5

Als ich nach Newmarket zurückkam, nieselte es. Ein kalter, feuchter, scheußlicher Morgen auf der Heide. Außerdem war das erste, was ich sah, als ich in die Einfahrt von Rowley Lodge einbog, der unwillkommene weiße Mercedes.

Der uniformierte Chauffeur saß hinter dem Lenkrad, der kühle, junge Alessandro auf dem Rücksitz. Als ich nicht weit von ihm entfernt parkte, war er schneller aus seinem Wagen heraus als ich aus meinem.

«Wo sind Sie gewesen?«fragte er und betrachtete naserümpfend meinen silbergrauen Jensen.

«Und wo waren Sie?«erwiderte ich freundlich und handelte mir damit die volle Eiseskälte eines Rivera-Spezialblicks ein.

«Ich bin gekommen, um anzufangen«, sagte er verbissen.

«Das sehe ich.«

Er trug vorzüglich geschnittene Reithosen und glänzende braune Stiefel. Sein wasserfester Anorak kam aus einem teuren Skigeschäft, und seine Lederhandschuhe waren sauber und hellgelb. Er glich mehr einer Anzeige in Country Life als einem berufsmäßigen Rennreiter.

«Ich muß erst rein und mich umziehen«, sagte ich.»Sie können anfangen, wenn ich wiederkomme.«

«Gut.«

Wieder wartete er in seinem Wagen und tauchte sofort daraus auf, als ich aus dem Haus kam. Mit einer ruckartigen Kopfbewegung bedeutete ich ihm, mir zu folgen, und ging ihm voran in den Hof hinunter, während ich mich fragte, was für einen Wirbel ich wohl mit Etty erleben würde.

Sie war in einer Box in Stallgasse drei und half einem sehr kleinen Pfleger, eine Einsdreiundsiebzig-Stute zu satteln, und mit Alessandro auf den Fersen ging ich hinüber, um mit ihr zu reden. Sie kam aus der Box und warf Alessandro einen ausgiebigen, neugierigen Blick zu.

«Etty«, sagte ich sachlich.»Das ist Alessandro Rivera. Er hat den Ausbildungsvertrag unterzeichnet. Er fängt heute an. Ähm, genau jetzt, meine ich. Was können wir ihm zum Reiten geben?«

Etty räusperte sich.»Sagten Sie, Sie hätten ihn in die Lehre genommen?«

«Eben das.«

«Aber wir brauchen keine Leute mehr«, protestierte sie.

«Er braucht sich auch nicht um zwei Pferde zu kümmern wie die anderen. Er macht nur Reittraining.«

Sie warf mir einen verblüfften Blick zu.»Alle Lehrlinge versorgen zwei Pferde.«

«Dieser nicht«, sagte ich energisch.»Wie steht’s mit einem Pferd für ihn?«

Ziemlich verwirrt versuchte sie nun, ihre Aufmerksamkeit auf das unmittelbar anstehende Problem zu richten.

«Da wäre Indigo«, sagte sie zweifelnd.»Ich habe ihn für mich selbst satteln lassen.«

«Indigo ist genau richtig«, nickte ich. Indigo war ein ruhiger, zehnjähriger Wallach, den Etty oft als Führpferd für die Zweijährigen ritt und auf dem sie vollkommen untrainierten Lehrlingen gern ihre ersten Reitstunden gab. Ich unterdrückte den Drang, Alessandro bloßzustellen, indem ich ihn auf etwas wirklich Schwieriges setzte; konnte es nicht riskieren, teures Eigentum zu beschädigen.

«Miss Craig ist die Futtermeisterin«, sagte ich zu Alessandro.»Und Sie werden Ihre Anweisungen von ihr bekommen.«

Er warf ihr einen schwarzen, unergründlichen Blick zu, den sie unsicher erwiderte.

«Ich zeige ihm, wo Indigo steht«, beruhigte ich sie.»Außerdem auch die Sattelkammer und so weiter.«

«Ich habe Ihnen für heute morgen Cloud Cuckoo-land zugeteilt, Mr. Neil«, sagte sie zögernd.»Jock hat ihn sicher schon fertig.«

Ich zeigte Alessandro die Sattelkammer und die Futterkammer und erklärte ihm den allgemeinen Grundriß des Stalls, bevor ich ihn zur Einfahrt zurückbrachte.

«Ich nehme keine Befehle von einer Frau entgegen«, sagte er.

«Werden Sie wohl müssen«, erwiderte ich ohne Betonung.

«Nein.«

«Dann auf Wiedersehen.«

Kochend vor Wut blieb er einen Schritt hinter mir zurück, folgte mir aber bis zu den Außenboxen und drehte nicht zu seinem Wagen ab. Indigos Box lag neben der von Moonrock, und er stand mit Sattel und Zaumzeug geduldig da, hatte sein Gewicht auf ein Bein verlagert und sah träge zu, wie ich seine Tür entriegelte.

Alessandros Blick überflog ihn von vorn bis achtern, bevor er sich mit unverhohlenem Ärger zu mir umdrehte.

«Ich reite keine alten Klepper. Ich wünsche Archangel zu reiten.«

«Niemand läßt einen Diamantschleiferlehrling mit dem Kohinoor anfangen«, sagte ich.

«Ich kann jedes Rennpferd auf der Welt reiten. Ich reite außerordentlich gut.«

«Dann beweisen Sie’s auf Indigo, und ich gebe Ihnen etwas Besseres fürs zweite Lot.«

Er kniff die Lippen zusammen. Ich betrachtete ihn mit dem vollkommenen Mangel an Gefühl, der bei Geschäftsverhandlun-gen immer die Wogen glättet; und nach ein oder zwei Sekunden funktionierte es bei ihm genauso. Sein Blick löste sich von meinem Gesicht, er zuckte mit den Schultern, ich nahm Indigo das Stallhalfter ab und führte ihn aus seiner Box. Alessandro sprang mühelos in den Sattel, ließ seine Füße in die Steigbügel gleiten und griff nach den Zügeln. Seine Bewegungen waren präzise und ungeziert, und er ließ sich auf dem Rücken des alten Indigo nieder, als wäre er da zu Hause. Ohne ein weiteres Wort ritt er den Hof hinunter und schnallte währenddessen die Bügelriemen kürzer, denn Etty ritt lang.

Den Blick auf seine Kehrseite geheftet, folgte ich ihm auf dem Fuß, während die Pfleger aus allen Stallgassen die Pferde zum ersten Lot herausbrachten. Unten im Trabring kreisten sie auf der äußeren Aschenbahn, während Etty auf dem Grasfleck in der Mitte stand und sich der zehnminütigen Aufgabe unterzog, einige der Reiter auszutauschen. Die Pfleger, die die Pferde versorgten, ritten beim Training nicht notwendigerweise ihre eigenen Schützlinge; jedes Pferd mußte von einem Reiter geritten werden, der es zumindest unter Kontrolle hatte und im besten Falle weiterbringen konnte. Die bescheidensten Reiter bekamen für gewöhnlich die Aufgabe, alle Pferde, die nicht in Form waren, zu Hause im Ring Schritt gehen zu lassen; Etty ließ sie nur selten auf die Galoppbahnen auf der Heide los.

Ich trat zu ihr in die Mitte, während sie ihre Liste konsultierte. Sie trug einen hellgelben Südwester, über den im Augenblick beständiger Nieselregen rann. Sie sah aus wie eine Miniaturausgabe eines amerikanischen Feuerwehrmannes. Die flüchtig hingekritzelte Liste in ihrer Hand löste sich langsam in Brei auf.

«Ginge, du nimmst Pullitzer«, sagte sie.

Ginge tat schmollend wie geheißen. Zwischen Pullitzer und Lucky Lindsay lagen Welten, und er hatte das Gefühl, sein Gesicht verloren zu haben.

Etty sah kurz zu Alessandro hinüber, der auf Indigo um die

Bahn zockelte, und registrierte mit einem beiläufigen Blick, daß er zumindest mit ihm problemlos fertig wurde. Sie sah mich verdutzt und fragend an, aber ich lenkte sie von ihm ab, indem ich fragte, wen sie auf unseren Problemhengst Traffic setzen wolle.

Sie schüttelte frustriert den Kopf.»Es muß wohl wieder Andy sein… Ein richtiger kleiner Teufel, dieser Traffic. Die ganze Rasse ist so, man kann keinem einzigen von ihnen trauen. «Sie drehte sich um und rief nach ihm:»Andy… geh du auf Traffic.«

Andy, in mittleren Jahren, winzig, faltig, konnte den allerschönsten Trainingsgalopp reiten. Als er aber vor Jahren seine Chance bei den Rennen bekommen hatte, wußte er nicht mehr, was oben und unten war, und sein Verständnis für Taktik war gleich null. Nun ließ er sich auf den reizbaren dunklen Zweijährigen werfen, der unruhig hin und her zappelte und gnadenlos Bocksprünge unter ihm vollführte.

Etty selbst war auf Lucky Lindsay umgestiegen, der eine Kappe über dem verletzten Knie trug und, obwohl er wieder frei ging, nicht kantern würde. Mit Cloud Cuckoo-land hatte sie mir das nächstbeste nach einem Hack gegeben, einen starken, fünfjährigen Handikapper, dem das Gewicht eines ausgewachsenen Mannes keine Mühe bereitete. Nachdem alle aufgestiegen waren, wurden die Tore zur Heide geöffnet, und das ganze Lot schlängelte sich auf die Schrittbahn hinaus… die Hengste wie immer an der Spitze, die Stuten dahinter.

Um zu den Southfields-Galoppbahnen neben der eigentlichen Rennbahn zu gelangen, bogen wir hinter dem Tor nach rechts ab und ritten hinter den anderen Ställen entlang, die an der Bury Road verstreut lagen. Kamen vorbei an der Anschlagtafel des Jockey Clubs, der zu entnehmen war, welche Trainingsbereiche an diesem Tag benutzt werden durften. Überquerten die A II und hielten schwere Lastwagen mit ungeduldig zuckenden Scheibenwischern auf. Schlängelten uns durch die Severals, den Watercourse entlang über den St. Mary’s Square, durch die

Rows bis in die Southfields. Keine andere Stadt in England verfügte über eine gesonderte Folge von Straßen, auf denen der einzig zulässige Verkehr Pferde waren; man konnte von einem Ende Newmarkets zum anderen gelangen, nur wenige Meter an seiner überfüllten High Street vorbei, und nur einen Bruchteil des Wegs auf öffentlichen Straßen zurücklegen.

Wir waren an diesem Morgen das einzige Lot auf der Southfields-Bahn, und Etty verschwendete keine Zeit, sondern ließ die Pferde sofort kantern. Oben an der Straße, die zur Rennbahn führte, sahen wir die beiden unvermeidlichen Wagen und die beiden Männer, die in den Nieselschwaden standen und uns unverkennbar durch Ferngläser beobachteten.

«Sie lassen keinen Tag aus«, sagte Etty säuerlich.»Und wenn sie glauben, wir hätten Archangel mitgebracht, steht ihnen eine Enttäuschung bevor.«

Die Turfspione beobachteten uns standhaft, aber was sie aus einer halben Meile Entfernung durch anhaltenden Nieselregen sehen konnten, das wußten nur die Götter. Sie arbeiteten nicht für Buchmacher, sondern für Rennsportkolumnisten, die sich auf ihre Berichte stützten, um ihre Seiten zu füllen. Ich dachte, es könnte eine sehr gute Sache sein, so lange wie möglich dafür zu sorgen, daß ihre Aufmerksamkeit nicht auf Alessandro fiel.

Er kam mit Indigo bestens zurecht, aber der Wallach war ja auch ein anspruchsloser alter Bursche, der nicht einmal die Fähigkeit des Pony Clubs überstrapaziert hätte. Immerhin hielt er sich gut im Sattel und hatte eine ruhige Hand.»He, du«, sagte Etty und zeigte mit der Peitsche auf ihn.»Komm hier herüber.«

Zu mir sagte sie, während sie sich von Lucky Lindsay heruntergleiten ließ:»Wie war noch sein Name?«

«Alessandro.«

«Aless.? Viel zu lang.«

Indigo wurde neben ihr zum Stehen gebracht.»Du da, Alex«, sagte sie.»Spring runter und halte dieses Pferd.«

Ich dachte, er würde explodieren. Sein wütendes Gesicht sagte deutlich, daß niemand das Recht hatte, ihn Alex zu nennen, und daß niemand, aber auch gar niemand, ihn herumzukommandieren hatte. Vor allem keine Frau.

Er sah, daß ich ihn beobachtete, und plötzlich war aller Ausdruck aus seinem Gesicht verschwunden, wie von einem Schwamm weggewischt. Er schüttelte seine Füße aus den Bügeln, schwang ein Bein behende nach vorn über Indigos Widerrist und ließ sich mit dem Gesicht zu uns gewandt zu Boden gleiten. Dann ergriff er die Zügel von Lucky Lindsay, die Etty ihm hinhielt, und gab ihr die von Indigo. Sie verlängerte die Bügelriemen, stieg in den Sattel und ritt kommentarlos davon, um die sechs Zweijährigen, die wir mitgebracht hatten, zu führen.

Wie ein Vulkan vor dem Ausbruch sagte Alessandro nun:»Ich werde keine Befehle mehr von dieser Frau entgegennehmen.«

«Stellen Sie sich nicht so verdammt blöd an«, sagte ich.

Er blickte zu mir auf. Der feine Regen hatte sein schwarzes Haar durchnäßt, so daß die Locken jetzt in Wellen an seinem Kopf klebten. Mit der arroganten Nase, dem zurückgelegten Schädel und dem dichten Haar sah er aus wie eine zum Leben erweckte römische Statue.

«Sprechen Sie nicht so mit mir. Niemand spricht so mit mir.«

Cloud Cuckoo-land stand mit aufgestellten Ohren geduldig da und sah einigen Möwen zu, die über die Heide flogen.

Ich sagte:»Sie sind hier, weil Sie es so wollen. Niemand hat Sie gebeten zu kommen, und niemand wird Sie davon abhalten, wieder zu gehen. Aber solange Sie hierbleiben, werden Sie tun, was Miss Craig sagt, und Sie werden tun, was ich sage, und zwar ohne Widerrede. Ist das klar?«

«Mein Vater wird nicht zulassen, daß Sie mich so behandeln.«

Sein Zorn war so gewaltig, daß er am ganzen Körper erstarrt war.

«Ihr Vater«, sagte ich kalt,»muß ja überglücklich sein, einen Sohn zu haben, der es nötig hat, sich hinter seinen Rockschößen zu verstecken.«

«Das wird Ihnen noch leid tun«, drohte er zornig.

Ich zuckte mit den Schultern.»Ihr Vater sagte, ich sollte Ihnen gute Pferde bei den Rennen geben. Es war nicht die Rede davon, daß ich vor einem verwöhnten, kleinen Halbgott in die Knie gehen soll.«

«Ich werde ihm sagen.«

«Sagen Sie ihm, was Sie wollen. Aber je öfter Sie zu ihm laufen, um so weniger werde ich von Ihnen halten.«

«Es ist mir egal, was Sie von mir halten«, sagte er heftig.

«Sie sind ein Lügner«, erwiderte ich ausdruckslos, und er warf mir einen langen, schmallippigen Blick zu, bis er sich abrupt abwandte. Er führte Lucky Lindsay zehn Schritte weg und blieb dort stehen, um die Kanter zu beobachten, die Etty kurz zuvor eingeteilt hatte. Jeder Quadratzentimeter dieser schlanken Gestalt sprach von verletztem Stolz und flammendem Groll, und ich fragte mich, ob sein Vater wirklich glauben würde, daß ich zu weit gegangen war. Und wenn dem so war, was würde er deswegen unternehmen?

Mit einem geistigen Achselzucken vertagte ich den Gedanken an mögliche Unannehmlichkeiten bis auf weiteres und versuchte, die jeweiligen Fähigkeiten der Zweijährigen einzuschätzen. Sosehr die Leute mich dafür verspotteten, daß ich die Lizenz meines Vaters übernommen hatte, stellte ich doch fest, daß die in der Kindheit erworbenen Fähigkeiten nach neunzehn Jahren genauso natürlich zurückkehrten wie das Fahrradfahren; und welches einsame Kind konnte schon in einem Rennstall aufwachsen, ohne das Gewerbe von der Mistgabel auf zu erlernen? Ich hatte draußen die Pferde zur Gesellschaft gehabt und drinnen die Möbel, und wenn es mir gelungen war, ein Geschäft aus totem Holz aufzubauen, so nahm ich an, daß ich genausogut versuchen konnte, beim lebendigen Fleisch die Dinge in Gang zu halten. Aber, rief ich mir ins Gedächtnis, nur so lange, wie ich brauchte, um Alessandro loszuwerden.

Etty kam nach dem Kantern zurück und wechselte noch einmal die Pferde.

«Wirf mich rauf«, befahl sie Alessandro barsch; denn Lucky Lindsay hatte es wie die meisten Vollblüter nicht gern, wenn die Reiter auf ihn hinaufkletterten, um in den Sattel zu gelangen.

Einen Augenblick dachte ich, das ganze Theater fliege auf. Alessandro richtete sich zu seiner vollen Größe auf, so daß er Etty um mindestens fünf Zentimeter überragte, und schleuderte ihr einen Blick zu, der sie hätte einäschern müssen. Etty bemerkte es nicht; wirklich nicht.

«Na, komm schon«, sagte sie ungeduldig und streckte ihr Bein im Knie gebeugt nach hinten.

Alessandro warf einen verzweifelten Blick in meine Richtung, holte dann sichtbar tief Luft, schlang sich Indigos Zügel um den Arm und legte seine beiden Hände unter Ettys Fuß. Er machte sich ganz gut, obwohl ich nicht überrascht gewesen wäre, wenn dies das erste Mal in seinem Leben war, daß er jemandem aufs Pferd half.

Ich vermied es sorgsam, zu lachen, zu grinsen oder sonst irgendwie zu zeigen, daß ich an der Situation irgend etwas Bemerkenswertes fand. Alessandro schluckte seine Kapitulation ohne zu mucksen hinunter. Aber es deutete nichts darauf hin, daß das ein Dauerzustand sein würde.

Wir ritten durch die Stadt zurück und auf den Hof, wo ich Cloud Cuckoo-land wieder Jock übergab und ins Büro ging, um mich mit Margaret zu besprechen. Sie hatte das Pilz-Öfchen voll aufgedreht, aber ich bezweifelte, daß ich, bevor wir mit dem zweiten Lot aufbrachen, wieder ganz trocken sein würde.

«Morgen«, sagte sie karg.

Ich nickte, lächelte halb, ließ mich auf den Drehstuhl fallen.

«Ich habe die Briefe wieder geöffnet… War das richtig?«fragte sie.

«Vollkommen. Und beantworten Sie sie auch selbst, wenn Sie können.«

Sie sah mich überrascht an.»Mr. Griffon diktiert immer alles.«

«Alles, wonach Sie fragen müssen, fragen Sie. Alles, was ich wissen muß, sagen Sie mir. Alles andere erledigen Sie allein.«

«In Ordnung«, sagte sie und klang erfreut.

Ich setzte mich auf den Stuhl meines Vaters, starrte hinunter auf seine Stiefel, die ich usurpiert hatte, und dachte ernsthaft über das nach, was ich in seinen Rechnungsbüchern gesehen hatte. Alessandro war nicht der einzige Ärger, der dem Stall bevorstand.

Ich hörte ein plötzliches Krachen, als die Tür vom Hof ungestüm aufgerissen wurde und Etty wie ein durchgegangenes Raketengeschoß ins Büro stürmte.

«Dieser abscheuliche Junge, den Sie eingestellt haben… Er muß weg. Ich lasse mir das nicht gefallen. Nein, das tu’ ich nicht.«

Sie war außer sich vor Ärger, ihre Augen blitzten wild, ihr Mund war zu einer dünnen Linie zusammengekniffen.

«Was hat er getan?«fragte ich resigniert.

«Er ist mit diesem albernen weißen Wagen weggefahren und hat Indigo mitsamt Sattel und Zaumzeug in der Box stehenlassen. George sagt, er ist von Indigo runtergesprungen, hat ihn in die Box geführt, ist wieder rausgekommen, hat die Tür zugemacht und ist in das Auto gestiegen, und der Chauffeur ist mit ihm davongefahren. Einfach so!«Sie machte eine kurze Pause, um Atem zu schöpfen.»Und wer, glaubt er, wird den Sattel abnehmen und Indigo das Regenwasser abreiben und seine Hufe auswaschen und ihm die Decke auflegen und sein Heu holen und sein Wasser und seine Streu erneuern?«

«Ich geh’ raus und rede mit George«, sagte ich.»Und ich werde ihn bitten, das zu übernehmen.«

«Darum habe ich ihn schon gebeten«, sagte Etty wütend.»Aber darum geht es nicht. Wir werden diesen erbärmlichen kleinen Alex nicht behalten. Keinen Augenblick länger.«

Sie sah mich mit hochgerecktem Kinn an und ließ keinen Zweifel daran, daß sie es ernst meinte. Wie alle Futtermeister hatte sie ein wesentliches Mitspracherecht bei der Einstellung und Entlassung der Hilfskräfte. Ich hatte sie bezüglich der Einstellung von Alessandro nicht gefragt, und nun gab sie mir durch, so laut und deutlich wie eine Glocke, daß ich ihre Autorität anerkennen und ihn loswerden müsse.

«Ich fürchte, daß wir uns mit ihm abfinden müssen, Etty«, sagte ich bedauernd.»Und hoffe, ihm bessere Manieren beibringen zu können.«

«Er muß weg«, beharrte sie energisch.

«Alessandros Vater«, log ich feierlich,»bezahlt ein Heidengeld dafür, daß wir seinen Sohn hier in die Lehre gehen lassen. Für den Stall ist es finanziell sehr einträglich, sich mit ihm abzufinden. Ich werde mit ihm reden, wenn er zum zweiten Lot zurückkommt, und zusehen, ob ich ihn dazu bringen kann, etwas vernünftiger zu sein.«

«Ich mag es nicht, wie er mich anstarrt«, sagte Etty, keineswegs besänftigt.

«Ich werde ihn bitten, das zu lassen.«

«Bitten!«rief Etty verärgert.»Hat man schon jemals gehört, daß ein Lehrling gebeten wird, den Futtermeister mit Respekt zu behandeln!«

«Ich werd’s ihm sagen«, meinte ich.

«Und sagen Sie ihm auch, daß er aufhören soll, so hochnäsig zu den anderen Pflegern zu sein; sie beklagen sich schon. Und sagen Sie ihm, er muß sein Pferd versorgen, wenn er es geritten hat, genauso wie alle anderen.«

«Tut mir leid, Etty. Ich glaube nicht, daß er das tun wird. Wir müssen George bitten, das grundsätzlich für ihn zu übernehmen. Für einen Bonus, versteht sich.«

«Es ist nicht die Aufgabe eines gestandenen Pflegers«, sagte Etty ärgerlich,»als… als… Diener… für einen Lehrling zu fungieren. Das gehört sich einfach nicht.«

«Ich weiß, Etty«, pflichtete ich ihr bei.»Ich weiß, daß es sich nicht gehört, aber Alessandro ist kein gewöhnlicher Lehrling, und es wäre alles in allem vielleicht einfacher, wenn du die anderen Pfleger wissen ließest, daß sein Vater dafür bezahlt, daß er hier ist, und daß er ein romantisches Hirngespinst im Kopf hat und Jockey werden will, etwas, das er sich schnell genug aus dem Kopf schlagen wird, und wenn er weg ist, können wir hier alle zur Normalität zurückkehren.«

Sie sah mich unsicher an.»Es ist keine richtige Lehre, wenn er sich nicht um seine Pferde kümmert.«

«Die Einzelheiten eines Lehrvertrags sind eine von den beiden Vertragspartnern zu verhandelnde Angelegenheit«, sagte ich bedauernd.»Wenn ich damit einverstanden bin, daß er sich nicht um seine zwei Pferde kümmern muß, dann muß er nicht. Und ich bin wirklich nicht glücklich damit, daß er das nicht tut, aber so ist es eben, und der Stall wird reicher sein, wenn er hier keinen Finger rührt.«

Etty hatte sich beruhigt.»Ich finde, Sie hätten mit mir sprechen müssen, bevor Sie all dem zugestimmt haben.«

«Ja, Etty. Tut mir leid.«

«Und weiß Ihr Vater davon?«

«Natürlich«, sagte ich.

«Na ja dann. «Sie zuckte mit den Schultern.»Wenn Ihr Vater es so will, müssen wir wohl das Beste daraus machen. Aber für die Disziplin ist es ganz bestimmt nicht gut.«

«Die anderen werden sich in einer Woche an ihn gewöhnt haben.«

«Es wird ihnen nicht gefallen, wenn es so aussieht, als könne er bei Rennen mitmachen, von denen sie meinen, daß sie ihnen zustünden.«

«Es dauert noch einen ganzen Monat, bis die Saison beginnt«, sagte ich beschwichtigend.»Laß uns sehen, wie er sich macht, ja?«

Und ich verdrängte den Gedanken an den Tag, an dem er, wie schlecht er auch sein mochte, seine Chance bekam, wieviel mehr ein anderer sie auch verdient haben mochte.

Etty setzte ihn auf eine ruhige vierjährige Stute, die ihm nicht gefiel, die aber ein entscheidender Fortschritt gegenüber dem alten Indigo war. Er hatte meine Bitte, Etty nicht mehr so beunruhigend anzustarren, mit unnachgiebiger Verachtung quittiert und meinen Vorschlag, durchblicken zu lassen, daß sein Vater für sein Hiersein bezahlte, mit Hohn.

«Das entspricht nicht der Wahrheit«, sagte er hochfahrend.

«Glauben Sie mir«, erwiderte ich aus vollem Herzen,»wenn es das täte, wären Sie morgen nicht mehr hier. Nicht mal, wenn er ein Pfund die Minute bezahlte.«

«Warum nicht?«

«Weil Sie Miss Craig aufregen, und weil Sie die anderen Pfleger aufregen, und weil ein Stall, in dem es vor Ärger nur so schäumt, nicht sein Bestes für die Pferde tut. Und wo wir schon mal beim Thema sind: Wenn Sie wollen, daß die Pferde hier Rennen für Sie gewinnen, dann sollten Sie Ihr Bestes tun, um mit den anderen zurechtzukommen, ohne Mißstimmigkeiten zu verursachen.«

Er hatte mir den mittlerweile bekannten, finsteren Blick zugeworfen und nicht geantwortet, aber ich bemerkte, daß er standhaft zu Boden blickte, als Etty ihn zu der Stute abkommandierte. Er ritt sie ruhig zum Ende des Lots und brachte den ihm zugewiesenen halbschnellen AchthundertMeter-Galopp ohne Zwischenfall hinter sich. Bei unserer Rückkehr auf den Hof kam George ihm entgegen und führte die Stute in die Box, und Alessandro ging, ohne sich auch nur einmal umzudrehen, zu seinem Mercedes und wurde davonkutschiert.

Der Waffenstillstand währte noch zwei weitere Vormittage. Alessandro kam jedesmal pünktlich zur ersten Arbeit, verzog sich dann, wahrscheinlich zum Frühstück, kehrte zum zweiten Lot zurück und verschwand für den Rest des Tages endgültig. Etty gab ihm mittelschwere Pferde zu reiten, mit denen er durchweg gut genug zurechtkam, um ihr den widerwilligen Kommentar abzuringen:»Wenn er uns nicht mehr

Schwierigkeiten macht, könnte es wohl schlimmer sein.«

Aber an seinem vierten Tag, einem Samstag, war sein Trotz nicht nur wieder da, sondern schlimmer als zuvor. Wir überstanden nur deshalb beide Lots ohne einen direkten Zusammenstoß zwischen ihm und Etty, weil ich sie bewußt auseinander hielt. Beim zweiten Lot bestand ich sogar darauf, ihn mit einer Gruppe Zweijähriger zu der speziellen Trainingsbahn für Zweijährige mitzunehmen, während Etty den Großteil des Lots zum Warren Hill führte.

Wir kehrten vor Etty zurück, so daß er eigentlich schon weg gewesen wäre, als sie wiederkam, aber statt zu seinem Mercedes zu stolzieren, folgte er mir zur Bürotür.

«Griffon«, sagte er hinter mir.

Ich drehte mich um; betrachtete ihn. Arroganz stand ihm überdeutlich im Gesicht geschrieben. Seine Augen waren schwärzer als das Weltall.

«Ich habe mit meinem Vater gesprochen«, eröffnete er mir.»Er sagt, Sie sollen mich mit Respekt behandeln. Er sagt, ich soll keine Befehle von einer Frau entgegennehmen und daß Sie dafür sorgen müssen, daß ich es nicht muß. Wenn nötig, muß Miss Craig gehen. Er sagt, ich muß bessere Pferde bekommen, vor allem Archangel. Er sagt, wenn Sie nicht auf der Stelle diese Dinge in Ordnung bringen, wird er Ihnen zeigen, daß er ernst meint, was er gesagt hat. Und er hat mir gesagt, ich soll Ihnen dies hier geben. Er sagte, es sei ein Versprechen dessen, was er tun könne.«

Er zog ein flaches Blechkästchen aus einer Innentasche seines Anoraks und hielt es mir hin.

Ich nahm es an.»Wissen Sie, was es enthält?«fragte ich.

Er schüttelte den Kopf, aber ich war sicher, daß er es wußte.

«Alessandro«, sagte ich.»Was auch immer Ihr Vater mir androht oder was er auch tut, Ihre einzige Chance auf Erfolg besteht darin, den Stall unversehrt zu lassen. Wenn Ihr Vater ihn zerstört, wird es nichts mehr geben, was Sie reiten können.«

«Er wird einen anderen Trainer dazu bringen, mich zu nehmen«, versicherte er.

«Wird er nicht«, sagte ich unumwunden,»denn wenn er diesen Stall zerstört, werde ich dem Jockey Club die Fakten unterbreiten, und der wird Ihnen Ihre Lizenz wegnehmen und dafür sorgen, daß Sie niemals mehr an irgendeinem Rennen teilnehmen werden.«

«Er würde Sie töten«, sagte er sachlich. Der Gedanke schien ihn weder zu überraschen noch zu entsetzen.

«Ich habe bei meinem Rechtsanwalt bereits einen vollen Bericht über mein Gespräch mit Ihrem Vater hinterlegt. Sollte er mich töten, wird man diesen Brief öffnen. Danach dürfte er in ziemlichen Schwierigkeiten sein. Und Sie würden natürlich lebenslänglich für alle Rennen auf der Welt gesperrt werden.«

Weniger hart, dafür um so verunsicherter sagte er:»Er wird selbst mit Ihnen reden müssen. Sie benehmen sich nicht so, wie Sie es seiner Meinung nach tun müßten. Sie verwirren mich… Er muß selbst mit Ihnen reden.«

Er drehte sich auf dem Absatz um und entfernte sich steif zu dem bereitstehenden Mercedes. Er stieg in den Fond, und der geduldige Chauffeur, der grundsätzlich die ganze Zeit, während sein Passagier mit den Pferden beschäftigt war, im Wagen blieb, ließ den Motor schnurrend an und fuhr ihn mit knirschenden Reifen davon.

Ich nahm die flache Blechdose mit ins Haus, ging bis in das eichenvertäfelte Zimmer und öffnete sie auf dem Schreibtisch.

Zwischen mehreren Schichten Baumwolle enthielt sie ein kleines, geschnitztes Holzpferd. Um seinen Hals hing ein kleines Schild, und auf dem Schild stand genau ein Wort: Moonrock.

Ich hob das kleine Pferd aus der Dose. Man mußte es in zwei Teilen herausnehmen, denn das rechte Hinterbein war am Gelenk gebrochen.

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