Während des Lincolns brachte ich jeden Abend der Woche Stunden am Telefon zu. Ein Besitzer nach dem anderen klingelte an, und jeder von ihnen wirkte niedergeschlagen. Und nachdem mir vier Leute hintereinander mit mehr oder weniger identischen Worten gesagt hatten, daß man» ja nicht viel erwarten kann, solange Ihr Herr Vater ans Bett gekettet ist«, war mir auch der Hintergrund klar: Der besagte Invalide hatte sich nämlich selbst eifrig an die Strippe gehängt.
Er hatte sie alle angerufen, hatte sich für meine Gegenwart entschuldigt, ihnen geraten, nichts zu erwarten, und versprochen, daß alles wieder in normalen Bahnen laufen würde, sobald er zurück sei. Er hatte auch dem Mitbesitzer von Pease Pudding, einem Major Barnette, erklärt, daß seiner Meinung nach das Pferd nicht fit genug sei, um zu laufen; und es hatte mich eine halbe Stunde meiner allerbesten Überredungskünste gekostet, um den Major davon zu überzeugen, daß mein Vater, da er das Pferd sechs Wochen lang nicht gesehen hatte, nicht Bescheid wußte.
Als ich mich dann mit seinen Aktivitäten etwas näher beschäftigte, fand ich heraus, daß er außerdem Etty jede Woche heimlich geschrieben hatte, daß er Berichte von ihr bekam und ihr aufgetragen hatte, mir nichts davon zu sagen. Diesen letzten Geniestreich meines Vaters holte ich am Morgen vor dem Lincoln praktisch mit Gewalt aus Etty heraus. Ich hatte lediglich erwähnt, daß mein Vater alle Besitzer davon in Kenntnis gesetzt habe, daß ihre Pferde nicht fit seien. Ein schuldbewußter Ausdruck in ihren Augen verriet sie sofort, aber sie wehrte meine Verbitterung mit der Feststellung ab, diese Einschätzung stamme nicht wirklich von ihr; es sei lediglich die Art, wie mein Vater die Dinge zu interpretieren geruhte.
Ich ging ins Büro und fragte Margaret, ob mein Vater sie telefonisch oder schriftlich um heimliche Berichte gebeten habe. Sie sah mich verlegen an und bejahte.
Als ich an diesem Freitag mit Tommy Hoylake über die Renntaktik sprach, sagte er, ich solle mir keine Sorgen machen, mein Vater habe ihn angerufen und ihm seine Anweisungen gegeben.
«Und wie lauten die?«erkundigte ich mich mit erheblich mehr Zurückhaltung, als ich empfand.
«Oh… ich soll einfach Anschluß zum Feld halten und mich nicht abhängen lassen, wenn ihm ein wenig die Puste ausgeht.«
«Hm… Wenn mein Vater Sie nicht angerufen hätte, wie wären Sie dann geritten?«fragte ich.
«Ich hätte ihn die ganze Zeit über mit dem Feld mitgaloppieren lassen«, sagte er prompt.»Wenn er fit ist, gehört er zu den Pferden, die es gern haben, wenn die anderen versuchen, ihn einzuholen. Ich würde vierhundert Meter vorm Ziel Tempo machen, ihn an die Spitze bringen und einfach beten, daß er dort bleibt.«
«Dann reiten Sie ihn auch so«, sagte ich.»Ich habe hundert Pfund auf ihn gesetzt, und für gewöhnlich wette ich nicht.«
Sein Mund öffnete sich vor Erstaunen.»Aber Ihr Vater.«
«Versprechen Sie mir, daß Sie reiten, um zu gewinnen«, sagte ich freundlich,»sonst setze ich jemanden anders drauf.«
Ich beleidigte ihn. Niemand hatte je vorgeschlagen, Tommy Hoylake zu ersetzen. Er studierte ein wenig unsicher meinen ehrlichen Gesichtsausdruck und kam zu dem Schluß, daß ich mir wegen meiner Unerfahrenheit der Monstrosität dessen, was ich gesagt hatte, nicht bewußt war.
Er zuckte mit den Schultern.»Na schön. Ich werd’s versuchen. Obwohl, was Ihr Vater dazu sagen wird.«
Mein Vater hatte noch eine ganze Menge zu sagen, in sechs oder mehr Telefonanrufen, die, wie es schien, größtenteils der Presse galten. Am Morgen des Lincolns zitierten drei Zeitungen seine Meinung, daß Pease Pudding keine Chance hatte. Ich würde seinetwegen die Rennleitung am Hals haben, überlegte ich grimmig, wenn das Pferd sich einigermaßen gut hielt.
Inmitten seiner ganzen Telefonaktivitäten rief er mich nur ein einziges Mal an. Obwohl die überwältigende Herrschsucht noch nicht in seine Stimme zurückgekehrt war, klang er gespreizt und ungehalten, woraus ich schloß, daß der Champagnerfriede gerade so lange angedauert hatte, wie ich im Zimmer war.
Am Donnerstagabend, nachdem ich von Doncaster zurückgekommen war, rief er mich an, und ich erzählte ihm, wie überaus hilfreich alle gewesen seien.
«Hmph«, sagte er,»ich werde den Rennvereinssekretär morgen anrufen und ihn bitten, die Dinge im Auge zu behalten.«
«Hast du den Telefonwagen endgültig mit Beschlag belegt?«
«Den Telefonwagen? Konnte ich nie lange genug zu fassen kriegen. Zu viele Leute, die dauernd danach fragen. Nein, nein. Ich habe ihnen gesagt, ich brauchte meinen eigenen Privatanschluß, hier in diesem Zimmer, und nach einem Riesentheater und allen möglichen Verzögerungen haben sie mir einen gelegt. Ich habe natürlich insistiert, denn schließlich muß ich ein Geschäft führen.«
«Und du hast heftig insistiert?«
«Natürlich«, sagte er ohne Humor, und ich wußte aus langer Erfahrung, daß das Krankenhaus gegen ihn genausoviel Chancen hatte wie ein Ei gegen eine Dampfwalze.
«Die Pferde sind nicht so schlecht in Form, wie du glaubst«, erklärte ich ihm.»Du brauchst wirklich nicht so pessimistisch zu sein.«
«Du hast keine Ahnung von Pferden«, erwiderte er herrisch; und es war am Tag danach, daß er mit der Presse sprach.
Major Barnette starrte im Führring düster vor sich hin und ließ Verachtung und Mitleid auf meine stattliche Wette niederprasseln.
«Ihr Vater hat mir geraten, kein gutes Geld schlechtem hinterherzuwerfen«, sagte er.»Und ich weiß wirklich nicht mehr, warum ich mich von Ihnen zur Teilnahme habe überreden lassen.«
«Sie können fünfzig von meinen hundert haben, wenn Sie wollen. «Mein Angebot hatte die nobelsten Hintergründe, aber er nahm es als Zeichen dafür, daß ich einen Teil meines Verlustes abwälzen wollte.
«Ganz bestimmt nicht«, sagte er grollend.
Er war ein magerer, ältlicher Mann mittlerer Größe, der bei der geringsten Provokation auf seine Würde pochte. Ein Zeichen tiefgehender Schwäche, diagnostizierte ich unbarmherzig und erinnerte mich an den alten Spruch, daß manche Besitzer schwerer zu trainieren seien als ihre Pferde.
Die neunundzwanzig Starter für das Lincoln stolzierten langbeinig durch den Führring, während alle anderen Besitzer und Trainer in nachdenklichen Grüppchen in der Nähe herumstanden. Heftige, kalte Nordwestwinde hatten die Wolken weggepustet, und die Sonne schien messingfarben von einem gleißend tiefblauen Himmel. Als die Jockeys sich durch die Menge zwängten und im strahlenden Sonnenlicht im Führring erschienen, funkelten und glänzten ihre prächtigen Farben und spiegelten wie Kinderspielzeug das Licht wider.
Die alt-junge Gestalt von Tommy Hoylake in hellem Grün hüpfte mit einer sorglosen Aura von» Nimm’s, wie’s kommt «auf uns zu, ein Umstand, der nichts dazu beitrug, Major Barnette davon zu überzeugen, daß seine Hälfte des Pferdes gut laufen würde.
«Hören Sie zu«, sagte er düster zu Tommy,»lassen Sie sich nur einfach nicht abhängen. Wenn es so aussieht, als würde das passieren, halten Sie um Gottes willen an und springen Sie runter und tun Sie so, als würde das Pferd lahmen oder als wäre der Sattel verrutscht. Alles, was Sie wollen, aber lassen Sie nicht durchsickern, daß das Pferd nichts taugt, sonst wird sein Zuchtwert in den Keller fallen.«
«Ich glaube nicht, daß er sich wirklich abhängen läßt, Sir«, sagte Tommy besonnen und warf mir einen fragenden Blick zu.
«Reiten Sie ihn einfach so, wie Sie vorgeschlagen haben«, meinte ich,»und überlassen Sie nicht alles Gottes Hand.«
Er grinste. Hüpfte auf das Pferd. Schwenkte seine Kappe und verbeugte sich zackig vor Major Barnette. Machte sich unbeschwert auf den Weg.
Der Major wollte das Rennen nicht mit mir zusammen ansehen, was mir sehr entgegenkam. Mein Mund fühlte sich trocken an. Angenommen, daß mein Vater nun doch recht hatte… daß ich ein durchtrainiertes Pferd nicht von einem Briefkasten unterscheiden konnte und daß er in seinem Krankenhausbett die bessere Nase hatte. Na schön, wenn das Pferd hundsmiserabel schlecht lief, würde ich meinen Fehler zugeben und eine heilsame Canossa-Nummer hinlegen.
Pease Pudding lief nicht hundsmiserabel schlecht.
Die Pferde galoppierten eine Meile von den Tribünen weg, gingen an der Startstelle auf dem Zirkel, stellten sich auf und machten sich dann in einem vollen Galopp auf den Rückweg. Ungeübt im Umgang mit Ferngläsern sowie auch in der Beobachtung von Rennen aus einer Entfernung von einer Meile, konnte ich Tommy lange Zeit überhaupt nicht sehen, und das, obwohl ich eine verschwommene Vorstellung davon hatte, wo ich nach ihm suchen mußte; er hatte die Startnummer einundzwanzig gezogen, beinahe im Mittelfeld. Nach einer Weile ließ ich das Fernglas sinken und sah einfach nur zu, wie die Masse sich von ferne auf die Tribünen zubewegte. Ein vielfarbiges Energiebündel, das sich langsam in zwei Gruppen teilte, eine an jedem Ende der Bahn. Beide Gruppen zogen sich zusammen, bis die Mitte der Bahn leer war und es aussah, als fänden zwei verschiedene Rennen gleichzeitig statt.
Ich hörte seinen Namen über Lautsprecher, noch bevor ich die Farben erkannte.
«Und nun kommt auf der Seite der Tribünen Pease Pudding nach vorn. Vierhundert Meter vorm Ziel läuft Pease Pudding an den Rails, gefolgt von Gossamer. Und jetzt macht Badger hinter ihnen Boden wett… Willy Nilly auf der anderen Seite, gefolgt von Thermometer, Student Unrest, Manganeta…«Er ratterte eine lange Liste von Namen herunter, auf die ich nicht achtete.
Daß er fit genug gewesen war, um vierhundert Meter vor der Einlaufgeraden an die Spitze zu gehen, das war alles, was zählte. Von diesem Augenblick kümmerte es mich ganz ehrlich nicht mehr, ob er gewann oder nicht. Aber er gewann. Er gewann um einen kurzen Kopf vor Badger, wobei er das Maul stur vorn hielt, selbst als es unmöglich schien, daß sein Verfolger ihn nicht einholen würde, und Tommy Hoylake bewegte sich rhythmisch über dem Widerrist und holte das Letzte aus ihm heraus, den letzten Rest Gleichgewicht und Ausdauer und die absolute, wilde Entschlossenheit, sich nicht besiegen zu lassen.
Im Absattelring für den Sieger sah Major Barnette mehr verblüfft als euphorisch aus, aber Tommy Hoylake sprang mit dem breitesten Grinsen aus dem Sattel und sagte:»Na, und wie fandet ihr das? Er trug also doch den Marschallstab im Tornister.«
«Er hat es also geschafft«, sagte ich und erklärte den aus der Fassung gebrachten Presseleuten, daß jeder das Lincoln gewinnen konnte, an jedem Tag, den Gott werden ließ — an jedem Tag, den Gott werden ließ, wenn man das Pferd hatte, das Glück, den Futtermeister, die Stallroutine meines Vaters und den zweitbesten Jockey im Land.
Ungefähr zwanzig Leute zeigten sich plötzlich eng mit Major Barnette befreundet, und er ließ sich, mehr oder weniger auf ihren Vorschlag hin, zur Bar treiben, um ihre vom Anfeuern heiseren Kehlen zu ölen. Er lud mich ein wenig matt ein, mich zu ihnen zu gesellen, aber da ich seinen Blick aufgefangen hatte, als er sich gerade von seiner Überraschung erholt und der Welt verkündet hatte, daß er es immer gewußt habe, daß Pease Pudding es in sich hatte, ersparte ich ihm die Verlegenheit und lehnte höflich ab.
Als die Menge um den Absattelring sich zerstreut und der Wirbel sich gelegt hatte, fand ich mich irgendwie plötzlich Alessandro gegenüber, der an diesem und am vorhergehenden Tag von einem teilweise wiederbelebten Chauffeur nach Doncaster kutschiert worden war.
Sein Gesicht war so weiß, wie seine gelbliche Haut das zuließ, und seine schwarzen Augen waren tiefe Abgründe. Er sah mich mit bebender, angespannter Wildheit an und schien Mühe zu haben, auszusprechen, was ihn umtrieb. Ich erwiderte seinen Blick, ohne irgendein Gefühl zu verraten, und wartete.
«Na schön«, stieß er nach einer Weile schrill hervor.»Na schön. Warum sagen Sie’s nicht? Ich erwarte, daß Sie es sagen.«
«Das ist nicht nötig«, sagte ich neutral.»Und sinnlos.«
Ein Teil der Starrheit fiel von seinem Gesicht ab. Er schluckte mühsam.
«Dann werde ich es für Sie sagen«, meinte er.»Pease Pudding hätte nicht gewonnen, wenn Sie mir erlaubt hätten, ihn zu reiten.«
«Nein, das hätte er nicht«, gab ich ihm recht.
«Ich konnte sehen«, sagte er, und seine Stimme bebte immer noch ein wenig,»daß ich nicht so hätte reiten können. Ich konnte sehen.«
Minderwertigkeitsgefühle waren eine Folter für Alessandro.
Aus einer Art Mitleid heraus sagte ich:»Tommy Hoylake besitzt nicht mehr Entschlossenheit als Sie und auch keine bessere Hand. Aber was er hat, ist ein wunderbarer Sinn für Tempo und umwerfende Brillanz bei einem knappen Einlauf. Ihre Zeit wird kommen, zweifeln Sie nicht daran.«
Auch wenn seine Farbe nicht zurückkehrte, löste der Rest der Steifheit sich endgültig auf. Er sah eher verblüfft aus als irgend etwas sonst.
Langsam sagte er:»Ich dachte… ich dachte, Sie würden… wie sagt Miss Craig immer.? Es mir unter die Nase reiben.«
Ich lächelte über diesen umgangssprachlichen Ausdruck aus seinem Mund, der so wenig zu seinem bedächtigen Akzent passen wollte.
«Nein, das tue ich nicht.«
Er holte tief Luft und streckte unwillkürlich die Arme aus.
«Ich will…«:, sagte er, sprach aber nicht zu Ende.
Du willst die Welt, dachte ich. Und sagte:»Fangen Sie Mittwoch an.«
Als der Pferdetransporter Pease Pudding an diesem Abend zurück nach Rowley Lodge brachte, kam der ganze Stall herausgelaufen, um ihn zu begrüßen. Die Runzeln auf Ettys Gesicht entsprangen ausnahmsweise einem anderen Gefühl als der Sorge, und sie bemutterte den heimgekehrten Krieger wie eine Glucke. Der Hengst selbst kletterte steifbeinig die Rampe herunter und nahm bescheiden das melonenbreite Grinsen und die derben Kommentare entgegen (»du hast’s geschafft, du alter Teufel«), die ihm entgegenschlugen.
«Es wird doch bestimmt nicht jeder Gewinner mit solch einem Empfang beglückt«, sagte ich zu Etty, nachdem ich aus dem Haus gekommen war, um dem Tumult auf den Grund zu gehen. Ich war eine halbe Stunde vor dem Pferd zu Hause angekommen und hatte alles ruhig vorgefunden; die Pfleger hatten die Abendstallzeit bereits beendet und waren in die Kantine gegangen, um ihren Tee zu trinken.
«Es ist der erste in dieser Saison«, sagte sie, und ihre Augen leuchteten in ihrem freundlichen, unscheinbaren Gesicht.»Und wir hatten nicht erwartet… ohne Mr. Griffon und alles.«
«Ich habe dir doch gesagt, du sollst mehr auf dich selbst vertrauen, Etty.«
«Den Jungs hat es jedenfalls gewaltig Auftrieb gegeben«, sagte sie und wich damit dem Kompliment, das ich ihr gemacht hatte, aus.»Alle haben vorm Fernseher gesessen. In der Kantine war ein Lärm, daß man es bis zum Forbury Inn gehört haben muß.«
Die Pfleger hatten sich bereits alle für ihren freien Samstagabend in Schale geworfen. Und nachdem sie Pease Pudding sicher in seiner Box wußten, machten sie sich davon, ein lachender, grölender Haufen, der zum Überfall auf die Vorräte des Golden Lion auszog. Jetzt erst, da ich die explosive Natur ihrer Freude erlebte, erkannte ich, wie bedrückt sie zuvor gewesen waren. Aber sie hatten schließlich Zeitung gelesen, überlegte ich. Und sie waren es gewohnt, eher meinem Vater zu glauben als ihren eigenen Augen.
«Mr. Griffon wird sich riesig freuen«, sagte Etty mit echter, naiver Gewißheit.
Aber genau das tat Mr. Griffon, wie vorhersehbar war, nicht.
Ich fuhr am folgenden Nachmittag zu ihm und fand mehrere Sonntagszeitungen im Mülleimer vor. Er begrüßte mich mit dem geringschätzigen Blick eines Juweliers, der einen Achat als Fensterkitt bezeichnet, und war sorgsam darauf bedacht, mir keine Chance zu geben, über ihn zu triumphieren.
Er hätte sich keine Sorgen zu machen brauchen. Nichts verschlechterte die zukünftigen Beziehungen auf jedwedem Feld so nachhaltig wie Triumphgehabe gegenüber einem Verlierer; und mochte ich noch so wenig wissen, so wußte ich doch, wie man in Verhandlungen die besten langfristigen Ergebnisse erzielte.
Ich gratulierte ihm zu seinem Sieg.
Er wußte nicht recht, wie er damit umgehen sollte, aber zumindest ersparte es ihm die Verlegenheit, zugeben zu müssen, daß er sich zum Narren gemacht hatte.
«Tommy Hoylake hat ein brillantes Rennen geritten«, bemerkte er und ging darüber hinweg, daß er ihm absolut entgegengesetzte Anweisungen gegeben hatte.
«Ja, das hat er«, pflichtete ich ihm aus ganzem Herzen bei und wiederholte, daß das übrige Etty und dem routinierten Stallpersonal zu verdanken sei, die wie immer ihr Bestes gegeben hatten.
Er taute etwas auf, aber ich mußte, ein wenig zu meinem eigenen Erstaunen, feststellen, daß ich Alessandro, im Gegensatz zu meinem Vater, für die Aufrichtigkeit seiner Selbsteinschätzung bewunderte, dafür und für die Charakterstärke, die ihm die Kraft dazu gegeben hatte. Charakterstärke hatte ich eigentlich bis zu diesem Augenblick noch nie mit Alessandro in Verbindung gebracht.
Seit meinem letzten Besuch hatte das Zimmer meines Vaters das Aussehen eines Büros angenommen. Der reguläre Nachttisch war durch einen viel größeren Tisch ersetzt worden, den man, genauso wie das Bett, mühelos durchs Zimmer rollen konnte. Auf dem Tisch stand das Telefon, durch das er soviel Gift verspritzt hatte, daneben lagen ein Stapel Racing Calendars, einige Ausgaben der Sporting Life, Nennungsformulare und eine Ausgabe von Horses in Training, ferner die Rennberichte der vergangenen drei Jahre und, halb versteckt, die Berichte von Etty in ihrer vertrauten Schulmädchenhandschrift.
«Was, keine Schreibmaschine?«fragte ich schnodderig, und er erwiderte steif, daß er ein Mädchen aus dem Ort eingestellt habe, das irgendwann in der nächsten Woche kommen würde, um Diktate aufzunehmen.
«Fein«, sagte ich ermutigend, aber er weigerte sich, freundlich zu sein. Er betrachtete den Sieg im Lincoln als ernsthafte Bedrohung seiner Autorität und drückte mit seinem ganzen Verhalten klar und deutlich aus, daß diese Autorität nicht an mich und nicht einmal an Etty übergehen würde; nicht, solange er irgend etwas tun konnte, um das zu verhindern.
Er hatte sich selbst in eine überaus zwiespältige Situation gebracht. Jeder Gewinner würde für ihn persönlich eine Marter sein, während er ihn vom finanziellen Standpunkt aus dringend benötigte. Ein zu großer Teil seines Vermögens steckte immer noch in halben Anteilen. Und wenn die Pferde alle so schlecht liefen, wie er es sich zu wünschen schien, würde ihr Wert zusammenschrumpfen wie Dahlien bei Frost.
Ihn zu verstehen war eine Sache; ihm zu helfen eine ganz andere.
«Ich kann es gar nicht erwarten, daß du wieder zurückkommst«, sagte ich, aber auch das brachte uns nicht weiter. Es schien, als verheilten die Knochen nicht so schnell, wie man zu Anfang gehofft hatte, und die Erinnerung an die Verzögerung katapultierte ihn nur in eine andere Art von Groll.
«Irgend so ein Mumpitz, daß die Knochen bei älteren Menschen länger brauchen, um zusammenzuwachsen«, sagte er gereizt.»So viele Wochen… und sie können immer noch nicht sagen, wann ich aus diesen verwünschten Streckapparaten rauskomme. Ich habe ihnen gesagt, daß ich einen Gipsverband will, mit dem ich laufen kann… Verdammt, es gibt doch genug Leute, die das tun… Aber die Ärzte sagen, es gebe viele Fälle, in denen das nicht möglich ist, und daß ich eben einer von denen sei.«
«Du kannst von Glück sagen, daß du dein Bein überhaupt noch hast«, stellte ich fest.»Zuerst haben sie gedacht, sie müßten es abnehmen.«
«Was wahrhaftig besser gewesen wäre«, schnaubte er.»Dann wäre ich jetzt schon wieder zurück auf Rowley Lodge.«
Ich hatte wieder etwas Champagner mitgebracht, aber er wollte keinen haben. Hatte wahrscheinlich Angst, es könnte zu sehr nach einer Feier aussehen.
Gillie nahm mich auf ihre unkomplizierte Art in die Arme, und sie war die erste, die mir zu meinem Erfolg gratulierte:»Ich hab’s dir doch gesagt.«
«Das hast du«, pflichtete ich ihr zufrieden bei.»Und da ich aufgrund deiner Gewißheit zweitausend Pfund gewonnen habe, führe ich dich ins Empress aus.«
Das schäbige Schwarze war jedoch knapp.
«Sieh doch nur«, jammerte sie und zwickte sich mit den Fingern in den Unterleib,»ich hab’s vor zehn Tagen angehabt, und da war’s noch vollkommen in Ordnung. Und jetzt ist es unmöglich.«
«Ich habe keine übermäßige Vorliebe für flachbrüstige Damen mit Hüftknochen, die wie schroffe Gebirge aus ihnen herausragen«, tröstete ich sie.
«Nein… Aber auch sinnliche Üppigkeit kann zu weit gehen.«
«Also Grapefruit?«
Sie seufzte, überlegte, holte sich einen cremefarbenen Trenchcoat, der eine Vielzahl von Rundungen verhüllen konnte, und sagte fröhlich:»Wie könnte man Pease Pudding mit Grapefruit Genüge tun?«
Wir stießen mit einem 64er Chateau Figeac auf den Sieg an, aßen Melone und Steak, wandten aber aus Respekt vor den Nähten des schäbigen Schwarzen unseren Blick willensstark von allen Nachspeisen ab.
Gillie sagte beim Kaffee, daß man ihr infolge der fortgesetzten
Knappheit an Waisenkindern freie Tage geradezu aufdrängte und ob ich nicht noch einmal darüber nachdenken und sie nach Newmarket kommen lassen wolle.
«Nein«, sagte ich mit mehr Nachdruck als beabsichtigt.
Sie wirkte ein wenig verletzt, was bei ihr so ungewöhnlich war, daß es mich beträchtlich verstörte.
«Du erinnerst dich doch an diese blauen Flecken, die ich hatte, vor ungefähr fünf Wochen?«fragte ich.
«Ja, das tue ich.«
«Nun ja. sie waren der Anfang einer ziemlich unerfreulichen und noch nicht beendeten Auseinandersetzung mit einem Mann, dessen besondere Stärke Drohungen sind. Bisher habe ich einigen dieser Drohungen standgehalten, und im Augenblick haben wir eine Art Patt erreicht. «Ich hielt inne.»Ich möchte das Gleichgewicht nicht durcheinanderbringen. Ich möchte ihm keine Hebel in die Hand geben. Ich habe keine Frau, keine Kinder und keine nahen Verwandten bis auf einen im Krankenhaus und damit in Sicherheit befindlichen Vater. Es gibt niemanden, den der Feind bedrohen könnte… Niemanden, um dessentwillen ich alles tun würde, was er sagt. Aber, verstehst du… Wenn du nach Newmarket kämest, gäbe es jemanden.«
Sie sah mich lange an, begriff, was ich gesagt hatte, und der Schmerz war sofort verschwunden.
Schließlich bemerkte sie:»Archimedes sagte, wenn er nur einen Platz hätte, wo er stehen könnte, würde er die Erde bewegen.«
«Hm?«
«Mit einem Hebel«, sagte sie lächelnd.»Du ungebildeter Ganter.«
«Wollen wir Archimedes also keine Möglichkeit geben, den Hebel anzusetzen.«»Nein. «Sie seufzte.»Du kannst deine kleinmütigen Befürchtungen vergessen. Ich werde dich nicht besuchen, bevor du mich nicht einlädst.«
Als wir wieder zu Hause waren, Seite an Seite im Bett lagen und in geselligem Schweigen die Sonntagszeitungen lasen, sagte sie:»Du weiß doch, welche Konsequenzen es haben wird, wenn du ihm keine Hebel gibst?«
«Welche?«
«Noch mehr blaue Flecken.«
«Nicht, wenn ich es vermeiden kann.«
Sie drehte ihren Kopf auf dem Kissen herum und sah mich an.
«Du weißt es verdammt gut. Du bist kein Trottel.«
«Es wird nicht so weit kommen«, erwiderte ich.
Sie wandte sich wieder ihrer Sunday Times zu.»Hier ist eine Anzeige für Australienreisen auf einem Frachtschiff… Würdest du dich sicherer fühlen, wenn ich auf einem Frachter eine Kreuzfahrt nach Australien machte? Möchtest du, daß ich weggehe?«
«Ja, ich möchte«, sagte ich.»Und nein, ich möchte nicht.«
«War nur ein Angebot.«
«Abgelehnt.«
Sie lächelte.»Dann laß diese Adresse nicht irgendwo rumliegen.«
«Keine Sorge.«
Sie legte die Zeitung weg.»Wie gut wäre ich als Hebel deiner Meinung nach?«
Ich warf den Observer auf den Fußboden.»Ich zeig’s dir, wenn du willst.«
«Bitte tu das«, sagte sie und schaltete das Licht aus.