13

Enzo zog ins Forbury Inn, und schon am nächsten Tag hatte Alessandro seine Stacheln wieder ausgefahren. Er weigerte sich, mit mir in meinem Jensen nach Epsom zu fahren; er fahre mit Carlo.

«Na gut«, sagte ich gelassen und hatte deutlich den Eindruck, daß er etwas sagen wolle, um zu erklären, zu vermitteln. irgend etwas in der Art…, aber daß die Loyalität zu seinem Vater ihn davon abhielt. Ich lächelte ihn ein wenig bedauernd an und fügte hinzu:»Aber wann immer Sie den Wunsch haben, können Sie mit mir fahren.«

Ich bemerkte ein Flackern in den schwarzen Augen, aber er wandte sich ab, ohne zu antworten, und ging zu Carlo hinüber, der auf ihn wartete, und als wir in Epsom ankamen, stellte ich fest, daß Enzo ebenfalls mitgekommen war.

Enzo fing mich vor dem Waageraum ab, eine kleine, gedrungene Gestalt, die harmlos im Aprilsonnenschein stand. Keine Pistole mit Schalldämpfer. Keine Handlanger mit Gummigesichtern. Kein Seil um meine Handgelenke, keine Nadeln in meinem Arm. Und doch zog sich mir der Magen zusammen, und die Haare auf meinen Beinen standen zu Berge.

Er hielt den Brief, den ich an ihn geschrieben hatte, in der Hand, und die Feindseligkeit in seinen geschwollenen Augen schlug alles, was Alessandro je zustande gebracht hatte, um gut zwanzig Längen.

«Sie haben sich meinen Anweisungen widersetzt«, sagte er, und der Klang seiner Stimme hätte kühnere Männer als mich dazu bewegen können, sich im nächsten Gebüsch zu verstecken.»Ich habe Ihnen gesagt, daß Alessandro an die Stelle von Hoylake treten soll. Ich muß feststellen, daß dies nicht geschehen ist. Sie haben meinem Sohn nur armselige Krümel gegeben. Das werden Sie ändern.«

«Alessandro«, sagte ich mit möglichst ungerührter Miene,»hat mehr Chancen gehabt als die meisten Lehrlinge in den ersten sechs Monaten.«

In seinen Augen blitzte ein Tausend-Kilowatt-Funke auf.»Sie werden nicht in diesem Ton mit mir sprechen. Sie werden tun, was ich sage. Haben Sie verstanden? Ich werde Ihre fortgesetzte Mißachtung meiner Anweisungen nicht mehr hinnehmen.«

Ich betrachtete ihn eingehend. War er in der Nacht meiner Entführung noch besonnen und kühl gewesen, wurde er nun von irgendeinem inneren starken Gefühl getrieben. Das machte ihn nicht weniger gefährlich. Im Gegenteil.

«Alessandro reitet heute nachmittag ein sehr gutes Pferd im Dean Swift Handicap«, sagte ich.

«Er hat mir gesagt, dieses Rennen sei nicht wichtig. Es sei das Great Metropolitan, das zählte. Er wird auch dort reiten.«

«Hat er gesagt, daß er das möchte?«erkundigte ich mich neugierig, denn unser Starter im Great Met war der Durchgänger Traffic, und nicht einmal Tommy Hoylake betrachtete diese Aussicht mit besonderer Freude.

«Natürlich«, behauptete Enzo, aber ich glaubte ihm nicht ganz. Ich hielt es für wahrscheinlich, daß er Alessandro dazu gedrängt hatte, einen solchen Wunsch auszusprechen.

«Ich fürchte«, sagte ich mit unaufrichtigem Bedauern,»daß man den Besitzer nicht dazu überreden kann. Er besteht darauf, daß Hoylake reitet. Er ist unerbittlich.«

Enzo kochte, ließ aber von der verlorenen Sache ab. Statt dessen stellte er fest:»Sie werden sich in Zukunft mehr bemühen. Über die Geschichte von heute werde ich hinwegsehen. Aber es besteht kein Zweifel, nicht der Schatten eines Zweifels, verstehen Sie, daß Alessandro jenes Pferd, von dem wir schon gesprochen haben, im Two Thousand Guineas reiten wird. Nächste Woche wird er Archangel reiten, wie er es sich gewünscht hat. Archangel.«

Ich sagte nichts. Es war nach wie vor unmöglich, daß Alessandro den Ritt auf Archangel bekommen würde, selbst wenn ich es gewollt hätte, was nicht der Fall war. Der Bankier würde niemals einverstanden sein, Tommy Hoylake durch einen Lehrling mit nur fünf Wochen Erfahrung zu ersetzen, nicht bei dem aussichtsreichsten Derby-Kandidaten, den er je besessen hatte. Und auch um meines Vaters willen mußte Archangel den besten Jockey haben, den er kriegen konnte. Enzo nahm mein Schweigen als Zustimmung, begann weniger wütend und deutlich zufriedener dreinzuschauen und wandte mir schließlich den Rücken zu, um mir zu bedeuten, daß ich entlassen war.

Alessandro ritt im Handicap ein schlechtes Rennen. Er wußte, daß das Rennen über die Derby-Distanz ging, und er wußte, daß ich ihm auf den anderthalb Meilen Erfahrung verschaffen wollte, weil ich hoffte, er würde das große Lehrlingsrennen in zwei Tagen gewinnen, das über dieselbe Distanz ging. Aber er schätzte die Dinge hoffnungslos falsch ein, ging in der Tattenham Corner viel zu weit außen durch den Bogen, schaffte es nicht, sein Pferd vor und nach den Sprüngen im Gleichgewicht zu halten, und holte zu keiner Zeit die Geschwindigkeit aus dem Tier heraus, die dieses hätte erreichen können.

Als er abstieg, wich er meinem Blick aus, und nachdem Tommy Hoylake das Great Met gewonnen hatte (zu Traffics Überraschung genausosehr wie zu meiner), war er für den Rest des Tages nicht mehr zu sehen.

Alessandro ritt in dieser Woche noch vier weitere Rennen und zeigte in keinem einzigen sein früheres Flair. Er verlor das Lehrlingsrennen in Epsom durch ein himmelschreiend schlechtes Timing, indem er das ganze Feld eine halbe Meile vorm Ziel davonziehen ließ und dann den dritten Platz um

Kopfeslänge verpaßte, obwohl er im Finish schneller geritten war als zu irgendeiner anderen Zeit des Rennens.

Die beiden Besitzer, für die er am Samstag in Sandown ritt, verkündeten, nachdem er auf ihren geliebten und teuren Dreijährigen im Mittelfeld versackt war, daß er ihrer Meinung nach nicht so gut sei, wie ich behauptet habe, daß mein Vater es besser gewußt hätte und daß sie nächstes Mal einen anderen Jockey wollten.

Ich gab diese Bemerkungen an Alessandro weiter, indem ich in der Umkleidekabine nach ihm schickte und schließlich im Waageraum mit ihm sprach. Mittlerweile bekam ich nur noch selten Gelegenheit, irgendwo anders mit ihm zu reden. Er war vormittags ausgesprochen hölzern und verschwand sofort, nachdem er abgestiegen war, und bei den Rennen wurde er pausenlos von Enzo und Carlo flankiert, die ihn wie Wachposten überallhin begleiteten.

Er hörte mir voller Verzweiflung zu. Er wußte, daß er schlecht geritten war, und unternahm keinen Versuch, sich zu rechtfertigen. Alles, was er sagte, nachdem ich mit ihm gesprochen hatte, war:»Kann ich Archangel im Guineas reiten?«

«Nein«, sagte ich.

Die schwarzen Augen in dem unglücklichen Gesicht brannten.

«Bitte«, flehte er leidenschaftlich,»bitte sagen Sie, ich kann ihn reiten. Ich bitte Sie.«

Ich schüttelte den Kopf.

«Begreifen Sie denn nicht. «Er flehte mich an; aber ich wollte und konnte ihm nicht geben, was er sich wünschte.

«Wenn Ihr Vater Ihnen alles gibt, worum Sie ihn bitten«, sagte ich langsam,»dann bitten Sie ihn, wieder in die Schweiz zu fahren und Sie allein zu lassen.«

Nun war es an ihm, den Kopf zu schütteln, aber es war Hilflosigkeit, nicht Trotz, was aus dieser Geste sprach.

«Bitte«, sagte er noch einmal, aber ohne jede Hoffnung in der Stimme.»Ich muß… Archangel reiten. Mein Vater glaubt, Sie würden es mir erlauben, obwohl ich ihm gesagt habe, daß Sie das nicht tun würden… Ich habe solche Angst, daß er, wenn Sie es nicht tun, den Stall zerstören wird… Und dann werde ich keine Rennen mehr reiten können… Und das wäre… furchtbar.«

Mit letzter Kraft brachte er seinen Satz zu Ende.

«Sagen Sie ihm«, meinte ich ohne besonderen Nachdruck,»daß Sie ihn, wenn er den Stall zerstört, für alle Zeit hassen werden.«

Er sah mich wie betäubt an.»Ich glaube, das würde ich wirklich tun«, erwiderte er.

«Dann sagen Sie es ihm, bevor er es tut.«

«Ich werde. «Er schluckte.»Ich werde es versuchen.«

Am nächsten Morgen erschien er nicht zur Arbeit; es war das erste Mal, seit er abgeworfen worden war, daß er einen Vormittag versäumte. Etty meinte, es sei langsam Zeit, daß einige der anderen Lehrlinge mehr Chancen bekämen als die wenigen, die ich ihnen gegeben hatte, und ließ durchblicken, daß ihre früheren Ressentiments gegenüber Alessandro mit aller Macht zurückgekehrt waren.

Ich stimmte ihr um des lieben Friedens willen zu und brach zu meinem sonntäglichen Besuch nach Süden auf.

Mein Vater trug die Erfolge des Stalls mit Fassung und schöpfte einen gewissen Trost aus den Niederlagen. Er schien sich jedoch aufrichtig zu wünschen, daß Archangel das Guineas gewann, und erzählte mir, er hätte lange Telefongespräche mit Tommy Hoylake geführt, um ihm Anweisungen für das Rennen zu geben.

Er sagte, sein Assistent zeige endlich schwache Anzeichen, aus dem Koma zu erwachen, doch die Ärzte befürchteten irreparable Hirnschäden. Er würde wohl einen Ersatz für ihn finden müssen.

Sein eigenes Bein wachse nun auch endlich wieder richtig zusammen, sagte er. Er hoffe, rechtzeitig zum Derby zu Hause zu sein, und danach werde er mich nicht mehr brauchen.

Die Stunden mit Gillie waren wie üblich ein erholsames und amüsantes Intermezzo, und die Zeit im Bett war noch befriedigender als gewöhnlich.

An diesem Sonntag brachten die meisten Zeitungen Bilanzen des Guineas mit verschiedenen Einschätzungen, was Archangels Chancen betraf. Alle stimmten darin überein, daß Hoylakes großes Rennformat ein beträchtliches Plus sei.

Ich fragte mich, ob Enzo englische Zeitungen las.

Ich hoffte, er tat es nicht.

Für die beiden nächsten Tage waren keine Rennveranstaltungen angesetzt, nicht vor Ascot und Catterick am Mittwoch und dem Newmarketer Guineas am Donnerstag, Freitag und Samstag.

Am Montagmorgen erschien Alessandro mit schleppendem Gang und kohlrabenschwarzen Schatten um die Augen und sagte, sein Vater koche vor Wut, weil Tommy Hoylake immer noch Archangel reiten solle.

«Ich habe ihm erklärt«, sagte er,»daß Sie mir nicht erlauben würden, ihn zu reiten. Ich habe ihm auch erklärt, daß ich verstehen könne, warum Sie das nicht tun würden. Ich habe ihm gesagt, daß ich ihm nie verzeihen würde, wenn er hier noch weiteren Schaden anrichtete. Aber er hört nicht richtig zu. Ich weiß nicht… er ist irgendwie anders. Nicht mehr so wie früher.«

Aber Enzo war, so glaubte ich, noch immer genau so, wie er früher gewesen war. Es war Alessandro selbst, der sich verändert hatte.

Also sagte ich lediglich:»Hören Sie auf, sich Sorgen zu machen, und konzentrieren Sie sich auf diejenigen Rennen, die Sie um Ihrer selbst willen besser gewinnen sollten.«

«Was?«fragte er geistesabwesend.

«Wachen Sie auf, Sie dumme Nuß. Sie verschenken sich alles, wofür Sie so hart gearbeitet haben. Es spielt bald nicht mehr die geringste Rolle, ob Sie lebenslängliches Rennbahnverbot erhalten, denn Sie reiten so grauenhaft schlecht, daß Sie ohnehin keine Ritte mehr bekommen werden.«

Er blinzelte, und der alte Zorn erlebte ein vorübergehendes Comeback.»Sprechen Sie nicht so mit mir.«

«Hab’ ich nicht recht?«

«Oh…«, sagte er wütend.»Sie und mein Vater, Sie zerreißen mich.«

«Sie müssen selbst wissen, was Sie wollen«, sagte ich sachlich.»Und wenn Sie immer noch Jockey werden möchten, sehen Sie zu, daß Sie in Catterick gewinnen. In den dortigen Lehrlingsrennen lasse ich Buckram laufen, und eigentlich sollte ich einem der anderen Jungen die Chance geben, aber ich setze Sie noch einmal ein, und wenn Sie nicht gewinnen, werden die anderen Sie wahrscheinlich lynchen.«

Die alte Überheblichkeit wollte nochmals aufflackern, doch sie schien nicht mehr von Herzen zu kommen.

«Und am Donnerstag hier in Newmarket können Sie Lancat im Heath Handicap reiten. Es ist eine gerade Meile, nur für Dreijährige, und ich meine, er sollte sie gewinnen, nach der Form, die er in Teesside an den Tag gelegt hat. Also los, studieren Sie diese Rennen, und verschaffen Sie sich einen groben Überblick über das, was die Konkurrenz vielleicht tun wird. Und Sie werden verdammt noch mal beide Rennen gewinnen. Verstanden?«

Er warf mir einen langen Blick zu, in dem die ganze alte Leidenschaftlichkeit, aber nichts mehr von der alten Feindseligkeit lag.

«Ja«, sagte er schließlich.»Ich habe verstanden. Ich soll sie verdammt noch mal beide gewinnen. «Ein schwaches Lächeln über den ersten Versuch eines Scherzes, den ich je vor ihm gehört hatte, stieg in seinem Gesicht auf und erstarb sogleich in seinen Augen.

Etty nahm meine Entscheidung bezüglich Buckram mit schmalen Lippen und wütendem Gesicht auf. Mein Vater würde das nicht gutheißen, sagte sie; eindeutig war ein neuerlicher privater Bericht unterwegs.

Ich schickte Vic Young nach Catterick rauf und ging selbst mit drei anderen Pferden nach Ascot, wobei ich mir einzureden versuchte, daß es schließlich meine Pflicht sei, die Besitzer zu der größeren Veranstaltung zu begleiten, und daß es nichts mit meinem Wunsch, Enzo aus dem Weg zu gehen, zu tun hatte.

Draußen auf der Heide, während wir am Fuß des Side Hills darauf warteten, daß zwei andere Ställe ihr Training beendeten, diskutierte ich mit Alessandro die Taktik, die er für das Rennen vorschlug. Abgesehen von den Schatten, die immer noch um seine Augen lagen, schien er einen Teil seiner früheren, eisigen Renntagsruhe wiedererlangt zu haben. Diese Ruhe mußte zwar noch eine lange Fahrt in Gesellschaft seines Vaters überleben, aber immerhin, es war ein Hoffnungsschimmer.

Buckram ging als Zweiter durchs Ziel. Ich war ausgesprochen enttäuscht, als ich seinen Namen auf der Anschlagtafel mit den» Ergebnissen anderer Rennen «in Ascot sah, aber als ich nach Rowley Lodge zurückkehrte, kam auch gerade Vic Young mit Buckram heim, und der war für seine Verhältnisse regelrecht enthusiastisch.

«Er hat ein gutes Rennen geritten«, sagte er nickend.»Intelligent, könnte man sagen. Nicht seine Schuld, daß er geschlagen wurde. Kein Vergleich mit diesen miserablen Vorstellungen, die er letzte Woche gegeben hat. Er schien nicht mehr derselbe Junge zu sein, wirklich nicht.«

Der Junge kam am folgenden Nachmittag mit all der nach innen gerichteten Selbstbeherrschung, die ich mir wünschen konnte, in den Newmarketer Führring.

«Es ist eine gerade Meile«, sagte ich.»Lassen Sie sich nicht von der optischen Täuschung in Versuchung führen, daß der Zielpfosten viel näher scheint, als er in Wirklichkeit ist. Sie können sich an den Zweihundert-Meter-Pfosten orientieren. Machen Sie nicht eher Tempo, als bis Sie den Pfosten mit der Zwei darauf passiert haben, dort drüben beim Gebüsch, selbst wenn Sie es für falsch halten.«

«Das werde ich schon nicht tun«, sagte er ernsthaft. Und er tat es auch nicht.

Er legte ein Bilderbuchrennen hin, kühl, ausgeglichen, ohne Nervosität. Nachdem es auf den ersten vierhundert Metern den Anschein hatte, er sei im Feld eingeschlossen, sprintete er plötzlich durch eine Lücke, die überhaupt nur für den Bruchteil einer Sekunde existierte, und erreichte den Zielpfosten mit einer guten Länge Vorsprung vor seinem nächsten Rivalen. Wegen seiner Zweieinviertel-Kilo-Lehrlingserlaubnis und seiner guten Form in Teesside hatten viele Leute auf ihn gesetzt, und er hatte sich seinen Applaus verdient.

Als er im Absattelring des Gewinners von Lancat herunterglitt, schenkte er mir wieder jenes seltene, warme Lächeln, und ich hatte die Hoffnung, daß er genauso, wie er das Problem von zuviel Gewicht und zuviel Arroganz gelöst hatte, auch das Problem von zuviel Vater in den Griff bekommen würde.

Aber sein Blick konzentrierte sich auf einen Punkt hinter mir, und das Lächeln verwandelte sich und verfiel, zuerst zu einem mißbilligenden Grinsen und dann zum Ausdruck schierer Angst.

Ich drehte mich um.

Enzo stand innerhalb des kleinen, weißen, vergatterten Rings.

Enzo, der mich mit der maßlosen Gehässigkeit des Entmachteten anstarrte.

Ich starrte zurück. Nichts anderes zu machen. Aber zum ersten Mal fürchtete ich, daß ich ihn nicht würde in Schach halten können.

Zum ersten Mal hatte ich Angst.

Ich wage zu sagen, daß ich geradezu das Schicksal herausforderte, indem ich mich, als ich meine Runde durch die Ställe gemacht und mir einen bescheidenen Scotch eingeschenkt hatte, im Eichenzimmer an den Schreibtisch setzte. Aber diesmal war es ein schöner heller Abend Ende April und nicht Mitternacht in einem eiskalten Februar.

Die Tür öffnete sich mit einem aggressiven Krachen, und Enzo trat ein, mit seinen beiden Männern im Schlepptau, dem altvertrauten Carlo mit dem steinernen Gesicht und einem anderen Mann mit langer Nase, schmalen Lippen und einem offenkundigen Mangel an Herzensgüte.

Enzo war in Begleitung seiner Waffe und die Waffe in Begleitung ihres Schalldämpfers.

«Stehen Sie auf«, sagte er.

Ich erhob mich langsam.

Er zeigte mit der Waffe auf die Tür.

«Kommen Sie«, sagte er.

Ich rührte mich nicht.

Die Pistole richtete sich unbeirrt auf die Mitte meiner Brust. Er handhabte das bösartig aussehende Ding genauso kühl und selbstverständlich wie eine Zahnbürste.

«Es fehlt nicht viel, und ich töte Sie«, sagte er auf eine Weise, die mich nicht daran zweifeln ließ, daß dem so war.»Wenn Sie nicht auf der Stelle mitkommen, werden Sie nirgendwo mehr hingehen.«

Diesmal gab es keine Witzchen darüber, daß er nur Leute tötete, die darauf bestanden. Aber ich erinnerte mich daran; und ich bestand nicht darauf. Ich kam hinter dem Schreibtisch hervor und ging hölzern auf die Tür zu.

Enzo trat einen Schritt zurück, um mich vorbeigehen zu lassen und um sicherzugehen, daß ich mich nicht auf ihn stürzen konnte. Aber angesichts der beiden diesmal kahlgesichtigen Helfer neben ihm hätte ich ohnehin nicht die geringste Chance gehabt.

Auf der anderen Seite der großen Eingangshalle von Rowley Lodge stand die Tür weit offen. Durch das Vestibül und die weiteren Türen gelangte man nach draußen, wo ein Mercedes stand. Nicht der von Alessandro. Dieser hier war kastanienbraun und eine Nummer größer.

Man ersuchte mich einzusteigen. Das amerikanische ExGummigesicht fuhr. Enzo saß zu meiner Rechten im Fond und Carlo zur Linken. Enzo hielt seine Waffe in der rechten Hand, balancierte den Schalldämpfer auf seinem gerundeten Knie, und seine Finger entspannten sich keinen Augenblick lang. Ich konnte die zornige Verkrampfung in all seinen Muskeln spüren, wann immer der fahrende Wagen sein Gewicht gegen mich schaukeln ließ.

Der Amerikaner steuerte den Mercedes über die Norwich-Straße nach Norden, aber nur ein kurzes Stück. Direkt hinter den Limekilns und vor der Eisenbahnbrücke schwenkte er nach links in einen kleinen Wald und hielt an, sobald der Wagen von der Straße aus nicht mehr zu sehen war.

Er war auf einer der regulären und häufig überaus bevölkerten Trainingsbahnen stehengeblieben. Der einzige Haken war, daß jeden Nachmittag um vier alle Pferde von der Heide herunter sein mußten und daß es unwahrscheinlich war, daß zu dieser Tageszeit irgend jemand sich dort aufhielt, der mir helfen konnte.

«Raus«, sagte Enzo schlicht; und ich tat, was er sagte.

Es entstand eine kurze Pause, während der Amerikaner, den seine Freunde Cal zu nennen schienen, um den Fond des Wagens herumging und den Kofferraum öffnete. Aus diesem holte er zuerst eine Reisetasche aus Segeltuch hervor, die er an Carlo weiterreichte. Als nächstes förderte er einen langen, dunkelgrauen Gabardine-Regenmantel zutage, den er sich anzog, obwohl das Wetter so gut war wie die Vorhersage. Schließlich zog er noch mit liebevoller Vorsicht eine Lee Enfield 303 heraus.

Aus ihrer Unterseite ragte ein Magazin für zehn Kugeln hervor. Mit großer Bedachtsamkeit drückte er den Schlagbolzen durch, um die erste von ihnen in die Patronenkammer zu befördern. Dann zog er den kurzen Kammerstengel zurück, der den Schußmechanismus in die Sicherheitsstellung brachte.

Ich betrachtete das gewaltige Gewehr, das er mit so großer Vorsicht, aber auch mit solch selbstverständlicher Präzision handhabte. Es war eine Waffe, die mehr der Einschüchterung als dem Töten diente, obwohl eine Kugel von ihr nach allem, was ich wußte, einen Mann aus hundert Metern Entfernung in Stücke reißen konnte, die Backsteinmauern eines Durchschnittshauses wie Butter durchdringen, sich fünfzehn Fuß tief in den Sand bohren konnte und fünf Meilen weit flog, wenn ihr kein Hindernis im Weg stand. Verglichen mit einer Schrotflinte, die schon aus einer Entfernung von mehr als dreißig Metern nicht mehr zuverlässig tödlich war, war die Lee Enfield 303 wie eine Bombe gegen ein Pusterohr. Verglichen mit der Schalldämpferpistole, die nicht einmal so weit wie eine Schrotflinte zuverlässig schoß, gab sie einem Fluchtversuch quer über die Heide genauso große Erfolgsaussichten wie einer Schildkröte bei der Olympiade.

Ich wandte meinen Blick von dem Quell dieser unerquicklichen Gedanken ab und schaute in die starren Augen ihres Besitzers. Er wirkte irgendwie belustigt und kostete offensichtlich die Wirkung aus, die sein Spielzeug auf mich hatte. Soweit ich wußte, hatte ich bisher noch nie einen Mörder kennengelernt; aber jetzt bestand kein Zweifel mehr daran, daß ich einen kannte.

«Gehen Sie dort hin«, sagte Enzo und zeigte mit seiner Pistole auf die Trainingsbahn. Also ging ich los und dachte daran, daß eine Lee Enfield eine Menge Krach machte und daß irgend jemand es hören würde, wenn sie mich damit erschossen. Das dumme war nur, daß die Kugel sich anderthalb mal so schnell bewegte wie der Schall, so daß man tot war, bevor man den Knall hörte.

Cal hatte die große Waffe gelassen unter den langen Regenmantel geschoben und trug sie nach oben gerichtet, indem er die Hand in etwas steckte, das eindeutig ein Schlitz und keine Tasche war. Selbst aus sehr kurzer Entfernung hätte niemand geahnt, daß er sie bei sich hatte.

Nicht, daß irgend jemand zu sehen gewesen wäre. Meine düstersten Vermutungen waren vollkommen zutreffend: Wir traten aus dem kleinen Wäldchen auf das schmale Gebiet der Eisenbahn, und dort war weder ein Pferd noch ein Reiter in Sicht.

Auf der anderen Seite des Feldes, entlang der Eisenbahnschienen, verlief ein Zaun, der aus Holzpfosten mit einem hölzernen Geländer und einfachen Drahtseilen darunter bestand. Hie und da gab es ein paar Büsche, die wie grüne Ausrufezeichen aus der Heide aufragten, und ein friedlicher, spätfrühlingshafter Abendsonnenschein überhauchte alles mit einem rotgoldenen Schimmer.

Als wir am Zaun ankamen, gab Enzo den Befehl stehenzubleiben.

Ich blieb stehen.

«Bindet ihn fest«, sagte er zu Carlo und Cal; und er selbst richtete weiterhin schweigend seine Pistole auf mich, während Cal seinen tödlichen Schatz flach auf den Boden legte und Carlo den Reißverschluß der Reisetasche öffnete.

Er holte nichts Bedrohlicheres daraus hervor als zwei schmale Ledergürtel mit Schnallen. Einen von ihnen reichte er Cal, und ohne mir auch nur die leiseste Hoffnung auf eine Flucht zu gestatten, drehten sie mich mit dem Rücken zum Zaun und banden jeder eins meiner Handgelenke an das hölzerne Geländer.

Es schien nicht weiter schlimm zu sein. Es war nicht einmal unbequem, da das Geländer kaum mehr als hüfthoch war. Die Art, wie sie mich fesselten, wirkte ganz einfach routiniert — ich konnte nicht mal meine Hände in den Riemen bewegen, ganz zu schweigen davon, daß ich sie hätte herausziehen können.

Sie traten zurück, hinter Enzo, und das Sonnenlicht warf meinen Schatten auf den Boden vor mir… Einfach ein Mann, der sich auf einem Abendspaziergang gegen einen Zaun lehnte.

Ein Stück weiter weg, zu meiner Linken, konnte ich die Autos sehen, die über die Eisenbahnbrücke auf die Norwich-Straße fuhren, und noch ein Stück dahinter, in Richtung Newmarket zu meiner Rechten, konnte man immer wieder etwas von dem stadteinwärts und stadtauswärts rollenden Verkehr erblicken.

In der Stadt, in der ganzen Umgebung, wimmelte es von Tausenden von Besuchern des Guineas-Rennens. Sie hätten ebensogut auf dem Südpol sein können. Dort, wo ich stand, war keine Seele in Schreiweite.

Nur Enzo und Carlo und Cal.

Ich hatte Cal bei seinen Bemühungen an meinem rechten Handgelenk beobachtet, aber als sie fertig waren, bekam ich den

Eindruck, daß es Carlo war, der mich rauher behandelt hatte.

Ich wandte den Kopf um und begriff, warum ich diesen Eindruck hatte. Er hatte meinen Arm irgendwie über die Kante des Geländers gedreht und so festgebunden, daß meine Handfläche halb nach hinten zeigte. Ich konnte die Spannung spüren, die langsam bis hinauf in meine Schulter zu spüren war, und glaubte zuerst, daß dies auf ein Versehen seinerseits zurückzuführen sei.

Dann erinnerte ich mich mit unwillkommener Klarheit an etwas, das Dainsee gesagt hatte: Die einfachste Möglichkeit, einen Knochen zu brechen, ist es, ihn zu verdrehen, ihn unter Spannung zu stellen.

O mein Gott, dachte ich — und krümmte mich innerlich.

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