2

Als ich das nächste Mal erwachte, lag ich mit dem Gesicht nach unten auf dem nackten Fußboden des eichenvertäfelten Raumes in Rowley Lodge. Zu viele nackte Bretter überall. Nicht meine Nacht.

Nach und nach kam ich wieder zu mir. Ich fühlte mich duselig, unterkühlt, halb bewußtlos, narkotisiert…

Narkotisiert.

Sie hatten die Höflichkeit besessen, mir für die Rückfahrt nicht wieder auf den Kopf zu schlagen. Der dicke Mann hatte dem amerikanischen Gummigesicht zugenickt, aber statt die Keule zu schwingen, versetzte der mir einen schnellen, stechenden Stoß in den Oberarm. Anschließend warteten wir etwa eine Viertelstunde lang, während der niemand irgend etwas sagte, und dann verlor ich plötzlich das Bewußtsein. Ich hatte nicht die leiseste Erinnerung an die Fahrt nach Hause.

Stöhnend und ächzend untersuchte ich alle zusammenhängenden Teile. Alles dran, alles in Ordnung und funktionstüchtig. Das heißt, mehr oder weniger, denn nachdem ich mit Ach und Krach wieder auf die Beine gekommen war, schien es mir ratsam, mich wieder auf den Stuhl neben dem Schreibtisch zu setzen. Ich legte meine Ellenbogen auf den Tisch und meinen Kopf in die Hände und ließ Zeit vergehen.

Draußen verwandelte der Beginn einer feuchten Morgendämmerung den Himmel in grauen Flanell. Die Ränder der Fensterscheiben waren vereist, dort, wo kondensierte, warme Luft gefroren war. Die Kälte ging mir bis auf die Knochen.

In der Gehirnabteilung waren die Dinge nicht weniger frostig.

Ich erinnerte mich nur allzu deutlich, daß Alessandro Rivera an diesem Tag seine Gegenwart fühlbar machen würde.

Vielleicht glich er ja seinem Papa, dachte ich müde, und war so übergewichtig, daß das ganze Dilemma die Ohren anlegte und sich leise davonstahl. Auf der anderen Seite, wenn es nicht so war, warum sollte sein Vater einen Vorschlaghammer benutzen, um eine Erdnuß zu knacken? Warum konnte er seinen Sohn nicht auf normale Weise in die Lehre schicken? Weil er nicht normal war, weil sein Sohn kein normaler Lehrling sein würde und weil kein normaler Lehrling erwarten konnte, seine Karriere auf einem Derbyfavoriten zu beginnen.

Ich fragte mich, wie mein Vater an meiner Stelle reagiert hätte, wenn er nicht mit einer komplizierten Fraktur von Tibia und Fibula in einem Streckverband gehangen hätte. Er hätte sich, soviel stand fest, nicht so zerschlagen gefühlt wie ich, weil er widerstandslos und mit einem Höchstmaß an Würde mitgegangen wäre. Aber er hätte nichtsdestoweniger denselben schwerwiegenden Fragen gegenübergestanden, als da wären: Hatte der dicke Mann ernsthaft die Absicht, den Stall zu zerstören, wenn sein Sohn den Job nicht bekam, und wie konnte er das bewerkstelligen?

Die Antwort auf beide Fragen war ein überdimensionales Fragezeichen.

Es war nicht mein Stall, der auf dem Spiel stand. Es waren nicht meine sechs Millionen Pfund, die da in den Pferden steckten. Es war nicht mein Lebensunterhalt, nicht mein Lebenswerk.

Ich konnte meinen Vater nicht bitten, selbst zu entscheiden; es ging ihm nicht gut genug, als daß ich ihm hätte davon erzählen können, ganz zu schweigen davon, das Für und Wider mit ihm abzuwägen.

Ich konnte den Stall auch keinem anderen übergeben, genausowenig wie eine scharfe Granate.

Ich wurde in meinem eigenen Job zurückerwartet und war bereits zu spät dran für meinen nächsten Auftrag, überhaupt war ich nur als Lückenbüßer im Stall eingesprungen, weil der tüchtige Assistent meines Vaters, der am Steuer des Rolls gesessen hatte, als sie von einem sich querstellenden Lastwagenanhänger von der Straße gefegt worden waren, jetzt im selben Krankenhaus wie mein Vater im Koma lag.

Das Ganze hatte sich zu einem beträchtlichen Problem entwickelt. Aber schließlich waren Probleme, so überlegte ich ironisch, mein Geschäft. Die Probleme mies gehender Geschäfte waren mein Geschäft.

Im Augenblick sah nichts mieser aus als meine Aussichten in Rowley Lodge.

Mit heftigem Zittern entfernte ich mich Stück um Stück von dem Tisch und dem Stuhl, ging hinaus in die Küche und machte mir einen Kaffee. Trank ihn. Zustandsverbesserung mäßig.

Schob mich millimeterweise nach oben ins Bad. Schabte die nächtlichen Barthaare ab und betrachtete leidenschaftslos das getrocknete Blut auf meiner Wange. Wusch es weg. Pistolenlaufschramme, trocken und schon auf dem Weg der Heilung.

Draußen sah ich durch die blattlosen Bäume die Lichter des Verkehrs, der wie gewöhnlich die Bury Road hinauf und hinunter donnerte. Diese Autofahrer in ihren warmen, rollenden Kisten — sie lebten in einer vollkommen anderen Welt, einer Welt, in der Entführung und Erpressung etwas waren, das immer nur anderen zustieß. Unglaublich, sich vorzustellen, daß ich nun tatsächlich zu diesen anderen gehörte.

Während ich unter einem umfassenden Gefühl körperlichen Unbehagens erschauderte, betrachtete ich mein veilchenäugiges Spiegelbild und fragte mich, wie lange ich weiter tun würde, was der dicke Mann mir sagte. Schößlinge, die sich vor dem Sturm beugten, lebten lange genug, um zu Eichen zu werden.

Lang leben die Eichen!

Ich schluckte ein paar Aspirin, hörte auf zu zittern, versuchte ein wenig mehr Vernunft in meine schwummerigen Gedanken zu bringen und kämpfte mich in Reithosen, Stiefel, zwei weitere Pullover und eine Windjacke hinein. Was immer vergangene Nacht geschehen war, oder was in Zukunft geschehen mochte, da unten warteten immer noch diese fünfundachtzig Sechs-Millionen-Pfund-Pferde darauf, daß man sich um sie kümmerte.

Sie waren auf einem Hof untergebracht, dessen Anlage im Jahre 1870 von großzügiger Geräumigkeit inspiriert gewesen war und der nun, gut hundert Jahre später, noch immer als eine eindrucksvolle, funktionierende Einheit fortbestand. Ursprünglich hatte es zwei einander gegenüberliegende Stallgebäude von jeweils drei Stallgassen gegeben, die wiederum jede zehn Boxen beherbergten. Am hinteren Ende schlossen das Futterlager und eine große Sattelkammer den Hof ab; zwischen ihnen befand sich ein großes Doppeltor. Es hatte ursprünglich auf ein Feld hinausgeführt, aber noch ganz am Anfang seiner Karriere, als sich die ersten Erfolge einstellten, hatte mein Vater hinter dem Tor zwei zusätzliche Stallgassen gebaut, die dort einen weiteren kleinen, in sich abgeschlossenen Hof mit fünfundzwanzig Boxen bildeten. Aus diesem führte ein weiteres Doppeltor nun hinaus auf eine kleine, umzäunte Trainingsanlage.

Zuletzt hatte man noch vier Boxen zur Bury Road hin angebaut, außen an die westliche Abschlußmauer des nördlichen Blocks. Es war die hinterste dieser vier Boxen, in der man gerade ein ausgewachsenes Desaster entdeckt hatte.

Mein Erscheinen in der Tür, die direkt vom Haus auf den Hof führte, setzte die Gruppe, die sich zuvor um die Außenboxen geschart hatte, abrupt in Marsch, und sie kehrte nun in zerfranster, aber zielgerichteter Formation in den Haupthof zurück. Ich sah dem Haufen an, daß ich über die Neuigkeiten nicht glücklich sein würde. Wartete gereizt darauf, sie zu hören. Krisen waren an diesem ganz besonderen Morgen alles andere als willkommen.

«Es ist Moonrock, Sir«, sagte einer der Pfleger besorgt.»Hat sich in seiner Box festgelegt und ein Bein gebrochen.«

«Aha«, sagte ich schroff.»Und jetzt kümmert euch wieder um eure eigenen Pferde. Es ist gleich Zeit fürs Morgentraining.«

«Jawohl, Sir«, bekam ich zur Antwort. Widerwillig und mit einem letzten Blick über die Schulter gingen die Männer über den Hof zu ihren Schützlingen.

«Himmel Donnerwetter!«sagte ich laut, aber ich kann nicht behaupten, daß es viel genützt hätte. Moonrock war das Reitpferd meines Vaters, ein erstklassiger, mittlerweile längst pensionierter Steeple-Chaser, den mein Vater für seine Verhältnisse ungewöhnlich gern hatte. In mancher Hinsicht der wertloseste Stallbewohner, aber auch der, dessen Verlust meinen Vater am meisten bekümmern würde. Die anderen waren außerdem versichert. Aber gegen schmerzliche Gefühle gab es ja sowieso keine Versicherung.

Langsam trottete ich zu Moonrocks Box hinüber. Der ältliche Pfleger, der ihn versorgte, stand an der Tür; das Licht aus dem Stall fiel schräg über die tiefen Sorgenfalten in seiner Schildkrötenhaut und verwandelte sie in Gletscherspalten. Als er mich kommen hörte, drehte er sich um. Die Gletscherspalten verschoben sich wie in einem Kaleidoskop zu einem neuen Bild.

«Nichts mehr zu machen, Sir. Er hat sich das Sprunggelenk gebrochen.«

Ich nickte und wünschte, ich hätte es nicht getan. Dann ging ich hinein. Der alte Moonrock war an seinem gewohnten Platz angebunden. Auf den ersten Blick schien alles in Ordnung zu sein: Er drehte mir den Kopf zu, stellte die Ohren auf, und seine feuchten schwarzen Augen zeigten nichts als die übliche Neugier. Fünf Jahre im hellsten Rampenlicht hatten ihm eine Ausstrahlung gegeben, wie sie nur intelligente und äußerst erfolgreiche Pferde zu entwickeln scheinen, eine Art Bewußtsein ihrer eigenen Größe. Er wußte mehr über das Leben und über das Rennen als irgendeines der vielversprechenden Jungpferde im Haupthof. Moonrock war fünfzehn Jahre alt und seit fünf Jahren meinem Vater ein guter Freund.

Die linke Hinterhand war vollkommen in Ordnung. Auf dieses Bein hatte er sein Gewicht verlagert. Die rechte Hinterhand schien er zu schonen.

Er hatte geschwitzt: Auf Hals und Flanken zeigten sich dunkle Flecken. Im Augenblick wirkte er jedoch soweit ganz ruhig. Kleine Strohhalme hatten sich in seinem Fell verfangen, das ungewöhnlich staubig war.

Etty Craig, die Futtermeisterin meines Vaters, stand neben ihm, tätschelte ihn beschwichtigend und sprach mit nüchterner Stimme auf ihn ein. Bekümmert wandte sie mir ihr freundliches, wettergegerbtes Gesicht zu.

«Ich habe nach dem Tierarzt geschickt, Mr. Neil.«

«Verflixt und zugenäht«, sagte ich.

Sie nickte.»Armer alter Bursche. Man sollte eigentlich denken, er wüßte es besser — nach all den Jahren.«

Ich gab ein zustimmendes Grunzen von mir, trat in die Box, strich Moonrock liebevoll über das feuchte, schwarze Maul und sah mir seine Hinterhand an — so gut ich das konnte, ohne ihn zu bewegen. Es gab absolut keinen Zweifel: Das Sprunggelenk war deformiert.

Manchmal wälzte sich ein Pferd im Stroh seiner Box auf den Rücken. Hatte es dabei zu wenig Platz, um sich ganz umzudrehen, konnte es passieren, daß es sich in seiner Box festlegte und wie wild ausschlug, um freizukommen. Die meisten Verletzungen, die dabei auftraten, waren Abschürfungen und Zerrungen, aber es war auch möglich, daß ein Pferd sich so sehr verrenkte oder so heftig ausschlug, daß es sich ein Bein brach. Unglaubliches Pech, so etwas, aber es kam glücklicherweise nur selten vor.

«Er lag noch auf dem Boden, als George reinkam, um die Box auszumisten«, sagte Etty.»George mußte erst ein paar von den Jungs dazurufen, um den alten Burschen in die Mitte der Box zu ziehen. Er ist ein bißchen langsam auf die Beine gekommen, sagt George. Und dann haben sie natürlich gemerkt, daß er nicht mehr laufen konnte.«

«Verdammte Schande«, sagte George und nickte zustimmend.

Ich seufzte.»Nichts mehr zu machen, Etty.«

«Nein, Mr. Neil.«

Während der Arbeitszeit nannte sie mich pflichtschuldigst Mr. Neil, obwohl ich als Kind einfach nur Neil für sie gewesen war. Besser für die Disziplin auf dem Hof, hatte sie einmal zu mir gesagt, und in Fragen der Disziplin würde ich ihr nie und nimmer widersprechen. Es hatte seinerzeit einen ziemlichen Wirbel in Newmarket gegeben, als mein Vater sie zur Futtermeisterin befördert hatte, aber, wie er ihr damals erklärt hatte: Sie war loyal und erfahren, würde keinerlei Unfug dulden und sich von niemandem auf der Nase herumtanzen lassen; sie hatte den Job als Dienstälteste ohnehin verdient, und wäre sie ein Mann gewesen, hätte sie ihn auch ganz automatisch bekommen. Als gerechter und logisch denkender Mensch hatte er ihr Geschlecht für unerheblich befunden. Und so avancierte sie zur einzigen Futtermeisterin in ganz Newmarket, wo schon ein weiblicher Pfleger eine Seltenheit war. Und die sechs Jahre ihrer Herrschaft waren dem Stall bestens bekommen.

Ich erinnerte mich noch an die Zeit, als ihre Eltern immer wieder bei den Ställen auftauchten und meinen Vater beschuldigten, Ettys Leben zu ruinieren. Ich war ungefähr zehn Jahre alt, als sie auf den Hof kam, und sie war neunzehn und hatte eine vornehme Erziehung auf einer teuren Privatschule hinter sich. Ihre Eltern waren mit zunehmender Verbitterung hergekommen und hatten sich darüber beschwert, daß der Stall Ettys Aussichten auf eine gute, standesgemäße Heirat verderbe, aber genau das hatte Etty nie interessiert. Wenn sie je mit Sex herumexperimentiert hatte, so hatte sie es nicht an die große Glocke gehängt — und wahrscheinlich war ihr die ganze Angelegenheit langweilig vorgekommen. Sie hatte nichts gegen Männer, behandelte sie jedoch, wie sie ihre Pferde behandelte: mit forscher Freundlichkeit, immensem Verständnis und kühler Bestimmtheit.

Seit dem Unfall meines Vaters trug sie praktisch die volle Verantwortung für alles. Ich hatte eine befristete Lizenz bekommen, um hier die Stellung halten zu können — offiziell hatte ich nun das Sagen im Stall, aber wir wußten beide, daß ich ohne sie verloren gewesen wäre.

Während ich zusah, wie ihre geschickten Hände ruhig über Moonrocks braunes Fell glitten, kam mir der Gedanke, daß der dicke Mann in mir vielleicht einen leichten Gegner gewittert hatte — mit Miss Henrietta Craig würde sein Sohn Alessandro jedoch sein blaues Wunder erleben, falls er bei uns in die Lehre ging.

«Geh du besser mit dem Lot raus, Etty«, sagte ich.»Ich bleibe hier und warte auf den Tierarzt.«

«Gut«, sagte sie. Wahrscheinlich hatte dieser Vorschlag ihr schon selbst auf der Zunge gelegen. Diese Arbeitsteilung war nur vernünftig, denn die Pferde waren schon gut durchtrainiert, die nächste Rennsaison stand vor der Tür, und sie wußte besser als ich, was für die Tiere auf dem Programm stand.

Sie winkte George heran, damit er Moonrocks Halfter übernahm und ihn weiter ruhighielt. Zu mir sagte sie, als sie aus der Box trat:»Was halten Sie von diesem Frost? Es dürfte wohl bald tauen.«

«Bring die Pferde rüber zum Warren Hill und entscheide selbst, ob ihr sie galoppieren lassen könnt.«

Sie nickte.»Mach’ ich. «Dann warf sie noch einen letzten Blick auf Moonrock, und für einen kurzen Moment legte sich ein weicher Zug um ihren Mund.»Mr. Griffon wird traurig sein.«

«Ich werde ihm nichts davon erzählen.«

«Hm. «Mit einem knappen, geschäftsmäßigen Lächeln ging sie hinaus auf den Hof, eine kleine, schlanke Gestalt, unerschrocken und kompetent.

Moonrock war bei George in bester Obhut. Ich folgte Etty zurück auf den Haupthof und sah zu, wie die Pferde aufbrachen: dreiunddreißig im ersten Lot. Die Pfleger führten ihre Schützlinge aus den Boxen, sprangen in die Sättel und ritten über den Hof, durch das erste Doppeltor, dann über den Vorhof und durch das letzte Tor auf den Trabring. Der Himmel hellte sich von Minute zu Minute weiter auf, und ich gab Etty im stillen recht, was das Tauwetter betraf.

Nach etwa zehn Minuten, als die Tiere in die richtige Reihenfolge gebracht waren, trabten sie aus dem Ring, durch die Bäume und den Grenzzaun direkt hinaus auf die Heide.

Noch bevor das letzte Tier außer Sicht war, hörte ich ein lautstarkes Knirschen in der Auffahrt hinter mir, und der Landrover des Tierarztes kam mit einem Hagel von Kies zum Stehen. Mit der Tasche in der Hand sprang der Mann aus dem Wagen und sagte:»Heute morgen hat aber auch jedes verdammte Pferd auf der Heide Koliken oder eingewachsene Zehennägel… Sie müssen Neil Griffon sein… tut mir leid, das mit Ihrem Vater. Etty sagt, es geht um den alten Moonrock. immer noch in der gleichen Box?«Ohne Luft zu holen, ließ er mich stehen und ging mit großen Schritten an den äußeren Boxen entlang. Jung, rundlich, zielbewußt — und keineswegs der Tierarzt, den ich erwartet hatte. Der Mann, den ich kannte, war eine ältere Version, langsamer, augenzwinkernd, genauso rundlich und mit der Angewohnheit, sich den Kiefer zu reiben, wenn er über etwas nachdachte.

«Tut mir wirklich leid«, sagte der junge Tierarzt, nachdem er

Moonrock volle drei Sekunden lang untersucht hatte.»Muß eingeschläfert werden, fürchte ich.«

«Das Gelenk ist nicht vielleicht nur ausgerenkt?«erkundigte ich mich zaghaft. Ein letzter Strohhalm…

Er warf mir einen kurzen Blick zu, in dem das ganze Verständnis des Experten für die Unwissenheit des Laien lag.»Das Gelenk ist zertrümmert«, sagte er lakonisch.

Er tat, weshalb man ihn gerufen hatte, und der wunderbare alte Moonrock sackte still im Stroh zusammen. Als der Tierarzt dann seine Tasche wieder einräumte, sagte er:»Machen Sie kein so unglückliches Gesicht. Er hatte ein besseres Leben als die meisten. Und seien Sie froh, daß es nicht Archangel war.«

Ich sah zu, wie sich sein draller Rücken mit erstaunlicher Geschwindigkeit entfernte. Dem Vater gar nicht so unähnlich, dachte ich. Nur schneller.

Langsam ging ich ins Haus und rief den Abdecker an. Er komme sofort, sagte er munter. Und binnen einer halben Stunde war er da.

Noch eine Tasse Kaffee. Ich setzte mich an den Küchentisch und fühlte mich noch immer miserabel. Entführungen bekamen mir nicht.

Das Lot kam von der Heide zurück — ohne Etty, ohne den zweijährigen Hengst namens Lucky Lindsay, dafür aber mit einer langen schrecklichen Geschichte.

Ich hörte mit wachsendem Entsetzen zu, wie mir drei Leute gleichzeitig erzählten, daß Lucky Lindsay drüben am Warren Hill plötzlich umgedreht war und den kleinen Ginge abgeworfen hatte, bevor er davongaloppiert war. Zuerst hatte es den Anschein gehabt, als wollte er nach Hause, aber dann war er in die Moulton Road eingebogen, hatte einen Mann vom Fahrrad geworfen und einer Frau mit einem Kinderwagen zu einem hysterischen Anfall verholfen. Endstation war schließlich der Glockenturm gewesen, wo er den Verkehr lahmlegte. Die

Polizei, fügte einer der Jungen mit mehr Belustigung als Bestürzung hinzu, unterhielt sich zur Zeit mit Miss Etty.

«Und der Hengst?«fragte ich. Denn Etty konnte auf sich selbst aufpassen, aber Lucky Lindsay hatte dreißigtausend Guineen gekostet und konnte das nicht.

«Jemand hat ihn auf der High Street eingefangen, vor Woolworths.«

Ich schickte sie wieder zu ihren Pferden und wartete auf Ettys Rückkehr. Ich brauchte nicht lange zu warten. Sie ritt Lucky Lindsay selbst und hatte einen kleinlauten und demoralisierten Ginge im Schlepptau, der auf einer ruhigen, dreijährigen Stute hinter ihr her trottete.

Etty sprang aus dem Sattel und fuhr mit geübter Hand über Lucky Lindsays haselnußbraune Beine.

«Nicht viel passiert«, sagte sie.»Er scheint hier einen kleinen Schnitt zu haben… hat er sich wahrscheinlich an der Stoßstange eines geparkten Wagens geholt.«

«Nicht an dem Fahrrad?«fragte ich.

Sie blickte auf und straffte sich.»Glaub’ ich nicht.«

«Ist der Radfahrer verletzt?«

«Ein bißchen mitgenommen«, gab sie zu.

«Und die Frau mit dem Kinderwagen?«

«Wenn jemand während der Morgenarbeit mit einem Baby im Wagen und einem Kleinkind an der Hand über die Moulton Road geht, sollte er auf durchgehende Pferde gefaßt sein. Das blöde Weib hörte überhaupt nicht mehr auf zu schreien. Was den Hengst natürlich endgültig aus der Fassung brachte. Gerade hatte ihn jemand eingefangen, aber bei diesem Geschrei riß er sich natürlich los und galoppierte in die Stadt.«

Sie hielt inne und sah mich an.»Tut mir leid, das Ganze.«

«Kann vorkommen«, sagte ich. Ich unterdrückte ein kleines, innerliches Lachen über die Position von Hengsten und Babys in

Ettys Rangordnung. Nicht weiter überraschend. Für sie waren Hengste eben wichtiger als Menschen — und damit basta.

«Wir waren gerade mit dem Kanter durch«, sagte sie.»Der Boden war in Ordnung. Wir sind das ganze Programm durchgegangen, das wir gestern zusammengestellt hatten. Und als wir gerade nach Hause reiten wollten, hat Lucky Lindsay Ginge abgeworfen.«

«Ist der Hengst zuviel für ihn?«

«Hätte ich eigentlich nicht gedacht. Er hat ihn schon früher geritten.«

«Das ist deine Entscheidung, Etty.«

«Dann gebe ich ihm jetzt für ein oder zwei Tage ein leichteres Pferd…«Fast ein Eingeständnis, daß es ein Fehler gewesen war, Ginge auf Lucky Lindsay zu setzen — für ihre Verhältnisse schon sehr viel. Sie führte den Hengst weg und übergab ihn seinem Pfleger. Jeder konnte vom Pferd fallen, jederzeit. Nur manchen passierte es eben öfter als anderen.

Frühstück. Die Pfleger versorgten die Pferde, die sie gerade geritten hatten, und eilten in den Speiseraum zu Porridge, Schinkenbroten und Tee. Ich ging zurück ins Haus und hatte nicht den geringsten Appetit.

Es war immer noch kalt im Haus. Traurige Berge von Tannenzapfen stapelten sich in den Kaminen von zehn Schlafzimmern voller unter Schonbezügen verborgenen Betten, und im Salon stand ein kunstvoll geschmiedeter Ofenschirm vor der Feuerstelle. In dem höhlenartigen Schlafzimmer, das mein Vater benutzte, befand sich eine Heizsonne und in dem eichenvertäfelten Raum, in dem er des Abends am Schreibtisch saß, ein winziger elektrischer Heizkörper. Nicht einmal in der Küche war es warm, da der Herd seit Monaten in Reparatur war. Ich war in diesem Haus aufgewachsen und nahm daher normalerweise die Kälte, die im Winter dort herrschte, gar nicht mehr wahr: Aber schließlich war ich normalerweise ja auch nicht in so elender Verfassung.

In der Küchentür tauchte ein Kopf auf. Gepflegtes dunkles Haar schlang sich weich um den Nacken, um dann in einem triumphalen Arrangement hochaufgetürmter Locken oben auf dem Kopf zu gipfeln.

«Mr. Neil?«

«Ach. Guten Morgen, Margaret.«

Ein Paar schöner, dunkler Augen unterzog mich einer eingehenden Musterung. Schmale Nasenflügel bebten leicht, witterten die Atmosphäre. Wie gewöhnlich bekam ich nicht mehr zu sehen als den Hals und die Hälfte einer Wange, denn die Sekretärin meines Vaters war mit ihrer Gegenwart genauso sparsam wie mit allem anderen.»Es ist kalt hier drinnen«, sagte sie.

«Ja.«

«Im Büro ist es wärmer.«

Die Kopfhälfte verschwand und kam nicht wieder. Ich beschloß anzunehmen, was — wie ich wußte — als Einladung gemeint war, und ging zurück in den Teil des Hauses, der an den Hof grenzte. Dort lagen das Stallbüro, ein Garderobenraum und das einzige Zimmer, dessen Mobiliar das Gefühl von Komfort aufkommen ließ, das Zimmer, das wir den Besitzerraum nannten; hier empfingen wir Besitzer und verschiedene andere Leute, die dem Stall gelegentlich einen Besuch abstatteten.

Das künstliche Licht im Büro leuchtete hell gegen das Grau des Tages an. Margaret legte ihren Schaffellmantel ab, während ein pilzförmiges Heizgerät emsig heiße Luft ausstieß.

«Anweisungen?«fragte sie kurz.

«Ich habe die Briefe noch nicht geöffnet.«

Sie warf mir einen schnellen, verständnisvollen Blick zu.

«Ärger?«

Ich erzählte ihr von Moonrock und Lucky Lindsay. Sie hörte aufmerksam zu, verriet keinerlei Gefühle und fragte, wie ich zu den Schnitten in meinem Gesicht gekommen sei.

«Bin gegen eine Tür gerannt.«

Ihr Gesichtsausdruck sagte unmißverständlich:»Wer’s glaubt, wird selig«, aber sie behielt ihre Meinung für sich.

Auf ihre Weise war sie genauso unweiblich wie Etty, trotz ihres Rocks, ihrer Frisur und ihres zweckmäßigen Make-ups. Sie war Ende Dreißig, seit drei Jahren Witwe und zog mit meisterhafter Organisation einen Jungen und ein Mädchen groß; sie strotzte nur so vor Intelligenz und hielt die Welt um Armeslänge von ihrem Herzen fern.

Margaret war neu auf Rowley Lodge. Sie hatte die Stelle des maushaften alten Robinson übernommen, der schließlich, wenn auch widerwillig, mit siebzig Jahren in den Ruhestand getreten war. Der alte Robinson hatte gern ein Schwätzchen gehalten und in meiner Kindheit viele seiner Arbeitsstunden damit vertrödelt, mir von jenen Tagen zu erzählen, in denen Charles der Zweite selbst Rennen geritten war und Newmarket zur zweiten Hauptstadt Englands gemacht hatte, so daß die Botschafter sich hierher bemühen mußten, wenn sie mit ihm sprechen wollten. Oder er erzählte mir, wie der Prinzregent die Stadt für immer verließ, weil man nach einem Rennen den Lauf seines Hengstes Escape untersucht hatte, wie er sich weigerte zurückzukehren, obwohl er darum gebeten wurde und der Jockey Club sich entschuldigte, und wie König Edward der Siebte im Jahre 1905 Schwierigkeiten mit der Polizei bekam, weil er die Straße nach London hinuntergejagt war — mit vierzig Meilen die Stunde auf gerader Strecke.

Margaret verrichtete die Arbeit des alten Robinson sorgfältiger und in der Hälfte der Zeit, und nachdem ich sie nun sechs Tage kannte, verstand ich, warum mein Vater so große Stücke auf sie hielt. Sie verlangte keine Freundlichkeiten, und er war ein Mann, der die meisten menschlichen Beziehungen langweilig fand. Nichts ermüdete ihn schneller als Menschen, die ständig Aufmerksamkeit für ihre Gefühle und Probleme heischten, und selbst Höflichkeitsfloskeln über das Wetter irritierten ihn. Margaret schien eine verwandte Seele zu sein, und sie kamen hervorragend miteinander aus.

Ich ließ mich in den drehbaren Bürosessel meines Vaters fallen und wies Margaret an, die Briefe selbst zu öffnen. Mein Vater ließ niemals jemanden seine Briefe öffnen und war in dieser Hinsicht geradezu verbohrt. Sie tat einfach, was ich sagte, ohne Kommentar, sei es mit Worten oder Gesten. Wunderbar.

Das Telefon klingelte. Margaret nahm den Hörer ab.

«Mr. Bredon? O ja. Er wird sich freuen, daß Sie anrufen. Ich werde Sie zu ihm durchstellen.«

Sie reichte mir den Hörer über den Schreibtisch und sagte:»John Bredon.«

«Danke.«

Ohne eine Spur des Eifers, den ich noch tags zuvor gezeigt hätte, nahm ich den Hörer. Ich hatte drei aufreibende Tage damit zugebracht, jemanden zu finden, der kurzfristig frei war und Rowley Lodge übernehmen konnte, bis das Bein meines Vaters geheilt war. Und von allen Leuten, die hilfsbereite Freunde vorgeschlagen hatten, schien einzig John Bredon, ein älterer, vor kurzem in den Ruhestand getretener Trainer, über ausreichend Erfahrung und Format zu verfügen. Er hatte sich Bedenkzeit erbeten und gesagt, er würde mich seine Entscheidung so bald als möglich wissen lassen.

Er rief an, um mir zu sagen, daß er gern kommen würde. Ich dankte ihm und erteilte ihm mit einer verlegenen Entschuldigung eine Absage.»Es ist so, ich habe noch einmal darüber nachgedacht und beschlossen, selbst hierzubleiben.«

Langsam legte ich den Hörer auf die Gabel; Margarets Erstaunen war deutlich zu spüren. Ich erklärte nichts. Sie fragte nichts. Nach einer Pause machte sie sich daran, die übrigen

Briefe zu öffnen.

Wieder klingelte das Telefon. Diesmal fragte sie mich mit undurchdringlichem Gesichtsausdruck, ob ich vielleicht Mr. Russell Arletti zu sprechen wünsche.

Schweigend streckte ich die Hand nach dem Hörer aus.

«Neil?«blaffte eine Stimme durchs Telefon.»Wo zum Teufel steckst du? Ich habe Grey und Cox für gestern deinen Besuch angekündigt. Sie beschweren sich. Wie bald kannst du dort sein?«

Grey und Cox in Huddersfield warteten darauf, daß Arletti Incorporated untersuchte, warum ihr einst gewinnträchtiges Geschäft langsam den Bach runter ging. Doch der von Arletti mit der Untersuchung Beauftragte saß verzagt in einem Stallbüro in Newmarket und wünschte, er wäre tot.

«Du wirst Grey und Cox sagen müssen, daß ich nicht kommen kann.«

«Daß du was?«

«Russell… Schreib mich für eine Weile ab. Ich muß hierbleiben.«

«Aber warum um Gottes willen?«

«Ich kann niemand finden, der den Stall übernimmt.«

«Du hast gesagt, du würdest nicht länger als eine Woche brauchen.«

«Dann habe ich mich eben geirrt. Ich finde keinen passenden Ersatz. Ich kann nicht Grey und Cox bei ihren Schwierigkeiten helfen und in Rowley Lodge derweil die Zügel schießen lassen. Es geht hier um sechs Millionen. Ob es dir gefällt oder nicht, ich muß bleiben.«

«Verdammt, Neil.«

«Es tut mir wirklich leid.«

«Grey und Cox werden fuchsteufelswild sein. «Er war verzweifelt.

«Fahr doch selbst. Es ist sicher nur das Übliche. Schlechte Kalkulationen. Festlegung zu niedriger Preise für ihre Produkte im Planungsstadium. Mieser Cash-flow. Sie sagen, sie hätten keine Störenfriede im Betriebsrat, also steht’s hundert zu eins, daß es lausige Finanzpolitik ist.«

Er seufzte.»Ich habe nicht ganz deine Fähigkeiten. Ich habe bessere, klar, aber nicht dieselben. «Er hielt inne, um nachzudenken.»Werde wohl James hinschicken, wenn er von Shoreham zurückkommt. Falls du dir ganz sicher bist.«

«Schreib mich besser für mindestens drei Monate ab.«

«Neil!«

«Besser sogar bis nach dem Derby.«

«So lange kann ein Bein doch unmöglich brauchen«, protestierte er.

«Es ist in einem verheerenden Zustand. Die Knochen sind gesplittert und durch die Haut gedrungen, und es stand auf des Messers Schneide, ob amputiert werden mußte.«

«Ach zum Teufel!«

«Ich ruf dich an«, sagte ich.»Sobald es so aussieht, daß ich wieder frei bin.«

Nachdem er eingehängt hatte, saß ich mit dem Hörer in der Hand da und starrte ins Leere. Langsam legte ich ihn wieder auf die Gabel.

Margaret saß reglos da, die Augen beflissentlich niedergeschlagen, der Mund ausdruckslos. Sie machte keinerlei Bemerkung zu der Lüge, die ich soeben erzählt hatte.

Es war, so überlegte ich, wohl nur die erste von vielen.

Загрузка...