweise wach zu sein, wenn auch noch nicht hundertprozentig empfänglich für den Sturzbach italienischer Schimpfwörter, der über ihn hereinbrach.

Ich tippte Alessandro auf den Rücken und sagte, als er für einen Augenblick aufhörte zu fluchen:»Wenn er sich auch nur halbwegs so fühlt wie ich nach einer ähnlichen Behandlung, wird er nicht besonders zugänglich sein. Warum tun Sie nicht etwas Konstruktives, wie zum Beispiel sich fürs Rennen umzuziehen?«

«Ich tue, was mir gefällt«, erwiderte er grimmig, aber gleich darauf schien es, als gefalle es ihm gerade in diesem Augenblick, sich umzuziehen.

Während er im Hotel war, machte Carlo ein oder zwei Bemerkungen auf italienisch, die meine Sprachkenntnisse überstiegen. Worum es ging, war jedoch klar. Irgend etwas mit meinen Vorfahren.

Alessandro kam in dem dunklen Anzug zurück, den er an seinem ersten Tag auf Rowley Lodge getragen hatte, ein Anzug, der ihm jetzt eine ganze Kleidernummer zu groß war. Er ließ ihn noch dünner aussehen, erheblich jünger und beinahe harmlos. Ich rief mir energisch ins Gedächtnis, daß man, wenn man die Deckung herunternahm, den Gegner zu einem Aufwärtshaken einlud, und wies ihn daher mit einer ruckartigen Kopfbewegung an, in den Jensen zu steigen.

Nachdem er die Tür geschlossen hatte, sprach ich durch das geöffnete Fenster des Mercedes mit Carlo.»Können Sie verstehen, was ich sage?«fragte ich.»Hören Sie mir zu?«

Er hob mit einiger Mühe den Kopf und bedachte mich mit einem Blick, der zeigte, daß er mir zuhörte, selbst wenn er es eigentlich nicht wollte.

«Gut«, sagte ich.»Also, merken Sie sich Folgendes. Alessandro kommt mit mir zum Rennen. Bevor ich ihn zurückbringe, werde ich mit dem Stall telefonieren, um sicherzustellen, daß niemand dort irgendwelchen Schaden angerichtet hat… Daß alle Pferde gesund und munter sind. Wenn Sie irgendwie vorhatten, heute wieder nach Rowley

Lodge zu gehen, um zu beenden, was Ihnen vergangene Nacht nicht gelungen ist, vergessen Sie’s. Denn wenn Sie dort irgendwelchen Schaden anrichten, werden Sie Alessandro heute abend nicht zurückbekommen… Heute abend nicht, und noch viele Abende nicht… Und ich kann mir nicht vorstellen, daß Enzo Rivera darüber sehr erfreut sein würde.«

Er sah mich so wütend an, wie sein trauriger Zustand es zuließ.

«Haben Sie verstanden?«fragte ich.

«Ja. «Er schloß die Augen und stöhnte. Mit verwerflicher Zufriedenheit überließ ich ihn sich selbst.

«Was haben Sie zu Carlo gesagt?«wollte Alessandro wissen, als ich ihn die Einfahrt hinunterkutschierte.

«Ich habe ihm geraten, den Tag im Bett zu verbringen.«

«Ich glaube Ihnen nicht.«

«Jedenfalls etwas in der Art.«

Argwöhnisch betrachtete er den Anflug eines Lächelns, das zu unterdrücken ich mir nicht die Mühe machte. Dann wandte er den Blick ab und starrte ungehalten durch die Windschutzscheibe.

Nach zehn schweigsamen Meilen sagte ich:»Ich habe einen Brief an Ihren Vater geschrieben. Ich möchte, daß Sie ihn hinschicken.«

«Was für einen Brief?«

Ich zog einen Umschlag aus meiner Innentasche und gab ihn Alessandro.

«Ich will ihn lesen«, bemerkte er aggressiv.

«Nur zu. Er ist nicht zugeklebt. Ich dachte, die Mühe könnte ich Ihnen sparen.«

Er kniff die Lippen zusammen und zog den Brief heraus.

Er las:

Enzo Rivera, folgende Punkte zu Ihrer Kenntnisnahme.

1. Solange Alessandro auf Rowley Lodge bleibt und zu bleiben wünscht, darf der Stall nicht zerstört werden.

Jede Form der Zerstörung oder der versuchten Zerstörung des Stalls wird zur Folge haben, daß der Jockey Club augenblicklich von allen Ereignissen der Vergangenheit in Kenntnis gesetzt wird, mit dem Ergebnis, daß man Alessandro lebenslänglich für alle Rennen überall auf der Welt sperren würde.

2. Tommy Hoylake.

Sollte Tommy Hoylake oder irgendeinem anderen Jockey des Stalls irgend etwas zustoßen, gleichgültig was, wird Anzeige erstattet werden, und Alessandro wird keine Rennen mehr reiten.

3. Moonrock, Indigo und Buckram.

Sollten irgendwelche weiteren Versuche unternommen werden, eines der Pferde auf Rowley Lodge zu verletzen oder zu töten, wird Anzeige erstattet werden, und Alessandro wird keine Rennen mehr reiten.

4. Die Anzeige, mit der Sie zu rechnen hätten, besteht zur Zeit aus einem vollen Bericht über alle zur Sache gehörigen Ereignisse, zusammen mit (a) den beiden Modellpferden und ihren handgeschriebenen Etiketten; (b) dem Ergebnis der Analyse einer Blutprobe von Indigo, durchgeführt vom Forschungslabor für Pferdemedizin, das den Nachweis des Vorhandenseins des Narkosemittels Promazin erbringt; (c) Röntgenbildern der Fraktur von Indigos linkem Vorderbein; (d) einer Gummimaske von Carlo; (e) einer Subkutanspritze, die noch Spuren des Narkotikums enthält, und (f) einem Knüppel, der genauso wie die Spritze Carlos Fingerabdrücke

trägt. Diese Gegenstände sind bei einem Rechtsanwalt hinterlegt, der Anweisung für ihre Benutzung im Fall meines Todes hat. Vergessen Sie nicht, daß die Anklage gegen Sie und Ihren Sohn nicht vor einem Gericht bewiesen werden muß, sondern nur dem Jockey Club einleuchten muß. Der ist es, der die Jockeylizenzen entzieht.

Wenn Rowley Lodge kein weiterer Schaden — auch nicht versuchsweise — zugefügt wird, erkläre ich mich meinerseits einverstanden, Alessandro jede vernünftige Möglichkeit zu geben, ein tüchtiger und erfolgreicher Jockey zu werden.

Er las den Brief zweimal. Dann faltete er ihn langsam zusammen und schob ihn zurück in den Umschlag.

«Das wird ihm nicht gefallen«, sagte er.»Er läßt sich von niemandem drohen.«

«Dann hätte er nicht versuchen sollen, mir zu drohen«, sagte ich milde.

«Er dachte, es würde sich um Ihren Vater handeln. Und alte Leute sind leichter einzuschüchtern, sagt mein Vater.«

Ich wandte meinen Blick zwei Sekunden lang von der Straße ab, um ihn anzusehen. Seine letzte Feststellung hatte ihn genauso wenig irritiert wie vor einiger Zeit die Bemerkung, daß sein Vater mich töten würde. Einschüchterungsversuche und Mord waren der Hintergrund seiner Kindheit gewesen, und er schien sie immer noch für normal zu halten.

«Haben Sie wirklich all diese Dinge?«fragte er.»Das Ergebnis der Blutprobe… Und die Spritze?«

«Ja, die habe ich.«

«Aber Carlo trägt immer Handschuhe. «Er hielt inne.

«Er war unvorsichtig«, sagte ich.

Er grübelte darüber nach.»Wenn mein Vater Carlo dazu bringt, noch weiteren Pferden ein Bein zu brechen, werden Sie mich dann wirklich sperren lassen?«

«Und ob.«

«Aber danach hätten Sie keine Möglichkeit mehr, ihn davon abzuhalten, aus Rache die Ställe zu zerstören.«

«Würde er das wirklich tun?«fragte ich.»Würde er sich noch die Mühe machen?«

Alessandro schenkte mir ein mitleidiges, überlegenes Lächeln.»Mein Vater würde sich sogar rächen, wenn jemand das Cremetörtchen essen würde, das er wollte.«

«Sie finden Racheakte also in Ordnung?«sagte ich.

«Natürlich.«

«Das würde Ihnen Ihre Lizenz aber nicht zurückbringen«, stellte ich fest,»und außerdem bezweifle ich, daß er es wirklich tun könnte, denn dann gäbe es nichts mehr, was gegen Polizeischutz und lautestmögliche Medienresonanz spräche.«

Er ließ sich nicht beirren.»Sie würden auf Nummer Sicher gehen, wenn Sie zuließen, daß ich Pease Pudding und Archangel reite.«

«Es ist undenkbar, daß Sie diese Pferde ohne jede Erfahrung reiten. Mit ein wenig Vernunft hätten Sie das von Anfang an gewußt.«

Der hochmütige Blick meldete sich zurück, war aber verwässert gegenüber dem ersten Mal, als ich ihn gesehen hatte.

«Also«, fuhr ich fort,»obwohl es immer ein Risiko bedeutet, sich einer Erpressung zu widersetzen, ist es in einigen Fällen das einzige, was einem übrigbleibt. Und in einer solchen Lage geht es lediglich darum, Möglichkeiten zum Widerstand zu finden, die einen nicht mit leeren Händen ins Leichenschauhaus bringen.«

Es entstand eine neuerliche lange Pause, während wir Grantham und Newark umfuhren. Es hatte angefangen zu regnen. Ich stellte die Scheibenwischer ein, und die

Gummiflächen klickten wie Metronome über das Glas.

«Mir kommt es so vor«, sagte Alessandro düster,»als trügen Sie und mein Vater eine Art Machtkampf aus, mit mir als Bauern dazwischen, den Sie beide herumschubsen.«

Ich lächelte, überrascht sowohl von seinem Scharfsinn wie auch von der Tatsache, daß er diesen Gedanken laut aussprach.

«Das stimmt«, pflichtete ich ihm bei,»so ist es von Anfang an gewesen.«

«Mir gefällt das nicht.«

«Sie sind selbst schuld dran. Und wenn Sie den Gedanken, Jockey werden zu wollen, aufgeben, wird alles aufhören.«

«Aber ich will Jockey werden«, sagte er, als sei es mit diesem Wunsch getan. Und was seinen vernarrten Vater betraf, war es das auch. Der Wunsch war Ursprung und Ziel.

Zehn nasse Meilen später sagte er:»Sie haben am Anfang versucht, mich loszuwerden.«

«Stimmt.«

«Wollen Sie immer noch, daß ich gehe?«

«Würden Sie’s tun?«Ich klang hoffnungsvoll.

«Nein«, sagte er.

Ich verzog den Mund.

«Nein«, wiederholte er,»denn Sie beide, Sie und mein Vater, haben es mir unmöglich gemacht, zu irgendeinem anderen Stall zu gehen und noch mal von vorne anzufangen.«

Eine neuerliche lange Pause.»Und überhaupt«, sagte er.»Ich will überhaupt nicht zu irgendeinem anderen Stall. Ich will auf Rowley Lodge bleiben.«

«Und Champion-Jockey werden?«murmelte ich.

«Ich habe nur zu Margaret gesagt…«, begann er heftig und fügte dann einige Dinge zusammen.»Sie hat Ihnen erzählt, daß ich mich nach Buckram erkundigt habe«, sagte er verbittert.

«Und deshalb haben Sie auch Carlo erwischt.«

Um Margaret Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, sagte ich:»Sie hätte mir nichts davon erzählt, wenn ich sie nicht direkt gefragt hätte, was Sie wollten.«

«Sie vertrauen mir nicht«, beklagte er sich.

«Nun, nein«, erwiderte ich ironisch.»Ich wäre auch ein Narr, wenn ich es täte.«

Der Regen klatschte noch heftiger gegen die Windschutzscheibe. Wir blieben vor einer roten Ampel in Bawtry stehen und warteten, während ein Schülerlotse eine halbe Schule vor uns über die Straße trieb.

«Diese Bemerkung in Ihrem Brief, daß Sie mir helfen wollen, ein guter Jockey zu werden… Meinen Sie das ernst?«

«Ja, das tue ich«, sagte ich.»Sie reiten zu Hause sehr gut. Besser, als ich erwartet hätte, um ehrlich zu sein.«

«Ich habe Ihnen doch gesagt…«, begann er und hob die Adlernase.

«Daß Sie brillant sind«, beendete ich seinen Satz nickend.»Das haben Sie tatsächlich gesagt.«

«Lachen Sie mich nicht aus. «Der stets einsatzbereite Zorn wallte auf.

«Alles, was Sie tun müssen, ist ein paar Rennen gewinnen, den Kopf behalten, einen Sinn für Tempo und Taktik zeigen und aufhören, sich auf Ihren Vater zu verlassen.«

Er war unversöhnlich.»Es ist nur natürlich, daß man sich auf seinen Vater verläßt«, sagte er steif.

«Ich bin meinem davongelaufen, als ich sechzehn war.«

Er drehte sich um. Aus den Augenwinkeln heraus konnte ich sehen, daß er sowohl überrascht wie auch unbeeindruckt war.

«Ihr Vater hat Ihnen offensichtlich, im Gegensatz zu meinem, nicht alles gegeben, was Sie wollten.«

«Nein«, gab ich ihm recht.»Ich wollte Freiheit.«

Ich schätze, daß Freiheit das einzige war, was Enzo seinem Sohn nicht geben würde, wenn er darum bat: Die unmäßig Großzügigen sind oft auch sehr besitzergreifend. Es zeugte nicht gerade von Freiheit, daß Alessandro kein Geld bei sich hatte, daß er nicht fahren konnte und ständig Carlo um sich hatte, der ihn überwachte und über jeden seiner Schritte Bericht erstattete. Aber Freiheit schien wohl nicht besonders weit oben auf Alessandros Liste des Wünschenswerten zu stehen. Die Annehmlichkeiten der Sklaverei waren süß und machten süchtig.

Den größten Teil des Nachmittags brachte ich damit zu, mit Leuten zu reden, die meinen Vater kannten, andere Trainer, Jockeys, Funktionäre und einige der Besitzer. Sie waren alle ohne Ausnahme hilfreich und informativ, so daß ich am Ende des Tages begriffen hatte, was man im Zusammenhang mit Pease Pudding und dem Lincoln von mir erwarten würde (und auch wußte, was man nicht erwartete).

Tommy Hoylake faßte es mit breitem Grinsen in dürre Worte:»Das Pferd angeben, satteln, zusehen, daß es gewinnt, und in der Nähe bleiben, falls es Einwände gibt.«

«Glauben Sie, wir haben eine Chance?«

«Oh, unbedingt«, sagte er.»Es ist ein offenes Rennen; alle könnten gewinnen. In Gottes Hand, wissen Sie. In Gottes Hand. «Woraus ich entnahm, daß er sich immer noch nicht zu einer Meinung über den Probegalopp durchgerungen hatte, darüber, ob Lancat gut oder Pease Pudding schlecht war.

Ich fuhr Alessandro zurück nach Newmarket und fragte ihn, wie er zurechtgekommen sei. Da sein Gesichtsausdruck, wann immer ich ihn am Nachmittag gesehen hatte, eine Mischung aus Neid und Stolz gewesen war, wußte ich auch ohne Worte, daß er erregt gewesen war, weil man ihn wegen seiner Figur als Jockey erkennen konnte, und erzürnt, weil eine Horde anderer die Saison ohne ihn begonnen hatte. Der Blick, mit dem er den Sieger des Lehrlingsrennens bedacht hatte, hätte selbst eine Klapperschlange das Fürchten gelehrt.

«Ich kann nicht bis nächsten Mittwoch warten«, sagte er.»Ich wünsche, morgen zu beginnen.«

«Wir haben keine Starter vor nächstem Mittwoch«, sagte ich gelassen.

«Pease Pudding. «Er war grimmig entschlossen.»Am Samstag.«

«Das haben wir doch alles schon durchgekaut.«

«Ich wünsche, ihn zu reiten.«

«Nein.«

Er schäumte auf dem Beifahrersitz vor sich hin. Der konkrete Anblick, der Klang und der Duft der Rennen hatten ihn bis zu einem Punkt erregt, an dem er kaum noch stillsitzen konnte. Das bißchen Wirkung, das mein Appell an die Vernunft auf dem Hinweg gezeitigt hatte, war mit dem böigen Wind auf Doncasters Town-Moor verflogen, und die erste Hälfte der Rückreise war eine vollkommene Verschwendung, zumindest aus meiner Sicht. Schließlich jedoch fiel die extreme Anspannung von ihm ab, und er sank, mit einer Art Trübsinn, auf seinem Sitz zusammen.

In diesem Stadium sagte ich:»Wie meinen Sie, würden Sie ein Rennen auf Pullitzer reiten?«

Sein Rückgrat straffte sich augenblicklich, und er antwortete mit derselben Direktheit wie nach dem Probegalopp.

«Ich habe die Rennberichte vom vergangenen Jahr studiert«, sagte er.»Pullitzer war beständig; meistens lief er als Dritter oder Vierter oder Sechster ins Ziel. Er war immer für den größten Teil des Rennens in der Nähe der Spitzengruppe, ließ dann jedoch auf den letzten zweihundert Metern nach. Die Distanz nächsten Mittwoch in Catterick beträgt vierzehnhundert Meter. In den Rennberichten steht, daß die niedrigen Startnummern die besten sind, also würde ich hoffen, bei der Verlosung eine von ihnen zu bekommen. Dann würde ich versuchen, am Start gut abzukommen und eine Position direkt an den Rails einzunehmen, höchstens mit einem einzigen Pferd weiter innen, und ich würde nicht zu schnell, aber auch nicht zu langsam gehen. Ich würde versuchen, nicht weiter als zweieinhalb Längen hinter dem Pferd an der Spitze zurückzubleiben, aber bis kurz vorm Ende würde ich nicht versuchen, selbst die Führung zu übernehmen. Erst auf den letzten sechzig Metern, denke ich. Und ich würde versuchen, erst fünfzehn Meter vor dem Zielpfosten an die Spitze zu gehen. Ich glaube, er gibt beim Rennen nicht sein Bestes, wenn er vorn liegt, also darf er nicht lange vorn sein.«

Zu sagen, daß ich überrascht war, hätte nicht annähernd die seltsame Erregung ausgedrückt, die heftig und unerwartet in mir aufstieg. Ich hatte jahrelange Übung in der Unterscheidung des Echten vom Gefälschten, und was Alessandro da gesagt hatte, konnte man für bare Münze nehmen.

«O. K.«, sagte ich beiläufig.»Das hört sich gut an. Reiten Sie ihn genau so. Und wie sieht es mit Buckram aus… Sie werden ihn im Lehrlingsrennen in Liverpool reiten, einen Tag nach Pullitzer. Außerdem können Sie zwei Tage später, am Samstag, Lancat in Teesside reiten.«

«Ich werde ihre Rennberichte lesen und über sie nachdenken«, sagte er ernsthaft.

«Was Lancat angeht, können Sie sich die Mühe sparen«, erinnerte ich ihn.»Er hat als Zweijähriger nicht viel gebracht. Gehen Sie von dem aus, was Sie beim Probegalopp gesehen haben.«

«Ja«, sagte er.»Ich verstehe.«

Sein Eifer war wieder da, aber zielgerichteter, kontrollierter. Bis zu einem gewissen Grad konnte ich seine Gier, endlich anzufangen, verstehen; für ihn war das Rennreiten, was für einen Verhungernden Brot war, und nichts konnte ihn aufhalten. Ich stellte jedoch fest, daß ich ihn gar nicht mehr zurückhalten wollte; daß mein Versprechen, ihm dabei zu helfen, ein guter Jockey zu werden, mehr Wahrheit enthielt, als mir zu dem Zeitpunkt, da ich es niederschrieb, bewußt gewesen war.

Aus Enzos und Alessandros Sicht wurde ich von den beiden immer noch gegen meinen Willen gezwungen, ihm Chancen zu geben. Insgeheim und auf boshafte Weise begann es mich zu amüsieren, daß ich anfing, ihm Chancen zu geben, weil ich es wollte.

Die Schlacht verlegte sich langsam auf ein anderes Feld. Ich dachte über Enzo nach. Über die Art, wie er seinen Sohn betrachtete… Und endlich wußte ich, wie ich ihn dazu bringen konnte, seine Drohungen zu widerrufen. Aber es erschien mir sehr wahrscheinlich, daß die Zukunft noch gefährlicher würde als die Vergangenheit.

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