14

Ich sagte:»Ich dachte, solche Dinge seien mit dem Mittelalter ausgestorben.«

Enzo war nicht in Stimmung für schnodderige Bemerkungen.

Enzo steigerte sich in einen ordentlichen Wutanfall hinein.

«Ich höre überall, daß heute auf der Rennbahn Tommy Hoylake das Two Thousand Guineas auf Archangel gewinnen werde. Überall Tommy Hoylake, Tommy Hoylake.«

Ich sagte nichts.

«Sie werden das richtigstellen. Sie werden den Zeitungen sagen, daß es Alessandro sein wird. Sie werden Alessandro am Samstag Archangel reiten lassen.«

Langsam sagte ich:»Selbst wenn ich das wollte, könnte ich Alessandro nicht auf dieses Pferd setzen. Der Besitzer wird das nicht erlauben.«

«Sie müssen eine Möglichkeit finden«, sagte Enzo.»Es muß aufhören, daß Sie mir Knüppel zwischen die Beine werfen, es muß aufhören, daß Sie dauernd unüberwindliche Hindernisse herbeizaubern, die es nicht erlauben, zu tun, was ich sage. Diesmal werden Sie es tun. Diesmal werden Sie sich überlegen, wie Sie es tun können, statt, wie Sie es nicht tun können.«

Ich schwieg.

Enzo erwärmte sich für sein Thema.

«Außerdem werden Sie mir nicht meinen Sohn wegnehmen.«

«Das tue ich nicht.«

«Lügner!«Der Haß flackerte auf wie Magnesium, und seine Stimme stieg um eine halbe Oktave.»Alessandro spricht nur noch von Neil Griffon hier und Neil Griffon dort und Neil Griffon sagt… und ich habe Ihren Namen so oft gehört, daß ich

Ihnen… die Kehle… durchschneiden könnte. «Die letzten drei Worte schrie er fast. Seine Hände zitterten, und der Pistolenlauf wackelte um sein Ziel herum. Ich konnte spüren, wie sich die Muskeln in meinem Magen unwillkürlich zusammenkrampften, und meine Handgelenke zuckten sinnlos gegen die Riemen.

Er trat einen Schritt näher, und seine Stimme war laut und schrill.

«Was mein Sohn will, werde ich ihm geben. Ich… Ich… werde es ihm geben. Ich werde ihm geben, was er will.«

«Ich verstehe«, sagte ich und überlegte, daß ich die Situation zwar verstand, daß mir dies aber nicht im geringsten dabei helfen würde, mich daraus zu befreien.

«Es gibt niemanden, der nicht tut, was ich sage«, schrie er.»Niemanden. Wenn Enzo Rivera den Leuten sagt, sie sollen etwas tun, dann tun sie es.«

Was auch immer ich dazu zu bemerken hatte, würde eher dazu beitragen, ihn zu erzürnen, als ihn zu beruhigen, also sagte ich überhaupt nichts. Er trat noch einen Schritt näher an mich heran, bis ich das Glitzern seiner goldgekrönten Backenzähne sehen und den süßen, schweren Duft seines Rasierwassers riechen konnte.

«Auch Sie«, sagte er.»Auch Sie werden tun, was ich sage. Es gibt niemanden, der sich rühmen kann, Enzo Rivera den Gehorsam verweigert zu haben. Es gibt niemanden, der Enzo Rivera den Gehorsam verweigert hat und noch am Leben ist. «Die Pistole bewegte sich in seinen Händen, und Cal griff nach seiner Lee Enfield, und es war vollkommen klar, was aus den Ungehorsamen geworden war.

«Sie wären jetzt schon tot«, sagte er.»Und ich möchte Sie töten. «Er schob seinen Kopf auf seinem kurzen Hals nach vorn, die kräftige Nase ragte aus seinem Gesicht heraus wie ein Schnabel, und die schwarzen Augen waren so gefährlich wie Napalm.»Aber mein Sohn… mein Sohn sagt, er würde mich für immer hassen, wenn ich Sie töte… Und deshalb möchte ich Sie erst recht töten, mehr als ich jemals irgend jemanden töten wollte.«

Er machte noch einen Schritt und drückte den Schalldämpfer gegen mein dünnes Wollhemd, unter dem mein Herz nur wenige Zentimeter entfernt wie verrückt hämmerte. Ich fürchtete, er würde es riskieren, fürchtete, er würde sich ausrechnen, daß Alessandro mit der Zeit über das Scheitern seiner Rennkarriere hinwegkommen würde, fürchtete, er würde glauben, daß die Dinge irgendwie wieder so werden könnten wie an jenem Tag, an dem sein Sohn beiläufig gesagt hatte:»Ich möchte Archangel im Derby reiten.«

Ich hatte Angst.

Aber Enzo drückte nicht ab. Er sagte, als folge das eine unausweichlich aus dem anderen, wie es das in gewisser Hinsicht wohl auch tat:»Also werde ich Sie nicht töten… Aber ich werde Sie dazu bringen, zu tun, was ich sage. Ich kann es mir nicht leisten, daß Sie nicht tun, was ich sage. Ich werde Sie dazu bringen.«

Ich fragte nicht, wie. Einige Fragen sind so dumm, daß man sie besser nicht stellt. Ich konnte spüren, wie mir am ganzen Körper der Schweiß ausbrach, und ich war sicher, daß er die Angst auf meinem Gesicht lesen konnte — und bisher hatte er überhaupt nichts getan, nichts, als mir zu drohen.

«Alessandro wird Archangel reiten«, sagte er.»Übermorgen. Im Two Thousand Guineas.«

Sein Gesicht war nun so nah, daß ich die Mitesser in seiner ungesunden, wächsernen Haut sehen konnte.

Ich sagte nichts. Er verlangte kein Versprechen. Er gab mir einen Befehl.

Schließlich machte er einen Schritt nach hinten und nickte Carlo zu. Carlo griff nach der Reisetasche und holte daraus einen Knüppel hervor, der dem, den ich ihm in Buckrams Box weggenommen hatte, täuschend ähnlich sah.

Zuerst etwas Promazin?

Kein Promazin.

Sie machten sich keine Umstände, mir die Dinge zu erleichtern, wie sie es für die Pferde getan hatten. Carlo ging einfach direkt auf mich zu, hob seinen rechten Arm mit dem Knüppel und ließ ihn mit der ganzen Wucht, die er aufbringen konnte, niederkrachen. Er schien stolz auf seine Arbeit zu sein. Mit großer Konzentration bemühte er sich darum, daß die Richtung genau stimmte. Und es war auch nicht, was ich am meisten fürchtete, mein verdrehter Ellbogen, auf den er schlug, sondern mein Schlüsselbein.

Gar nicht so schlimm, dachte ich verwirrt in den beiden ersten Sekunden der Betäubtheit, und außerdem brachen sich die Jockeys bei Jagdrennen andauernd das Schlüsselbein, jeden Tag, und machten auch kein Theater deswegen… Aber der Unterschied zwischen einem Rennsturz und Carlos Bemühungen lag in dem Drehmoment und der Spannung, unter der mein ganzer Arm stand. Diese beiden Dinge wirkten wie einer von Archimedes’ kostbaren Hebeln und rissen die Enden meines Schlüsselbeins auseinander. Als das Gefühl mit grausamer Vehemenz zurückkehrte, spürte ich, wie die Sehnen in meinem Hals sich zu Drähten strafften und von der Anstrengung, meinen Mund geschlossen zu halten, hervortraten.

Ich sah auf Enzos Gesicht einen grauen Blick des Leidens: schmale Augen, zusammengepreßte Lippen, kontrahierte Muskeln, ängstliche Linien auf seiner Stirn und um die Augen — und begriff mit heftigem Schrecken, daß das, was ich auf seinem Gesicht sah, ein Spiegel meines eigenen war.

Als sein Kiefer sich ein klein wenig entspannte, wußte ich, daß auch mein Kiefer sich entspannt hatte. Als seine Augen sich ein wenig öffneten und die allumfassende Spannung etwas nachließ, lag es daran, daß bei mir das Schlimmste vorüber war.

Es war jedoch kein Mitleid seinerseits. Eher Phantasie. Er versetzte sich an meine Stelle, um auszukosten, was er angerichtet hatte. Schade nur, daß er es nicht gründlicher tun konnte. Ich würde ihm jederzeit einen Knochen brechen, wenn er mich darum bat.

Er nickte mehrmals heftig, eine Bekundung von Zufriedenheit. Es lag noch immer ein gewaltiger, unverminderter Zorn in seinem Verhalten, und es gab keine Garantie, daß er mit seinem Abendwerk am Ende war. Aber er blickte bedauernd auf seine Pistole hinunter, schraubte den Schalldämpfer ab und reichte beide Teile Cal, der sie unter seinem Regenmantel verstaute.

Enzo trat ganz nah an mich heran. Sehr nah. Er ließ seinen Finger über meine Wange gleiten und rieb den Schweiß davon zwischen Daumen und Zeigefinger.

«Alessandro wird Archangel im Guineas reiten«, sagte er.»Denn wenn er es nicht tut, werde ich Ihnen auch den anderen Arm brechen. Ganz einfach.«

Ich sagte nichts. Konnte nicht, wirklich nicht.

Carlo band den Riemen von meinem rechten Handgelenk los und legte ihn zusammen mit dem Knüppel in die Reisetasche, bevor sie mir alle drei den Rücken zukehrten und quer über das Feld und zurück durch den Wald zu dem wartenden Mercedes gingen.

Es war eine lange, qualvolle Millimeterarbeit, meine rechte Hand zu meiner linken zu bringen und den anderen Riemen zu lösen. Danach setzte ich mich, gegen einen der Pfosten gelehnt, auf den Boden, um darauf zu warten, daß die Dinge besser wurden. Es hatte nicht den Anschein, als würden sie mir den Gefallen tun.

Ich sah auf meine Uhr. Acht Uhr. Zeit zum Abendessen unten im Forbury Inn. Enzo hatte wahrscheinlich seine fetten Knie unterm Tisch und stopfte sich mit bestem Appetit voll.

In der Theorie war es mir vernünftig erschienen, daß die beste

Art und Weise, ihn zu bekämpfen, darin bestand, ihm seinen Sohn zu stehlen. In der Praxis, während ich meinen ernstlich schmerzenden linken Arm behutsam an meine Brust drückte, zweifelte ich daran, daß Alessandros Seele der Mühe wert war. Arroganter, verräterischer, verwöhnter kleiner Bastard… Aber mit Schneid und Entschlossenheit und Talent. Auf einem MiniSchlachtfeld, zerrissen zwischen der Loyalität seinem Vater gegenüber und der Verlockung, aus sich heraus zum Erfolg zu kommen. Ein Bauer, der in einem Machtkampf hin und her geschoben wurde. Aber dieser Bauer war alles… und wer immer ihn eroberte, hatte das Spiel gewonnen.

Ich seufzte und erhob mich langsam und vor Schmerzen zuckend wieder auf meine Füße. Niemand außer mir würde mich nach Hause bringen und zusammenflicken.

Ich ging zu Fuß. Es war weniger als eine Meile. Aber weit genug.

Der ältliche Doktor war glücklicherweise zu Hause, als ich ihn anrief.

«Wie meinen Sie das, Sie seien vom Pferd gefallen und hätten sich das Schlüsselbein gebrochen?«wollte er wissen.»Um diese Uhrzeit? Ich dachte, alle Pferde müßten die Heide bis vier verlassen haben.«

«Sehen Sie mal«, sagte ich müde.»Ich habe mir das Schlüsselbein gebrochen. Würden Sie bitte herkommen und sich darum kümmern?«

«Hm«, brummte er.»Na schön.«

Er kam eine halbe Stunde später, ausgerüstet mit etwas, das wie zwei Gummiringe aussah. Ein Rucksackverband, sagte er, während er sich daranmachte, ihn mir über die Schultern zu streifen und dann hinter meinem Rücken zusammenzubinden.

«Verdammt unbequem«, sagte ich.

«Na ja, wenn Sie auch vom Pferd fallen müssen.«

Seine trüben Augen taxierten sein Werk mit leidenschaftsloser Routine. Das Ruhigstellen gebrochener Schlüsselbeine war in Newmarket so normal wie das Austeilen von Hustentropfen.

«Nehmen Sie etwas Codein«, sagte er.»Haben Sie welches da?«

«Ich weiß nicht.«

Er schnalzte mit der Zunge und holte ein Päckchen aus seiner Tasche.»Zwei Stück alle vier Stunden.«

«Ich danke Ihnen. Wirklich.«

«Keine Ursache«, sagte er nickend. Dann schloß er seine Tasche und ließ die Schlösser zuschnappen.

«Wollen Sie einen Drink?«fragte ich, während er mir in mein Hemd half.

«Dachte schon, Sie würden überhaupt nicht mehr fragen«, erwiderte er lächelnd und widmete sich kurz darauf einem großen Whisky mit derselben Vertrautheit wie seinen Bandagen. Ich leistete ihm Gesellschaft, und der Alkohol half dem Codein beträchtlich auf die Sprünge.

«Nur so aus Interesse«, erkundigte ich mich, als er die zweite Hälfte seines Glases erreichte.»Welche Krankheiten verursachen Sterilität?«

«Hm?«Er sah mich überrascht an, antwortete aber, ohne zu zögern.»Eigentlich nur zwei. Mumps und Geschlechtskrankheiten. Aber Mumps verursacht nur selten vollkommene Sterilität. Betrifft gewöhnlich nur einen Hoden, wenn überhaupt. Syphilis ist die einzige Krankheit, die mit Sicherheit zu Sterilität führt. Aber mit unserer modernen Behandlung kommt es erst gar nicht soweit.«

«Könnten Sie mir mehr davon erzählen?«

«Hypothetisch?«fragte er.»Ich meine, Sie glauben nicht, Sie selbst hätten sich infiziert? Denn wenn das so wäre.«

«Ganz bestimmt nicht«, unterbrach ich ihn.»Rein hypothetisch.«

«Gut…«Er nahm einen tüchtigen Schluck.»Also. Manchmal holen sich die Leute Syphilis und Tripper gleichzeitig. Sagen wir, sie werden gegen Tripper behandelt und geheilt, aber die Syphilis bleibt unentdeckt… ja? Nun, Syphilis ist eine progressive Krankheit, kann aber für Jahre ruhen, bevor sie ausbricht, und ihren Schaden mehr oder weniger ohne Wissen ihres Trägers anrichten. Die Sterilität könnte einige Jahre nach der Infektion auftreten. Man kann nicht genau sagen, wie viele Jahre; da gibt es gewaltige Unterschiede. Aber bevor die Sterilität auftritt, könnten jede Menge infizierte Kinder empfangen oder gezeugt werden. In der Regel werden sie tot geboren. Einige überleben, aber fast immer stimmt etwas nicht mit ihnen.«

Alessandro hatte gesagt, sein Vater sei nach seiner Geburt erkrankt, womit er aus dem Schneider war. Und eine Geschlechtskrankheit würde die extreme Verbitterung von Enzos Frau erklären und die von wilden Streitereien begleitete Auflösung der Ehe.

«Heinrich der Achte«, sagte der Arzt, als sei es eine natürliche Konsequenz seiner Worte.

«Was?«fragte ich.

«Heinrich der Achte«, wiederholte er geduldig.»Er hatte Syphilis; Katharina von Aragon hatte ungefähr ein Dutzend Totgeburten, und ihr einziges lebendes Kind war unfruchtbar. Sein kränklicher Sohn Edward starb schon früh. Was mit Elizabeth war, weiß man nicht; nicht genug Daten. «Er machte auch noch dem letzten Tropfen in seinem Glas den Garaus.

Ich zeigte auf die Flasche.»Macht es Ihnen was aus, sich selbst zu bedienen?«

Er stand auf und füllte auch mein Glas nach.»Er hat immer seinen armen Frauen die Schuld daran gegeben, daß sie keine Söhne hervorbrachten, obwohl es die ganze Zeit an ihm lag, und dieser extreme Fanatismus bezüglich eines Sohnes… und links und rechts Köpfe rollen zu lassen, um einen zu bekommen. Das ist das typische zwanghafte syphilitische Benehmen.«

«Wie meinen Sie das?«

«Der Pfefferkönig«, sagte er, als sei damit alles erklärt.

«Was hatte er denn um Himmels willen mit Pfeffer zu tun?«

«Doch nicht Heinrich der Achte«, sagte er ungeduldig.»Der Pfefferkönig war jemand anders… sehen Sie, in den medizinischen Lehrbüchern, im Kapitel über die Komplikationen, die sich bei einer fortgeschrittenen Syphilis ergeben können, steht dieser Artikel über den Pfefferkönig. Das war ein Bursche, der unter Größenwahn litt, in einem Zwischenstadium der progressiven Paralyse, und er hatte diese Zwangsvorstellung, was Pfeffer betraf. Er machte sich daran, den ganzen Pfeffer auf der Welt aufzukaufen, um sich zu einem Industriemagnaten zu machen, und wegen seines zwanghaften Fanatismus ist es ihm auch gelungen.«

Ich versuchte, mich durch das Labyrinth hindurchzufinden.

«Wollen Sie damit sagen, daß unser hypothetischer syphilitischer Herr sich in einem Stadium nach eingetretener Sterilität einreden kann, er könne Berge versetzen?«

«Nicht nur einreden«, pflichtete er mir nickend bei.»Sondern es auch tatsächlich tun kann. Was das Berge versetzen betrifft, gibt es buchstäblich keinen geeigneteren Kandidaten als unseren größenwahnsinnigen Syphilitiker. Nicht, daß das für immer so bleibt, natürlich. Zwanzig Jahre vielleicht, nachdem es erst einmal soweit gekommen ist.«

«Und was dann?«

«Progressive Paralyse. «Er nahm einen kräftigen Schluck.»Demenz. Mit anderen Worten: totale geistige Umnachtung. Gehirnerweichung, bis nur noch Gemüse da ist.«

«Unausweichlich?«

«Nach diesem Stadium des Größenwahnsinns ja. Aber nicht jeder, der Syphilis bekommt, bekommt auch progressive Paralyse, und nicht jeder, der progressive Paralyse kriegt, wird zuerst größenwahnsinnig. Es sind nur Seitenlinien… ziemlich seltene Komplikationen.«

«Das will ich auch hoffen«, sagte ich aus echter Überzeugung.

«Ja, wirklich. Wenn Sie einen syphilitischen Größenwahnsinnigen treffen, ducken Sie sich. Ducken Sie sich ganz schnell, denn er kann gefährlich sein. Es gibt eine Theorie, die besagt, daß Hitler einer war…«Er sah mich nachdenklich über den Rand seines Glases hinweg an, und seine alten, feuchten Augen weiteten sich plötzlich. Sein Blick konzentrierte sich auf die Schlinge, die er um meinen Arm gelegt hatte, und er sagte, als könne er nicht glauben, was er da dachte:»Sie haben sich nicht schnell genug geduckt.«

«Ein Pferd hat mich abgeworfen«, sagte ich.

Er schüttelte den Kopf.»Es war ein direkter Schlag. Das konnte ich sehen… Aber ich konnte es nicht glauben. Fand es äußerst verwirrend, um ehrlich zu sein.«

«Ein Pferd hat mich abgeworfen«, wiederholte ich.

Er sah mich mit erwachender Belustigung an.»Wenn Sie es sagen«, meinte er.»Ein Pferd hat Sie abgeworfen. Das werde ich in meine Notizen nehmen. «Er beendete seinen Drink und stand auf.»Versuchen Sie also, ihm nicht länger im Weg zu stehen. Und ich meine es ernst, junger Mann. Denken Sie nur daran, daß Heinrich der Achte eine Menge Köpfe rollen ließ.«

«Ich werde daran denken«, sagte ich.

Als hätte ich das vergessen können.

Ich überdachte meine Ein-Pferd-hat-mich-abgeworfen-Geschichte und ersetzte sie für Etty durch einen Sturz die Treppe hinunter.

«Wie furchtbar lästig«, sagte sie mit forschem Mitleid und hielt mich offensichtlich für unbeholfen.»Ich werde Sie im Landrover nach Waterhall mitnehmen, wenn wir rausgehen.«

Ich dankte ihr, und während wir darauf warteten, daß die Pfleger die Pferde zum ersten Lot aus ihren Boxen führten, gingen wir hinüber in die erste Stallgasse, um nach Archangel zu sehen. Nach Archangel zu sehen war zu meiner häufigsten Beschäftigung geworden.

Er war in der sichersten der Hochsicherheitsboxen untergebracht, und seit Enzos Rückkehr nach England hatte ich ihn Tag und Nacht bewachen lassen. Etty hielt meine Vorsicht für übertrieben, aber ich hatte darauf bestanden.

Bei Tag war Stallgasse eins keinen Augenblick lang unbewacht. Bei Nacht brachte ich das elektrische Auge in Position, um unerwünschte Besucher abzufangen. Zwei eigens zu diesem Zweck eingestellte Sicherheitsleute beobachteten den Stall schichtweise die ganze Zeit vom Besitzerraum aus, dessen Fenster direkt zu Archangels Box ging. Und ihr Schäferhund lag angekettet draußen vor der Box und knurrte jeden an, der sich ihm näherte.

Die Pfleger hatten sich über den Hund beklagt, weil sie jedesmal, wenn sie sich um ein Pferd in Stallgasse eins kümmern mußten, einen der Sicherheitsleute herbeiholen mußten, damit er ihnen half. In allen anderen Ställen, so hatten sie bemerkt, war nur nachts ein Hund im Dienst.

Etty winkte dem Wachposten am Fenster zu. Er nickte, kam auf den Hof hinaus und hielt seinen Hund an kurzer Leine, so daß wir sicher vorbeigehen konnten. Archangel kam, als ich die obere Hälfte der Tür öffnete, sofort heran und schob seine Nase hinaus in den lauen Maimorgen. Ich rieb sein Maul und klopfte ihm auf den Hals, wobei ich sein glänzendes Fell bewunderte und dachte, daß er in all den Wochen, die ich hier verbracht hatte, niemals besser ausgesehen hatte.

«Morgen«, sagte Etty mit glänzenden Augen zu ihm,»morgen werden wir sehen, was in dir steckt, mein Junge. «Sie lächelte mich verschwörerisch an, und es war offensichtlich, daß sie endlich akzeptierte, daß ich einen gewissen Anteil an seiner Vorbereitung gehabt hatte. Im vergangenen Monat, nachdem die Zahl der Sieger immer weiter gestiegen war, hatte sich die ständige Sorge auf ihrem Gesicht weitgehend aufgelöst und jener Zuversicht Platz gemacht, die sie, wie ich mich erinnerte, früher besessen hatte.»Und wir werden sehen, wieviel wir noch mit ihm arbeiten müssen, damit er das Derby gewinnt.«

«Bis dahin wird mein Vater wieder zurück sein«, sagte ich in der Absicht, sie zu beruhigen. Aber die Ungezwungenheit wich aus ihrem Lächeln, und sie sah mich ausdruckslos an.

«Das wird er«, sagte sie.»Wissen Sie… Ich hatte es ganz vergessen.«

Sie kehrte der Box den Rücken und trat hinaus auf den Haupthof. Ich dankte dem großen Expolizisten, der bei uns Wache schob, und bat ihn und seinen Kameraden, während der nächsten vierunddreißig Stunden ganz besonders aufmerksam zu sein.

«So sicher wie die Bank von England, Sir. Machen Sie sich mal keine Sorgen, Sir. «Er war sich seiner Sache vollkommen sicher, aber ich hielt ihn für einen Optimisten.

Alessandro tauchte nicht zum Training auf, weder zum ersten noch zum zweiten Lot. Aber als ich nach einer zweiten Dosis von Ettys ruckartiger Fahrweise steif aus dem Landrover kletterte, stand er am Eingang des Hofes und wartete auf mich. Als ich auf die Tür des Büros zuging, kam er mir entgegen und blieb vor mir stehen.

Ich blieb ebenfalls stehen und sah ihn an. Seine Haltung war starr und sein Gesicht dünn und weiß vor Anspannung.

«Es tut mir leid«, stieß er hervor.»Es tut mir leid. Er hat mir erzählt, was er getan hat… Ich wollte das nicht. Ich habe ihn nicht darum gebeten.«

«Gut«, sagte ich beiläufig. Mir wurde bewußt, daß ich meinen Kopf immer zur Seite neigte, weil es auf diese Weise weniger schmerzte. Ich hatte das Gefühl, es sei langsam an der Zeit, sich aufzurichten. Ich richtete mich auf.

«Er sagte, Sie wären jetzt einverstanden, mich morgen Archangel reiten zu lassen.«

«Und was glauben Sie?«fragte ich.

Er sah verzweifelt aus, antwortete aber ohne jeden Zweifel.

«Ich glaube, Sie werden es nicht tun.«

«Sie haben eine Menge dazugelernt«, sagte ich.

«Ich habe von Ihnen gelernt. «Plötzlich schloß er den Mund und schüttelte den Kopf.»Ich meine… ich bitte Sie, mich Archangel reiten zu lassen.«

Sanft sagte ich:»Nein.«

Die Worte sprudelten aus ihm heraus:»Aber er wird Ihnen den anderen Arm brechen. Er hat es gesagt, und er tut immer, was er sagt. Er wird Ihnen wieder einen Arm brechen, und ich… und ich…«Er schluckte und versuchte, seine Stimme wieder unter Kontrolle zu bekommen, bevor er mit viel mehr Selbstbeherrschung fortfuhr:»Ich habe ihm heute morgen gesagt, es sei richtig, daß ich Archangel nicht reite. Ich habe ihm gesagt, daß Sie, wenn er Ihnen noch weiteren Schaden zufüge, der Rennleitung alles erzählen würden und ich Rennbahnverbot bekäme. Ich habe ihm gesagt, daß ich nicht will, daß er noch irgend etwas hier tut. Ich will, daß er mich hier bei Ihnen läßt, damit ich auf eigenen Füßen stehen kann.«

Ich holte langsam und tief Luft.»Und was hat er darauf geantwortet?«

Er schien ebenso verwirrt wie verzweifelt.»Ich glaube, es hat ihn noch wütender gemacht.«»Es geht ihm gar nicht so sehr darum, ob Sie Archangel im Guineas reiten oder nicht«, erklärte ich ihm.»Ihm geht es nur darum, mich zu zwingen, Sie reiten zu lassen. Es geht ihm darum, Ihnen zu beweisen, daß er Ihnen alles geben kann, worum Sie ihn bitten, genau wie immer.«

«Aber ich bitte ihn doch jetzt darum, Sie in Ruhe zu lassen. Mich hierbleiben zu lassen. Und er hört einfach nicht zu.«

«Sie bitten ihn um das einzige, was er Ihnen nicht geben wird«, sagte ich.

«Und was ist das?«

«Freiheit.«

«Das verstehe ich nicht«, sagte er.

«Weil er Ihnen keine Freiheit geben wollte, hat er Ihnen alles andere gegeben. Alles… um Sie festzuhalten. Wie er es sieht, habe ich Ihnen in letzter Zeit das einzige angeboten, was er Ihnen nicht zugestehen will. Die Möglichkeit, aus eigener Kraft Erfolg in Ihrem Leben zu erzielen. Also geht es bei seinem Kampf mit mir in Wirklichkeit gar nicht darum, wer Archangel morgen reitet; es geht um Sie.«

Jetzt verstand er. Es traf ihn wie eine Offenbarung.

«Ich werde ihm sagen, daß er keine Angst zu haben braucht, mich zu verlieren«, sagte er leidenschaftlich.»Dann wird er Ihnen nichts mehr tun.«

«Tun Sie das nicht. Seine Furcht, Sie zu verlieren, ist alles, was ihn am Leben erhält.«

Sein Mund öffnete sich. Er starrte mich mit schwarzen Augen an, ein Bauer, verloren zwischen den Türmen.

«Aber was… was soll ich denn dann tun?«

«Sagen Sie ihm, daß Tommy Hoylake morgen Archangel reiten wird.«

Sein Blick wanderte von meinem Gesicht hinunter zu dem Höcker, unter dem der Rucksackverband steckte, und zu dem

Umriß meines Armes in seiner Schlinge unter meinem Pullover.

«Das kann ich nicht«, sagte er.

Ich lächelte halb.»Er wird es bald genug herausfinden.«

Alessandro schauderte leicht.»Sie verstehen nicht. Ich habe gesehen…«Seine Stimme verlor sich, und er blickte mit einer Art jähem Erwachen wieder in mein Gesicht.»Ich habe die Menschen gesehen, die er verletzt hat. Nachher habe ich sie gesehen. Es stand Furcht in ihren Gesichtern. Und auch Scham. Ich dachte nur… wie klug er war… zu wissen, wie man die Menschen dazu zwingt, zu tun, was man will. Ich habe gesehen, wie alle ihn fürchten… und ich dachte, er sei wunderbar. «Er holte zitternd Luft.»Ich möchte nicht, daß Sie so aussehen wie die anderen, wenn er mit Ihnen fertig ist.«

«Das werde ich nicht«, sagte ich mit mehr Überzeugung, als ich empfand.

«Aber er wird nicht einfach Tommy Archangel reiten lassen und nichts dagegen unternehmen. Ich kenne ihn. Ich weiß, daß er das nicht tun wird. Ich weiß, er meint, was er sagt. Sie wissen nicht, wie er sein kann… Sie müssen mir glauben. Sie müssen.«

«Ich tue mein Bestes«, sagte ich trocken, und Alessandro zitterte beinahe vor Ohnmacht.

«Neil«, sagte er, und es war das einzige Mal, daß er meinen Vornamen benutzte,»ich habe Angst um Sie.«

«Dann wären wir schon zwei«, sagte ich ohne besonderen Ernst, aber es heiterte ihn nicht im mindesten auf. Ich sah ihn mitleidig an.»Nehmen Sie’s nicht so schwer, Junge.«

«Aber Sie… Sie verstehen nicht.«

«Und ob ich verstehe«, sagte ich.

«Aber es scheint Ihnen nichts auszumachen.«

«O doch, das tut es«, sagte ich wahrheitsgemäß.»Ich bin nicht übermäßig versessen auf eine weitere Knochenbrecher-Sitzung mit Ihrem Vater. Aber noch weniger versessen bin ich darauf, am Boden zu kriechen und seine Stiefel zu küssen. Also wird Tommy Archangel reiten, und wir drücken die Daumen.«

Er schüttelte zutiefst besorgt den Kopf.»Ich kenne ihn«, sagte er.»Ich kenne ihn.«

«Nächste Woche in Bath«, sagte ich,»können Sie im Lehrlingsrennen Pullitzer reiten und Clip Clop in Chester.«

Sein Gesichtsausdruck sagte deutlich, daß er Zweifel daran hatte, daß es eine nächste Woche noch geben würde.

«Haben Sie übrigens Geschwister?«fragte ich plötzlich.

Die zusammenhanglose Frage schien ihn zu verwirren.

«Nein… Meine Mutter hatte noch zwei Kinder nach mir, aber es waren beides Totgeburten.«

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